Das Geheimnis der alten Mamsell

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Der durchdringende Schrei des Kindes war bis in die Hausflur gedrungen, Heinrich hatte ihn gehört; er sah noch, wie Nathanael hinter der Zimmerthür verschwand, und wußte sogleich, daß hier irgend eine Bosheit verübt worden war. Ohne ein Wort zu sagen, drehte er die Kleine von der Wand weg und hob das Gesichtchen empor – es war furchtbar entstellt. Bei seinem Anblicke brach das Kind abermals in ein lautes Weinen aus und stieß schluchzend die Worte hervor: »Sie haben mein armes Mütterchen totgeschossen – meine liebe, gute Mama!«

Heinrichs breites, gutmütiges Gesicht wurde ganz blaß vor innerem Grimme – er schien einen Fluch zu unterdrücken.

»Wer hat dir denn das gesagt?« fragte er und sah drohend nach Friederike hinüber.

Das Kind schwieg; aber die Köchin begann den Hergang zu erzählen, wobei sie das Feuer schürte den eben begossenen Braten noch einmal begoß und allerlei unnötige Dinge verrichtete, um nicht in Heinrichs Gesicht blicken zu müssen.

»Na, ich meine auch, Nathanael hätte es ihr just heute noch nicht zu sagen gebraucht,« schloß sie endlich, »aber morgen oder übermorgen nimmt sie die Madame doch ins Gebet, und da wird sie ganz gewiß nicht mit Handschuhen angefaßt – darauf kannst du dich verlassen!«

Heinrich führte Felicitas in die Gesindestube, setzte sich neben sie auf die Holzbank und suchte sie zu beruhigen soweit er es in seiner ungelenken Redeweise vermochte. Er erzählte ihr schonend den schrecklichen Vorfall im Rathaussaale und sagte schließlich, daß ja die Mama, von der die Leute schon damals gesagt hätten, sie sähe aus wie ein Engel, nun auch droben im Himmel sei und jeden Augenblick ihre kleine Fee sehen könne. Dann streichelte er zärtlich das Köpfchen des Kindes, das aufs neue in krampfhaftes Weinen ausbrach.

Kapitel 8

Am anderen Morgen hallte das Ausläuten der Glocken feierlich über die Stadt. Die schmale, steile Gasse hinauf strömten die Andächtigen nach der hochgelegenen Barfüßerkirche. Samt und Seide und auch minder kostbare, aber doch sonntägige Stoffe wurden in die Kirche getragen, nicht allein zur Ehre Gottes, sondern auch um der Augen des lieben Nächsten willen.

Aus dem stattlichen Eckhause am Marktplatze schlüpfte eine kleine, schwarz umhüllte Gestalt. Niemand hätte unter dem großen, plumpen Umhängetuche, das eine Nadel unter dem Kinne zusammenhielt, die feinen, graziösen Formen der kleinen Felicitas zu entdecken vermocht. Friederike hatte der Kleinen das häßliche, grobe Gewebe mit den wichtig betonten Worten umgelegt, daß die Madame ihr das schöne Tuch zur Trauer schenke; dann hatte sie die Hausthür geöffnet und dem hinauseilenden Kinde streng anbefohlen, ja nicht etwa, wie sonst, in den Familienkirchenstuhl zu gehen – es sei Platz für sie auf den Bänkchen der Schulkinder.

Felicitas drückte das Gesangbuch unter den Arm und schritt hastig um die Ecke. Es war unverkennbar, sie strebte ungeduldig vorwärts zu kommen; aber da drüben schritten feierlich gemessenen Ganges drei schwarzgekleidete Gestalten, deren Anblick sofort ihre Schritte verlangsamte ... Ja, dort ging sie, die große Frau inmitten ihrer zwei Söhne, und alle Menschen, die vorüberkamen, neigten sich tief und respektvoll. Sie hatte zwar das ganze Jahr über fast für niemand einen guten Blick, und der Mund sprach oft unbarmherzig zu denen, die Hilfe suchten; und dort der kleinere Knabe an ihrer Linken schlug die Bettelkinder, die sich ins Haus wagten, und trat mit Füßen nach ihnen. Er log auch abscheulich und schwur dann heilig und teuer, daß er nicht gelogen habe – aber das schadete alles nicht. Sie gingen jetzt in die Kirche, setzten sich in den streng abgeschlossenen Kirchenstuhl, hinter vornehme Glasscheiben, und beteten zum lieben Gott, und er hatte sie lieb, und sie kamen in seinen Himmel: denn – sie waren ja keine Spielersleute.

Die drei Gestalten verschwanden in der Kirchenthür. Das Kind folgte ihnen mit den ängstlichen Augen, dann huschte es vorüber, vorüber an all den offenen Thüren, aus denen bereits der Orgelklang scholl, und die einen Blick gewährten in das magische Düster der Kirchenhalle, über die dichtgedrängten Reihen der Andächtigen. An das trotzig empörte, heftig pochende Kinderherz aber, das da draußen vorübereilte, schlug der Orgelton vergeblich. Es konnte heute nicht zum lieben Gott beten; er wollte ja nichts wissen von dem armen, erschossenen Mütterchen, er litt es nicht in seinem großen, blauen Himmel – es lag einsam draußen auf dem Gottesacker, und da mußte das Kind hin und mußte es besuchen.

Felicitas bog ein in eine zweite Gasse, die noch steiler den Berg hinauflief, als die drunten neben dem Hause. Dann kam das häßliche Stadtthor mit dem noch viel häßlicheren Turme, der auf seinem Rücken dräute, aber durch die Thorwölbung leuchtete es grün. Da schlangen sich die prächtigen, wohlgepflegten Lindenalleen in wunderlichem Kontraste um alte, geschwärzte Stadtmauern, wie ein frischer Myrtenkranz um einen ergrauten Scheitel ... Wie war es so feierlich still hier oben! Das Kind erschrak vor seinen eigenen Schritten, unter denen der Kies knirschte – es ging ja auf verbotenem Wege. Aber es lief immer rascher und stand endlich, tief Atem schöpfend, vor dem Eingangsthore des Gottesackers.

Noch nie hatte Felicitas diesen stillen Ort betreten – sie kannte jene kleinen, gleichförmig nebeneinander liegenden Felder noch nicht, jene Schlußsteine, unter denen das vielgestaltige Leben urplötzlich verbraust und verklingt. Neben dem schwarzen Eisengitter der Thür streckten zwei große Holunderbüsche die Zweige hervor, gebeugt von der Last ihrer schwarzen, glänzenden Beerendolden, und da seitwärts erhob sich das graue Gemäuer einer alten Kirche – das sah düster aus: aber dort hinüber dehnte sich ein weiter Plan, bunt besät mit Blumen und Büschen, auf denen das Gold der milden Herbstsonne lag.

»Wenn willst du denn besuchen, Kleine?« fragte ein Mann, der in Hemdärmeln an der Thür des Leichenhauses lehnte und blaue Wolken aus seiner Tabakspfeife in die klare Luft blies.

»Meine Mama,« entgegnete Felicitas hastig und ließ ihre Augen suchend über das große Blumenfeld gleiten.

»So – ist die schon hier? – Wer war sie denn?«

»Sie war eine Spielersfrau.«

»Ah, die vor fünf Jahren auf dem Rathause umgekommen ist? ... Die liegt da drüben, gleich neben der Kirchenecke.«

Da stand nun das kleine, verlassene Wesen vor dem Fleckchen Erde, das den Gegenstand all seiner süßen, sehnsüchtigen Kindesträume deckte! ... Ringsum lagen geschmückte Gräber; die meisten waren mit buntfarbigen Astern so völlig bedeckt, als habe der liebe Gott alle seine Sterne vom Himmel schneien lassen. Nur der schmale Streifen zu des Kindes Füßen zeigte dürres, verbranntes Gras, gemischt mit üppig wuchernden Queckenranken. Unachtsame Füße hatten bereits einen Weg darüber gebahnt; die anfangs lockere, von Regengüssen durchwühlte Erde war tief eingesunken, und mit ihr der weiße, schmucklose Stein zu Füßen des vernachlässigten Grabes – »Meta d'Orlowska« stand in großen, schwarzen Lettern dicht am Erdrande ... An diesem Steine kauerte sich Felicitas nieder, und ihre kleinen Hände wühlten in eienr von Gras entblößten Stelle ... Erde, nichts als Erde! Diese schwere, fühllose Masse lag auf dem zärtlichen Gesichte, auf der lieben Gestalt im lichtglänzenden Atlasgewande, auf den Blumen in den lilienweißen, erstarrten Händen. Jetzt wußte das Kind, daß die Mutter damals nicht bloß geschlafen habe.

»Liebe Mama,« flüsterte sie, »du kannst mich nicht sehen, aber ich bin da, bei dir! Und wenn auch der liebe Gott nichts von dir wissen will – er hat dir ja nicht ein einziges Blümchen geschenkt – und kein Mensch kümmert sich um dich, ich hab' dich lieb und will immer zu dir kommen! ... Ich will auch nur dich allein lieb haben, nicht einmal den lieben Gott, denn er ist so streng und schlimm gegen dich!«

Das war das erste Gebet des Kindes am Grabe der verfemten Mutter ... Ein leichtes Lüftchen strich vorüber, weich und kühlend, wie sich die beschwichtigende Mutterhand um die klopfenden Schläfe des fieberkranken Lieblings legt. Die Astern nickten herüber zu dem tieftraurigen Kinde, und auch durch die dürren Blütenrispen der Gräser zog es leise flüsternd; und droben dehnte sich der Himmel in durchsichtiger Klarheit – der ewige, wandellose Himmel, den Menschenbegriffe zu einem Tummelplatze irdischer Leidenschaften machen.

Als Felicitas später in das düstere Haus am Marktplatze zurückkehrte – das Kind wußte nicht, wie lange es träumend da draußen auf dem weiten, stillen Totenfelde gesessen hatte – fand sie die Hausthür nur angelehnt. Sie schlüpfte hinein, blieb aber sofort erschrocken in der nächsten Ecke stehen, denn die Thür zu des Onkels Zimmer stand ziemlich weit offen, Johannes' Stimme klang heraus, und Felicitas hörte, wie er mit festen, langsamen Schritten auf und ab ging.

Ein so eigentümlich wilder Trotz auch seit gestern über die Kleine gekommen war, die Furcht vor jener unbewegten, grausam kalten Stimme und den unerbittlichen, grauen Augen war doch noch größer. Sie konnte unmöglich in das Bereich der halboffenen Thür treten – ihre kleinen Füße standen wie eingewurzelt auf den Steinplatten.

»Ich gebe dir vollkommen recht, Mama,« sagte Johannes drinnen, indem er stehen blieb; »das kleine, lästige Geschöpf wäre am besten in irgend einer braven Handwerkerfamilie aufgehoben. Aber dieser unvollendete Brief hier ist für mich so maßgebend, wie ein rechtskräftiges Testament ... Einmal sagt der Papa, daß er das Kind um keinen Preis aus dem Schutze seines Hauses entlassen werden – es sei denn, daß es der Vater selbst zurückfordere – und hier mit den Worten: ›- ich würde deshalb auch unbedingt die Sorge um das mir anvertraute Kind in deine Hände legen –‹ macht er mich unwiderleglich zum Vollstrecker seines Willens ... Es kommt mir durchaus nicht zu, an der Handlungsweise meines Vaters irgendwie zu mäkeln, aber wenn er gewußt hätte, wie unsagbar zuwider mir die Menschenklasse ist, aus der das Kind stammt – er würde mich mit dieser Vormundschaft verschont haben.«

 

»Du weißt nicht, was du von mir verlangst, Johannes!« entgegnete die Witwe im Tone tiefsten Verdrusses. »Fünf lange Jahre habe ich diesen Auswürfling, dies gottverlassene Wesen stillschweigend neben mir dulden müssen – ich kann es nicht länger!«

»Nun, dann bleibt uns kein anderer Ausweg, als ein Aufruf an den Vater des Kindes.«

»Ja, da kannst du rufen!« erwiderte Frau Hellwig mit einem kurzen, höhnischen Auflachen. »Der dankt Gott, daß er den Brotesser los ist! Doktor Böhm sagt mir, soviel er wisse, habe der Mann zu Anfang ein einziges Mal von Hamburg aus geschrieben – seit der Zeit nicht wieder.«

»Als gute Christin wirst du übrigens auch nicht zugeben, liebe Mama, daß das Kind dahin zurückkehrt, wo seine Seele verloren geht –«

»Sie ist so wie so verloren!«

»Nein, Mama! Wenn ich auch nicht leugnen will, daß der Leichtsinn in diesem Blute stecken muß, so glaube ich doch auch fest an den Segen einer guten Erziehung.«

»Du meinst also, wir bezahlen das schwere Geld noch so und so viel Jahre länger für ein Geschöpf, das uns auf der Gotteswelt nichts angeht? – Sie hat Unterricht im Französischen, im Zeichnen –«

»Ei behüte, das fällt mir nicht ein!« unterbrach Johannes die Aufzählung – zum erstenmal erhielt diese monotone Stimme eine etwas lebhaftere Klangfarbe. »Das fällt mir nicht ein,« wiederholte er. »Mir ist diese moderne weibliche Erziehung ohnehin ein Greuel ... Solche Frauen wie dich, die, echt christlichen Sinnes und in wahrhafter Weiblichkeit, nie die ihnen gesteckten Grenzen überschreiten, die wird man in kurzem suchen müssen ... Nein, das alles hat von jetzt ab ein Ende! Erziehe das Mädchen häuslich, zu dem, was einst seine Bestimmung sein wird – zur Dienstbarkeit ... Ich lege die Angelegenheit völlig und unbesorgt in deine Hände. Mit deinem starken Willen, deinem Christentum –«

Hier wurde die Thür plötzlich weiter aufgerissen, und Nathanael, der sich bei dem Zwiegespräche langweilen mochte, sprang heraus. Felicitas drückte sich gegen die Wand; aber er sah sie doch und stürzte wie ein Stoßvogel auf die Zitternde zu.

»Ja, verstecke dich nur, das hilft dir nichts!« rief er und preßte ihr zartes Handgelenk beim Weiterzerren so heftig, daß sie aufschrie. »Jetzt kommst du mit und sagst der Mama gleich den Text der Predigt! Gelt, das kannst du nicht? Du warst nicht auf den Schulbänkchen, ich hab' genau aufgepaßt ... Und wie siehst du denn aus? ... Nein, Mama, sieh dir nur einmal dies Kleid an!«

Mit diesen Worten zog er die widerstrebende Kleine an die Thür.

»Komm herein, Kind!« gebot Johannes, der mitten im Zimmer stand und den Brief seines Vaters noch in der Hand hielt.

Felicitas trat zögernd über die Schwelle. Sie sah einen Moment an der hohen, schmalen Gestalt empor, die vor ihr stand. Da lag kein Stäubchen auf dem ausgesucht feinen, schwarzen Anzuge; das Weißzeug leuchtete in blendender Frische; nicht ein Härchen auf der Stirn krümmte sich gegen die Hand, die unablässig, fast ängstlich darüber hinstrich – da war alles peinlich geordnet und sauber. Er blickte mit einer Art von Abscheu auf den Kleidersaum des Kindes.

»Wo hast du dir das geholt?« fragte er und zeigte nach der Stelle, die seinen Blick auf sich zog.

Die Kleine sah scheu hinab – das sah freilich schlimm aus. Gras und Wege draußen waren noch taunaß gewesen; sie hatte beim Niederwerfen am Grabe nicht daran gedacht, daß solche auffallende Spuren an dem schwarzen Kleide zurückbleiben könnten ... Sie stand schweigend mit gesenkten Augen da.

»Nun, keine Antwort? ... Du siehst aus wie das böse Gewissen selbst – du warst nicht in der Kirche, wie?«

»Nein,« sagte die Kleine aufrichtig.

»Und wo warst du?«

Sie schwieg. Sie hätte sich lieber totschlagen lassen, ehe der Muttername vor diesen Ohren über ihre Lippen gekommen wäre.

»Ich will dir's sagen, Johannes,« entgegnete Nathanael an ihrer Stelle; »sie war draußen in unserem Garten und hat Obst genascht – so macht sie's immer.«

Felicitas warf ihm einen funkelnden Blick zu, aber sie öffnete die Lippen nicht.

»Antworte,« gebot Johannes, »hat Nathanael recht?«

»Nein; er hat gelogen, wie er immer lügt!« entgegnete das Kind fest.

Johannes streckte in diesem Augenblicke ruhig den Arm aus, um Nathanael zurückzuhalten, der wütend auf seine Anklägerin losstürzen wollte.

»Rühr sie nicht an, Nathanael!« gebot auch Frau Hellwig dem Knaben. Sie hatte bis dahin schweigend im Lehnstuhle des Onkels am Fenster gesessen. Jetzt erhob sie sich – hu, was warf die große Frau für einen düstern Schatten in das Zimmer!

»Du wirst mir glauben, Johannes,« wendete sie sich an ihren Sohn, »wenn ich dir versichere, daß Nathanael niemals die Unwahrheit sagt. Er ist fromm und lebt in der Furcht des Herrn, wie selten ein Kind – ich habe ihn behütet und geleitet, das wird dir genügen ... Es hat noch gefehlt, daß sich dies erbärmliche Geschöpf zwischen die Geschwister stellt, wie es bereits zwischen den Eltern der Fall gewesen ist ... Ist es nicht an sich unverzeihlich, daß sie, statt in die Kirche zu gehen, sich an anderen Orten herumtreibt? – mag sie nun gewesen sein, wo sie will!«

Ihre Augen glitten mit tödlicher Kälte über die kleine Gestalt.

»Wo ist das neue Tuch, daß du heute Morgen bekommen hast?« fragte sie plötzlich.

Felicitas fuhr erschreckt mit den Händen nach den Schultern – o Himmel, es war verschwunden, es lag sicher draußen auf dem Gottesacker! Sie fühlte recht gut, daß sie sich einer großen Unachtsamkeit schuldig gemacht habe – sie war tief beschämt; ihre gesenkten Augen füllten sich mit Thränen, und die Bitte um Verzeihung drängte sich auf ihre Lippen.

»Nun, was sagst du dazu, Johannes?« fragte Frau Hellwig mit schneidender Stimme. »Ich schenke ihr das Tuch vor wenig Stunden, und an ihrem Gesicht wirst du sehen, daß es bereits verloren ist ... Ich möchte wissen, wieviel diese Garderobe deinem seligen Vater das Jahr über gekostet hat ... Gib sie auf, sag ich dir! Da ist Hopfen und Malz verloren – du wirst nie ausrotten können, was von einer leichtfertigen, liederlichen Mutter aufgeerbt ist!«

In diesem Augenblicke ging eine schreckliche Veränderung in Felicitas' Aeußerem vor. Eine tiefe Scharlachröte ergoß sich über das ganze Gesicht und den lilienweißen Hals bis unter den Ausschnitt des groben schwarzen Wollkleides. Ihre dunklen Augen, in denen noch die Thränen der Reue funkelten, blickten sprühend empor zu dem Gesichte der Frau Hellwig. Jene ängstliche Scheu vor der Frau, die fünf Jahre lang auf dem kleinen Herzen gelastet und ihr stets die Lippen verschlossen hatte, war verschwunden. Alles, was seit gestern ihre kindlichen Nerven in die furchtbarste Spannung versetzt hatte, es trat plötzlich überwältigend in den Vordergrund und nahm ihr den letzten Rest von Selbstbeherrschung – sie war außer sich.

»Sagen Sie nichts über mein armes Mütterchen, ich leide es nicht!« rief sie; ihre sonst so weiche Stimme klang fast gellend. »Es hat Ihnen nichts zuleide gethan! ... Wir sollen nie Böses von den Toten sprechen – hat der Onkel immer gesagt, denn sie können sich nicht verteidigen – Sie thun es aber doch, und das ist schlecht, ganz schlecht!«

»Siehst du die kleine Furie, Johannes?« rief Frau Hellwig höhnisch. »Das ist das Resultat der freisinnigen Erziehung deines Vaters! Das ist ›das feenhafte Geschöpfchen‹, wie er das Mädchen in dem Briefe da nennt!«

»Sie hat recht, wenn sie ihre Mutter verteidigt,« sagte Johannes halblaut mit ernstem Blicke; »aber die Art und Weise, wie sie es thut, ist eine ungebärdige, abscheuliche ... Wie kannst du dich unterstehen, in so ungebührlicher Weise zu dieser Dame zu reden?« wandte er sich zu Felicitas, und ein schwacher Schimmer von Rot flog über sein bleiches Gesicht. »Weißt du nicht, daß du verhungern mußt, wenn sie dir kein Brot gibt, und daß draußen das Straßenpflaster dein Kopfkissen sein wird, wenn sie dich aus dem Hause stößt?«

»Ich will ihr Brot nicht!« preßte das Kind hervor. »Sie ist eine böse, böse Frau – sie hat so schreckliche Augen ... Ich will nicht hier bleiben in euerem Hause, wo gelogen wird, und wo man sich den ganzen Tag fürchten muß vor der schlechten Behandlung – lieber will ich gleich unter die dunkle Erde zu meiner Mutter, lieber will ich verhungern –«

Sie konnte nicht weiter sprechen; Johannes hatte ihren Arm gefaßt, seine mageren Finger drückten sich wie eiserne Klammern in das Fleisch – er schüttelte sie einige Male heftig.

»Komm zu dir, komm zur Besinnung, abscheuliches Kind!« rief er. »Pfui, ein Mädchen und so zügellos! Bei dem unverzeihlichen Hange zu Leichtsinn und Liederlichkeit auch noch diese maßlose Heftigkeit! ... Ich sehe ein, hier ist viel versehen worden,« wandte er sich an seine Mutter, »aber unter deiner Zucht, Mama, wird das anders werden.«

Er ließ den Arm der Kleinen nicht los und führte sie unsanft aus dem Zimmer hinüber in die Gesindestube.

»Von heute an habe ich über dich zu gebieten – merke dir das!« sagte er rauh; »und wenn ich auch fern bin, ich werde dich doch exemplarisch zu strafen wissen, sobald ich erfahre, daß du meiner Mutter nicht in allen Stücken ohne Widerrede gehorchst ... Für dein heutiges Benehmen hast du auf längere Zeit Hausarrest, um so mehr, als du von der Freiheit einen so schlechten Gebrauch machst. Du betrittst den Garten ohne ganz spezielle Erlaubnis meiner Mutter nicht wieder; ebensowenig gehst du auf die Straße, die Wege nach der Bürgerschule ausgenommen, die du von nun an besuchen wirst; und hier in der Gesindestube magst du essen und dich tagüber aufhalten, bis du bessere Sitten zeigst ... Hast du mich verstanden?«

Die Kleine wandte schweigend das Gesicht ab, und er verließ die Stube.

Kapitel 9

Nachmittags trank die Familie Hellwig den Kaffee draußen im Garten. Friederike hatte ihren kattunenen, flanellgefütterten Sonntagsmantel über die Schultern geworfen, die schwarzseidene, wattierte Staatsmütze aufgesetzt und war zuerst in die Kirche und dann zu einer »Frau Muhme« auf Besuch gegangen. Heinrich und Felicitas waren allein in dem großen, kirchenstillen Hause. Ersterer war längst heimlicherweise draußen auf dem Gottesacker gewesen und hatte das verhängnisvolle Tuch heimgeholt – es lag nun gesäubert und regelrecht zusammengelegt im Kasten.

Der ehrliche Bursche hatte die vormittägige Szene von der Küche aus mit angehört und zum Teil auch gesehen; er war sehr in Versuchung gewesen, hervorzuspringen und mit seinen derben Fäusten den Sohn des Hauses ebenso zu schütteln, wie die zarte Gestalt des aufrührerischen Kindes hin und her geschüttelt wurde. Jetzt saß er da in der Gesindestube und schnitzelte an seinem defekten Ausgehstock herum, wobei er leise und zwar sehr ungeschickt und unmelodisch pfiff. Er war ja aber auch gar nicht bei der Sache; seine Blicke huschten rastlos und verstohlen hinüber nach dem schweigenden Kinde ... Das war gar nicht mehr das Gesicht der kleinen Felicitas! Sie saß dort wie ein gefangener Vogel, aber wie ein Vogel, dem die Wildheit in der Brust brennt und der voll unversöhnlichen Grolles der Hände denkt, die ihn gefesselt haben ... Auf ihren Knieen lag der Robinson, den Heinrich auf eigene Gefahr hin von Nathanaels Bücherbrett geholt hatte, aber sie warf keinen Blick hinein. Der Einsame hatte es gut auf seiner Insel, da gab es doch keine bösen Menschen, die seine Mutter leichtsinnig und liederlich schalten; da lag der funkelnde Sonnenschein auf den Palmenkronen, auf den grünen Wogen des fetten Wiesengrases – und hier brach das Gotteslicht gedämpft, als trübe Dämmerung durch die engvergitterten Fenster, und nirgends, weder draußen in der schmalen Gasse noch hier im ganzen Hause, erquickte ein grünes Blatt das Auge ... Ja, drin im Wohnzimmer, da stand freilich ein Asklepiasstock im Fenster – die einzige Blume, die Frau Hellwig pflegte, aber Felicitas konnte diese regelmäßigen, wie aus kaltem Porzellan geformten Blütenbüschel, die starren, harten Blätter nicht leiden, die stocksteif und ungerührt dahingen, mochte auch der Luftzug durchstreichen, soviel er wollte – was gab es denn Schöneres, als draußen die leichtbeweglichen, grünen Zungen an Büschen und Bäumen mit ihrem unaufhörlichen Rauschen und Flüstern?

Die Kleine sprang plötzlich auf. Droben auf dem Dachboden, da konnte man weit hinaus in die Gegend sehen, da war sonnige Luft – wie ein Schatten glitt sie die gewundene steinerne Haupttreppe hinauf.

 

Das alte Kaufmannshaus war eigentlich nach gewissen Begriffen degradiert worden. Vor langen Zeiten war es ein Edelsitz gewesen. Es hatte auch noch etwas Ehrgeiziges in seiner Physiognomie – wenn auch nicht in dem Maße, wie die Türme, die alles unter sich lassen und, wenn es ginge, am liebsten auch den Himmel als alleiniges Eigentum auf ihre Spitze spießen möchten – aber es zeigte doch hier und da dies Emporstreben in dem Turmansatze des Erkers und vor allem in den mächtigen Schornsteinen, die sich in jenen Zeiten so nötig machten, wo noch die Wildbraten in ihrer natürlichen Größe und Urwüchsigkeit auf den Bratspießen adeliger Küchen steckten ... Das blaue Blut, das die Herzen der ehemaligen ritterlichen Bewohner klopfen gemacht, war längst versiegt, ja, in den letzten Stadien war es ihm ergangen, wie dem alten Hause auch – es war degradiert worden.

Die vordere, nach dem Marktplatz gewendete Front des Hauses hatte sich allmählich in etwas modernisiert, die Hintergebäude dagegen, drei gewaltige Flügel, standen noch in keuscher Unberührtheit, wie sie aus der Hand ihres Schöpfers hervorgegangen waren. Da gab es noch jene langen, hallenden Gänge mit schiefen Wänden und tief ausgetretenem Estrich, in denen selbst bei strahlendem Mittagssonnenscheine eine traumähnliche Dämmerung webt, und die es einer sagenhaften Ahnfrau so leicht machen, in grauer Schleppe, mit verblichenem Antlitz und schattenhaft gekreuzten Händen umherzuspuken. Da waren noch jene unvorhergesehenen, unter dem leisesten Tritte kreischenden Hintertreppchen, die plötzlich am Ende eines Korridors auftauchen, um drunten vor irgend einer unheimlichen, siebenfach verriegelten Thür zu münden – jene abgelegenen, scheinbar zwecklosen Ecken mit einem einsamen Fenster, durch dessen runde, bleigefaßte Scheiben fahle Lichtsäulen auf den zerbröckelnden Backsteinfußboden fallen. Der Staub, der hier auf die Köpfe der Vorüberwandelnden herabrieselte, war historisch; er hatte als jugendliche Holzfaser irgend eines Balkens oder als neuer Mörtel die hochgehenden Wogen des blauen Blutes mit angesehen.

Wo es irgend möglich gewesen, hatte der Steinmetz das Wappen des Erbauers des Hauses, eines Ritters von Hirschsprung, angebracht. Die steinernen Thür-und Fenstereinfassungen, ja selbst einzelne Quadern des Fußbodens zeigten den majestätischen Hirsch, wie er, die Vorderläufe hochhebend, zum grausigen Sprunge über einen Abgrund ansetzte. Auf den Thürpfosten einer der großen Staatsstuben im Vorderhause befanden sich auch die Bildnisse des Erbauers und seiner Ehegesponsin, langgestreckte Gestalten in Barett und Schneppenhaube. Der ehrenfeste Ritter blickte mit unvergänglich herausforderndem Stolze in die Welt, aus der längst sein Staub und seine »für ewig« besiegelten und verbrieften Ansprüche hinweggeweht waren.

Felicitas stand droben an der Mündung der Treppe und sah mit großen, verwunderten Augen in eine halboffene Thür, die sie nicht anders als verschlossen kannte ... Wie sehr mußte die Ausführung ihres Racheaktes alles Denken der sonst so peinlich pünktlichen Hausfrau in Anspruch genommen haben, daß sie darüber Schloß und Riegel vergessen konnte! ... Hinter der Thür lag ein scheinbar endloser Korridor, der über eines der Hintergebäude hinlief, und in welchen verschiedene Thüren mündeten. Eine derselben stand offen und ließ in eine Rumpelkammer mit einem sehr hochliegenden Mansardenfenster sehen. Sie war vollgepfropft mit altem Gerümpel, und da seitwärts an einem Rokokoarmsessel lehnte auch das Bild der Frau Kommerzienrätin. Es war nicht einmal gegen eine schützende Wand gekehrt; Staub und Spinnen durften sich nun ungestört des Gesichts bemächtigen, das dem Maler in der stolzen Ueberzeugung gesessen hatte, es werde für Kind und Kindeskinder bis in die fernste Zeit ein Gegenstand hoher Verehrung sein.

Die großen, hervortretenden, etwas lüsternen Augen hatten, so nahe gesehen, etwas Furchterregendes für das Kind – es wandte sich ängstlich ab, aber in dem Momente fuhr es wie ein Stich durch das kleine Herz und das Blut brauste nach dem Kopfe – den mit Seehundsfell überzogenen Koffer dort am Boden kannte ja die kleine Felicitas ganz genau! ... Scheu, mit angehaltenem Atem – schlug sie den Deckel zurück – da lag obenauf ein hellblaues Wollkleidchen, dessen Säume und Bündchen zierliche Stickerei zeigten. Ach ja, das hatte ihr Friederike eines Abends ausgezogen, und dann war es verschwunden, und die kleine Felicitas mußte dafür ein abscheuliches, dunkles Kleid anlegen.

Immer tiefer und heftiger wühlten die kleinen Hände, – was kam da alles zum Vorschein, und wie stürmte es in der Kinderseele bei diesem Wiedersehen! ... All diese Gegenstände, so elegant, als sollten sie den vornehmen Körper einer kleinen Prinzessin umhüllen, hatte die tote Mutter in den Händen gehabt. Felicitas erinnerte sich mit peinlicher Schärfe des süßen Gefühls, wenn die Mama sie angekleidet und mit ihren samtweichen, zarten Fingern berührt hatte ... Ach, hier tauchte auch das buntscheckige Kätzchen auf, das einst der ganze Stolz des Kindes gewesen! Es war auf eine kleine Tasche gestickt. – Halt, da steckte auch etwas drin, aber es war kein Spielzeug, wie das Kind anfänglich meinte, es war ein hübsches Petschaft von Achat, auf dessen silberner Platte derselbe majestätische Hirsch sich bäumte, den das Mauerwerk des Hellwigschen Hauses bis zum Ueberdruß zeigte. Unter dem Wappen stand in feinen, flüchtigen Zügen M. v. H.... Das hatte gewiß der Mama gehört, und das Kind hatte einst die räuberische kleine Hand danach ausgestreckt. –

Höher und höher wuchs die Flut der Erinnerungen und auf manche fiel ein Strahl des gereiften Verständnisses. Jetzt begriff sie jene Momente, wo sie, aus dem ersten Schlafe aufschreckend, den Vater im goldblitzenden Wams und die Mutter mit den aufgelösten blonden Locken an ihrem Bettchen stehen sah – sie waren aus der Vorstellung heimgekommen ... und da war auch jedesmal auf die arme Mama geschossen worden, und das Kind hatte so ahnungslos in das totenbleiche Gesicht gesehen; es wußte aber noch, daß es an solchen Abenden stets stürmisch, wie in atemloser Hast, an das Mutterherz emporgerissen worden war ...

Stück um Stück der neuentdeckten Schätze wurde gestreichelt und geliebkost und dann sorgsam in den Koffer zurückgelegt, und als der Deckel alles wieder verschloß, da schlang das Kind seine Arme um den kleinen, vielgereisten Kasten und legte das Köpfchen darauf – sie waren ja alte Kameraden, zwei, die zusammengehörten in der weiten Welt, welche nicht so viel Heimatboden für das Spielerskind hatte, als auch nur sein kleiner Fuß bedeckte .. Jetzt sah das erst so wildtrotzige Gesichtchen mild und versöhnt aus, als es, die zarte Wange auf die von den Motten halbzerfressene Decke des Koffers gepreßt, mit geschlossenen Augen regungslos dalag.

Durch das Fenster zog die laue Luft aus und ein und hauchte einen Strom balsamischer Düfte in den abgelegenen, stillen Bodenwinkel ... wie konnte sich dies berauschende Aroma, das ganzen Resedabeeten entquellen mußte, so hoch in die Lüfte versteigen? Und was waren das für Töne, die jetzt von fern herüber mit ihm herein strömten? ... Felicitas öffnete die Augen und setzte sich horchend auf. Das konnte nicht die Orgel der nahen Barfüßerkirche sein – der Gottesdienst war ja längst aus. Ein gebildeteres Ohr als das des harmlosen, unwissenden Kindes würde auch eher alles andere, als diese Harmonien mit der Orgel in Verbindung gebracht haben – die Ouvertüre zum Don Juan wurde meisterhaft auf dem Klavier gespielt.