Herr Groll und die Wölfe von Salzburg

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2. Kapitel

Freundschaftsgeschenke vom Jenissei. Das Salzburg Manifesto

Nachdem ich mich von meinem Freund Toni verabschiedet hatte – nicht ohne ein Treffen in den nächsten Tagen zu vereinbaren –, fuhren der Dozent und ich in das höher gelegene Werfen hinauf. In den Nachrichten hörten wir, daß in Max Reinhardts Bibliothek im Schloß Leopoldskron zu Salzburg und im Schaubergwerk Hallein weitere Puppen aufgetaucht waren, sie stellten allesamt gutgekleidete Männer in den besten Jahren dar. Die Behörden hätten keinen Anhaltspunkt, wer die Puppen plaziert hatte und aus welchem Grund. Auffällig war, daß sie Jacketts aus feinem englischen Tuch trugen. Eine Werbemaßnahme eines neuen italienischen Nobelschneiders in der Salzburger Altstadt werde ebensowenig ausgeschlossen wie eine künstlerische Installation der Festspiele.

„Um ein Haar wäre ich der blöden Puppe wegen in der Salzach ertrunken. Wenn ich den Urheber dieses Werbegags in die Hände kriege, werfe ich ihn den Berglöwen im Tiergarten Hellbrunn zum Fraß vor“, sagte der Dozent.

„Bravo!“, sagte ich. „Sie können auf meine Hilfe bauen. Mit Berglöwen kenne ich mich aus.“

Der Dozent sah mich verblüfft an.

„Restpopulationen haben sich am Wiener Bisamberg gehalten“, erwiderte ich. „Die Biber fressen die Ratten, die Löwen die Biber. Ein perfekter ökologischer Kreislauf.“ „Ich dachte, Biber sind Pflanzenfresser?“, warf der Dozent ein.

„Die Wiener Biber sind eine städtische Abart“, entgegnete ich. „Da kommt Fleisch auf den Mittagstisch.“ Wenig später studierten wir die ausgehängte Speisekarte des Fünf-Sterne-Restaurants Obauer am Hauptplatz zu Werfen. Gamscarpaccio, 29 Euro, war da zu lesen. Und Habichtspilzsuppe, 15 Euro, sowie Perigord-Trüffel, 58 Euro.

Der Dozent wiegte den Kopf. Nach Kaviar vom sibirischen Stör, per Gramm 6 Euro, und Honigwachtel mit Brennesselfülle, 48 Euro, Paprikakutteln, 24 Euro, und Kotelett vom Salzburger Jungrind, 59 Euro, schnalzte er genießerisch mit der Zunge. „Da wär schon was für mich dabei“, sagte er. „Welche Speise hat es Ihnen angetan?“

Bescheiden antwortete ich: „Wiener Schnitzel vom Pinzgauer Kalbsrücken zu 29 Euro, dazu einmal Weinbegleitung vier Gläser 49 Euro und drei Gramm Kaviar vom sibirischen Stör. Allerdings müßte ich mich vorher erkundigen, aus welchem sibirischen Strom der Stör stammt. Zwischen Lena, Ob, Irtysch und Jenissei gibt es da beträchtliche Qualitätsunterschiede. Außerdem wäre noch wichtig zu wissen, ob der Kaviar vom Mittellauf oder vom Unterlauf des Flusses kommt, die Mittellauf-Kaviare sind manchmal etwas verschlossen im Anbiß. Ich gebe da dem Jenissei-Kaviar vom Krasnojarsker Stausee oder von der Großen Cheta, einem wichtigen Zufluß des Jenissei, den Vorzug. Zarter Schmelz, tiefgründiges Leuchten im Mondlicht und von der Textur unerreicht. Leider schwer zu bekommen; im belgischen Leuven gibt es die einzige offizielle Bezugsquelle in Westeuropa. Wenn die Obauers diese Götterspeise gegen Nachfrage führen sollten – was mich nicht überraschen würde –, könnte ich mich eventuell zu weiteren zwei Gramm überreden lassen.“ Der Dozent lächelte. „Warum gerade Leuven?“

„Eine berühmte katholische Universität, Leuven oder Löwen in Flandern. Die Herren Dogmatiker und Fundamentaltheologen verstehen sich aufs Tafeln. Und sie wissen, wie man an die Köstlichkeiten herankommt.“

„Ich weiß schon, die Wege des Herrn …“

„Ich würde eher sagen, die Wege der Ökumene.“

„Und wie, geschätzter Groll, sind Sie an den speziellen Kaviar gelangt? Haben Sie in Leuven studiert?“

„Mit meinem rostigen Weltbild? Als mechanischer Materialist wäre ich dort fehl am Platz. Oder vielleicht auch nicht. Nein, verehrter Dozent, die Erklärung ist einfacher. Sie liegt, wenn man meinen Lebensweg kennt, auf der Hand. Die verstaatlichte Werft Korneuburg, die bekanntlich einem sozialistischen Bundeskanzler zum Opfer fiel, baute durch Jahrzehnte luxuriöse Kabinenschiffe für die sibirischen Ströme, so auch für den Jenissei. Die Schiffe sind heute noch in Fahrt, sie können in jedem besseren Reisebüro gebucht werden. Zwei Schiffe wurden jährlich abgeliefert. Es war üblich, daß sibirische Schiffsbauer Wochen vor Übergabe des Schiffes die letzten Fertigungsschritte in der Schiffswerft Korneuburg begleiteten. Und es war gute Sitte, daß dabei Gastgeschenke ausgetauscht wurden.“

„So kam der Kaviar vom Jenissei an den Oberlauf der Donau. Und da sie mit der halben Belegschaft der Werft befreundet waren …“

„Sind! Die meisten leben ja noch – als Zwangsrentner. Ein mieses Leben, zumindest für einen Schiffsbauer. Aber immerhin … “

„Ein Leben“, unterbrach der Dozent. „Ich fasse zusammen: Wo es Schiffe gibt, dort gibt es Flüsse. Und wo es Flüsse gibt, ist der Kaviar nicht weit. Zumindest in nördlichen Breiten.“

„Bravo! Ihre Weltläufigkeit macht Fortschritte.“

Der Dozent schaute mich fragend an.

„Obwohl … derzeit macht die Störfischerei in den nördlichen Regionen eine schwere Zeit durch“, setzte ich fort.

„Wegen des Klimawandels, vermute ich.“

„Eher wegen der Massenzucht. Antibiotika sind in Rußland billig. Und die kasachischen Zander, die in jeder Nordsee-Filiale ausliegen, sind voll damit. Wenn Sie einen im Quartal zu sich nehmen, sind Sie und Ihre Kindeskinder für alle Zeiten vor Infektionen gefeit. Zumindest vor bakteriellen.“

„Typhus, Cholera, Pest. Schade, daß Viren auf Antibiotika nicht ansprechen.“ Der Dozent nahm eine Notiz in seinem schlauen Büchlein vor.

„Ich habe Kenntnis von ehemaligen Werftlern, daß in ehemaligen sowjetischen Labors daran gearbeitet wird, Viren zu Bakterien umzubauen“, setzte ich fort. „Schon in wenigen Monaten könnte es soweit sein.“

„Um Gottes Willen, da kommt etwas auf die Menschheit zu!“, rief der Dozent. „Ein biologisches Tschernobyl!“

„Unsinn. Die Wissenschaftler sind sich ihrer Sache sicher, daher verzichten sie auf großflächige Erprobungen durch Tests. Beim Corona-Vakzin hat diese Strategie sich ja auch bewährt. Wer die richtige Theorie hat, wie könnte der aufzuhalten sein!“

Der Dozent schüttelte unwirsch den Kopf. „Sie sprechen von der Sowjetunion. Implodiert. Vollständiger Bankrott. Ein Trauerspiel.“

„Ein historischer Irrtum. Ich sagte doch, daß an der Korrektur bereits gearbeitet wird.“

„Von wem? Von Putin? Das glauben Sie doch selbst nicht! Seine Leute gehen hier bei Obauers ein und aus. Widerliche Oligarchen, die das Volksvermögen verprassen.“

„Ich rede nicht von den Schmeißfliegen der Ökonomie, ich spreche von den vereinigten Fortschrittskräften des wiedererwachten Volkes.“

„Sie sind wahrlich ein rostiger Materialist!“, rief der Dozent erbost. „Weder gibt es in Rußland Fortschrittskräfte, auch keine vereinigten, noch gibt es ein wiedererwachtes Volk. Was ein ‚wiedererwachtes‘ Volk anzustellen in der Lage ist, können Sie gerade in Salzburg bestens studieren. Als es nach dem Krieg darum ging, die Verwaltung wieder anzukurbeln, mußte man Nazigegner mit der Lupe suchen. Einer der wenigen ist vor nicht langer Zeit gestorben, Marko Feingold, aber der war wie der Großglockner beim Genua-Tief, eine einsame Spitze in der Sonne, darunter Nebel, brauner Nebel. Jetzt, wo es opportun ist, Nazigegner zu sein, und wo man nicht mehr Leben, Karriere und Gemeindewohnung riskiert, fragt man sich ja, wo die vielen Nazis hergekommen sind. Es hat den Anschein, als seien sie einst dem Untersberg entstiegen und wären wieder in dessen Höhlen zurückgekehrt. Kommen Sie mir nicht mit einem erwachten Volk!“

Der Dozent zitterte vor Empörung. Wenn er in Rage gerät, gefällt er mir am besten. Insgeheim mußte ich aber zugeben, daß er nicht ganz falsch lag. Unter meinen Freunden, den ehemaligen Werftarbeitern, zählten beileibe nicht alle zu den Fortschrittskräften. Anders waren ihre Wahlergebnisse nicht erklärbar. Viele wünschen sich die Sowjetunion nur zurück, weil sie der Leberzirrhose entkommen und Schiffe bauen wollen.

Wir drehten eine Runde durch den Ort. Dann nahmen wir die Straße neben den Obauers auf den Berg. Vorbei am Friedhof und der einstigen Diskothek „Hochkönig“, einem Holzverschlag, in dem holländische Ferienkinder vom benachbarten Jugendheim sich vollaufen ließen, führte die viel zu steile Straße auf ein Plateau, auf dem in den siebziger Jahren ein paar Gemeindewohnhäuser errichtet worden waren. Meine Großmutter, die nach dem frühen Tod ihres Mannes in einer Textilfabrik in Bischofshofen schuftete, hatte dort eine sechsunddreißig Quadratmeter große Garçonniere bekommen, als sie vom Austragerhäuschen der Obauer-Großeltern oberhalb des Friedhofes hatte ausziehen müssen, weil die alten Herrschaften gestorben waren und die gemütliche hölzerne Bruchbude abgerissen wurde. Bei den Obauers hatte Großmutter über einen Balkon verfügt, der den Blick auf die drohende Wand des Tennengebirges freigab. In der neuen Wohnung stand ebenfalls das Gebirge vor der Küche, aber es gab nur einen französischen Balkon.

Unterhalb der Gemeindewohnungen führte eine sehr steile Straße in den „Hölle“ genannten Taleinschnitt, in dem sich ein paar verlorene Häuschen aneinanderdrückten. Madames alter Direktions-Jaguar stand vor dem größten der Häuser. Ich war beruhigt. Vorsichtig rollten wir in den Markt zurück. Wie die Großmutter die Straße im Winter bei Schnee und Eis bewältigen konnte, war mir immer ein Rätsel geblieben. Mit dem Rollstuhl konnte ich sie nie besuchen, immer brauchte ich für die paar hundert Meter vom Markt ein Auto.

Ich setzte den Dozenten beim Aufgang zur Festung ab. Während er sich bei der Burg herumtrieb, konnte ich mit Madame im Stiegen-Gasthaus unser konspiratives Treffen durchführen. Hinter dem neu errichteten Pensionistenheim gab es einen Behindertenparkplatz. Von dort kam man überdacht ins Heim und durch einen breiten Gang ins Gasthaus. So lobe ich mir die Geriatrie.

 

Ich hatte noch ausreichend Zeit, bis Madame, die auf Pünktlichkeit Wert legte, erscheinen würde. Ich holte den Zettel, den ich der Puppe entnommen hatte, aus dem Rollstuhlnetz, strich ihn glatt und begann zu lesen.

Das Salzburg Manifesto

Der Kapitalismus lebt. Die Industrie lebt. Die industrielle Landwirtschaft lebt. Die industrielle Kunst lebt. Der industrielle Sport lebt. Der Therapiemarkt lebt.

Niemand soll auf falsche Gedanken kommen. Dieses Ziel ist erreicht, wenn niemand mehr denkt. Nur wer nicht denkt, kann auf keine falschen Gedanken kommen. Gedanken über eine andere Welt. Eine andere Produktionsweise. Eine andere Herrschaft. Keine Herrschaft. Denken ist nicht erforderlich. Es reicht, wenn man Konsument ist. So lebt es sich im Industriekapitalismus. Aber nicht mehr lange.

Wir sind nicht Teil dieser Gesellschaft. Wir sind Teil der Natur. Wenn wir uns an den Zerstörern der Welt rächen, tun wir das als Teil der Natur. So wie früher einige vermögende Menschen ihre Klasse wechselten und für die Rechte der Proletarier kämpften, haben wir unsere Doppelexistenz als gesellschaftliches und als Naturwesen abgestreift wie die Schlange ihre Haut.

Wir sind nicht mehr Teil dieser Gesellschaft, wir haben mit ihrem Treiben, ihren religiösen, ideologischen, moralischen Zielen nichts mehr zu tun. Wir genügen uns nicht mehr darin, die Brosamen der Welt mit anderen Opfern der Zerstörung zu teilen. Wir lassen uns nicht mehr mit den Sprüchen der Zerstörer abspeisen. Die Opfer von Verkehr, Feinstaub, Bodenversiegelung, Massentierhaltung und Klimaverbrechen haben beschlossen, keine Opfer mehr zu sein.

Die Religionen sind tot. Die alten Aufstandsbewegungen sind tot. Der Sozialismus, der Kampf um gelindere Mittel im Beinhaus der Industrie, ist tot. Der Kommunismus, der Kampf um radikale Wege innerhalb industrieller Zwänge, ist tot. Der Kampf um Linderung der Umweltverbrechen ist Unsinn, ist Lebensverschwendung. Genau betrachtet ist dieser Kampf schädlich, weil er nicht den Feind, die große Industrie, im Visier hat, nur dessen Ausscheidungsprodukte.

Wir sind keine sozialen Wesen, wir sind Wesen des Spiritualismus. Unser Geist wird über die Erde kommen und sie vom industriellen Dreck reinigen. Die Zerstörer der Welt haben ihre Zeit gehabt. Jetzt sind sie organischer Müll, verwesende Kadaver.

Wir sind Müllmänner und -frauen. Wir kippen sie über den Tellerrand. Wir kehren sie in den Orkus. Wir schaffen das Ewiggleiche ab. In uns kommt die Natur, kommt die Welt zu sich. Alles Bisherige war Vorgeschichte. Vertane Zeit, zerstörte Welt.

Wir läuten keine neue Epoche ein. Wir verkünden das Ende aller Epochen. Das Reich der Zerstörung muß vernichtet werden. Unsere Zeitgenossen sind die Fußtruppen der Zerstörung. Folglich müssen auch sie vernichtet werden.

Wir haben unsere Lage erkannt und sind nicht aufzuhalten. Wir sind wenige. Wir brauchen keine Unterstützer. Wir kämpfen nicht um Mehrheiten. Wir brauchen keine Anerkennung.

Unsere Bestimmung ist die Liquidierung des industriellen Lebens, der industriellen Lüge, des industriellen Bewußtseins. Wir machen mit der Gattung Schluß. Ob irgendwann einmal eine Gesellschaft entstehen wird, die sich die Natur nicht zum Feind macht, ist unwichtig. Wichtig ist nur, daß das gegenwärtige System zertreten wird. Wichtig ist das Gedeihen der Insekten.

Deep Green Resistance

3. Kapitel

Madame hat eine Liaison und erteilt einen Auftrag. Wagnerianer im Blühnbachtal

„Ich bin zu früh! Ist das schlimm?“

Madame trug ein dunkelblaues, hochgeschlossenes Kostüm. Das Meisterstück eines Couturiers. Ein funkelndes Collier zierte ihren Hals. In das schwarz gefärbte Haar waren zwei Wellen eingearbeitet. Sie setzten das ovale Antlitz mit den fein geschnittenen Zügen, den nicht zu schmalen Lippen und der griechisch anmutenden Nase auf das Vorteilhafteste in Szene. Vor mir stand eine wunderschöne Frau im goldenen Alter.

Ich muß aufspringen und ihr den Stuhl zurechtrücken, zuckte es durch meinen Kopf. Da ich dazu nicht in der Lage war, machte ich mit aller Grandezza, die ich aufbringen konnte, eine einladende Geste mit der rechten Hand. Mit der linken knüllte ich das Manifest zusammen und stopfte es in Josefs Netz.

Wie aus dem Nichts tauchte Herr Kálmán auf, zog den Stuhl zurück und Madame setzte sich. Danach nahm der Chauffeur im Nebenraum Platz. Doch so, daß der Tisch, an dem Madame und ich saßen, für ihn gut einzusehen war. Seine Vergangenheit beim ungarischen Staatsschutz konnte er auch nach all den Jahren nicht leugnen.

„Daß ich die Etikette mißachte, mag Ihnen zeigen, wie besorgt ich bin“, eröffnete Madame das Gespräch. Ich neigte den Kopf.

„Es gibt für das Nicht-Erscheinen meines Bekannten zwei mögliche Erklärungen, und beide sind für mich katastrophal“, fuhr sie fort. „Welche der beiden zutrifft und ob es nicht doch eine dritte Erklärung gibt – das müssen Sie, geschätzter Groll, herausfinden.“

Sie beugte sich vor und sprach mit verminderter Lautstärke weiter. Ihrer rauchigen Stimme war anzuhören, daß diese Frau gewohnt war, einen Großbetrieb zu leiten. „Sie müssen wissen, daß mich mit diesem Gentleman, der auf dem Anwesen seiner Eltern in den Cotswolds am Fluß Avon aufwuchs und in Oxford studierte, mittlerweile aber in Küssnacht am Vierwaldstättersee lebt, eine langjährige Beziehung verbindet, für die das Wort Zuneigung eine Untertreibung wäre.“ Und nach einer Pause setzte sie hinzu: „In den Maßen des Anstands natürlich, mein Bekannter ist verheiratet. Glücklich verheiratet. Kinder soll es auch geben. Wie viele, vergesse ich immer.“

Ich konzentrierte mich auf jedes Wort. Madame duldet es nicht, wenn ich in ihrer Gegenwart Notizen mache. Sie entnahm ihrer Handtasche ein hellbraunes Lederetui, öffnete es, schrieb mit ihrer Füllfeder einen Namen auf die Rückseite eines Strafmandats und schob es mir zu. Ich prägte mir den Namen ein: Liam Ferguson. Dann nahm sie das Mandat wieder an sich und steckte es in ihre Handtasche.

Nun hatte ich den Namen. Aber bei den Festspielen finden sich nicht wenige Besucher ein, für die Karten unter falschen Namen hinterlegt sind. Im Festspielbüro sind Dutzende Leute damit beschäftigt, die Bedürfnisse der betuchten Klientel zu bearbeiten. Für Sponsoren und deren Entourage galt das in verstärktem Maß. Nicht alle führenden Herren aus Hochfinanz und Politik verbringen die Festspieltage mit den Ehegattinnen. Sollten diese aber doch bei den Galavorführungen dabei sein, sehen die Geliebten die Vorstellungen eben bei der zweiten oder dritten Aufführung. Und irgendwann findet auch der gefragteste Vorstandsvorsitzende Zeit, sich mit seiner Favoritin in diskrete Innenstadthotels zurückzuziehen. Das Hotelpersonal verfügt über eine große Expertise im Organisieren von verschwiegenen Etablissements. Die Schwester meines Freundes Poschacher Toni arbeitet seit drei Jahrzehnten im Festspielbüro, ihr ist nichts Menschliches fremd. Ich würde mich also an sie wenden. Der von Madame so schmerzlich vermisste Herr wird wohl einen anderen Termin der Verabredung mit Madame vorgezogen haben, dachte ich. Ob geschäftlich oder privat, war offen. Andererseits beschlichen mich angesichts dieser ersten Arbeitshypothese sehr bald Zweifel.

„Ich lege für ihn die Hand ins Feuer, was Umgangsformen und Höflichkeit anlangt“, sprach Madame. „Selbst wenn etwas Unvorhersehbares dazwischengekommen wäre – er hätte sich gemeldet und sei es nur durch eine Kurznachricht“, nahm Madame meinen Einwand vorweg. „Ich befürchte das Schlimmste. Ach ja, ich vergaß hinzuzufügen, wo er logiert: Im Goldenen Hirsch, von der Blauen Gans, in der ich immer abzusteigen pflege, ist das nur einen Katzensprung entfernt.“ „Warum schicken Sie Ihren Herrn Kálmán nicht in den Hirschen? Er kann sich genauso gut wie ich nach Ihrem Bekannten erkundigen.“

„Kann er nicht“, wehrte Madame ab. „Die beiden kennen sich. Es wäre nicht gut, wenn er ihn sieht. Ich will nicht, daß mein Freund glaubt, ich spioniere ihm nach. Das haben wir in drei Jahrzehnten nicht gemacht, und ich habe keine Lust, am Rande des Alters damit zu beginnen.“

Ihre Selbsteinschätzung war originell. Ich weiß nicht, wie oft sie ihren 75. Geburtstag gefeiert hat. Sie sah mich eindringlich an. Und dann sagte sie in einer Mischung aus Befehl und Bitte: „Sie werden herausfinden, wo mein Freund sich aufhält.“ Mit einer Handbewegung schnitt sie meine Antwort ab. „Sparen Sie sich Ihre Einwände, sie werden nicht akzeptiert. Danke für das Gespräch. Wir treffen uns morgen im Mirabellgarten, beim Durchgang zum Mozarteum. 11 Uhr. Vormittag! Dann bekommen Sie einen Vorschuß. Vielleicht haben Sie ja schon erste Erkenntnisse vorzuweisen.“

Ich kannte den bei Elevinnen und Eleven des Mozarteums beliebten Rendezvous-Platz. Er war regensicher und schwer einzusehen, da nimmt man den Luftzug in Kauf.

Als der Dozent und ich den Weg nach Salzburg antraten, dämmerte es bereits. Zumindest den Eingang ins Blühnbachtal wollte ich meinem Begleiter aber doch zeigen. Auf mich übte dieses schroffe und düstere Tal seit meiner Kindheit eine unerklärliche Anziehung aus, es war aber nicht jene Art von Anziehung, wie sie pittoreske Sehnsuchtsorte ausüben, sondern es war eine seltsam angstbesetzte und verunsichernde Anziehung. Als wäre ich in einem früheren Leben vor dem zerklüfteten Taleinschnitt geflüchtet und hätte eine Aufgabe von existentiellem Gewicht zurückgelassen, eine Aufgabe, deren endgültige Erledigung noch ausstand.

Schräg gegenüber vom Haupteingang des Eisenwerks Weinberger zweigte in der Arbeitersiedlung Tenneck die Straße ins Blühnbachtal ab. Ich wollte schon abbiegen, da sah ich vor einer Tankstelle drei schwarze Mercedes-Geländewagen mit verdunkelten Fenstern. Großgewachsene Männer in schwarzen Uniformen drängten sich um das vordere Schlachtschiff; sie versuchten fieberhaft, dessen Scheiben und einen Kotflügel mit Spray und Tüchern zu reinigen. Ich bat den Dozenten, im Shop eine Notration für ein Abendessen zu holen. In großen Schritten eilte er zum Eingang, er wurde ihm von zwei Hünen verwehrt. Die beiden trugen Maschinenpistolen und machten sich gar nicht erst die Mühe, die Waffen zu verbergen. Der Dozent lief zum Wagen zurück und schwang sich auf den Beifahrersitz. Jetzt erst sah ich, daß vom vorderen Auto eine dunkle Flüssigkeit tropfte. Die zwei Uniformierten kamen auf uns zu, sie hatten ihre Maschinenpistolen im Anschlag. Den Motor starten, den Gang einlegen und den Renault auf der Bundesstraße beschleunigen war eins. Wir fuhren in Richtung Pass Lueg. Nach wenigen Kurven und einer Querung der gischtgrünen Salzach erreichten wir die Autobahnauffahrt. Erst als wir mehrere Tunnel passiert und bei Golling freies Land gewonnen hatten, verringerte ich die Geschwindigkeit und reihte mich in eine LKW-Schlange ein.

„Das waren russische Autokennzeichen!“, stieß der Dozent hervor.

„Wagnerianer“, erwiderte ich.

Der Dozent sah mich verdutzt an. „Aus Bayreuth?“

„Mitglieder der russischen Söldnertruppe Wagner, sie waren bei der Heimholung der Krim, im Donbass, in Syrien und Libyen im Einsatz. Daß die auch bei uns tätig werden, ist mir neu. Und das noch dazu im Blühnbachtal, dessen illustre Besitzer von den Salzburger Erzbischöfen über den Thronfolger Franz Ferdinand, den Hauptkriegsverbrecher Krupp und dessen Enkel bis zu einem kanadischen Milliardär aus einer Dynastie, die die extreme Rechte in den USA finanziert, reichen.“ „Der schwarze Panzer muß mit einem Rotwild kollidiert sein“, sagte der Dozent, als wir die Salzburger Alpenstraße stadteinwärts fuhren. Ich widersprach nicht. Wenn der Dozent einmal eine Erklärung für bestimmte Entwicklungen hatte, beruhigte sich sein Gemüt und es tat dabei wenig zur Sache, ob die Erklärung stimmte oder nicht.

Spätabends kamen wir in Salzburg an. Der Dozent wollte nicht im Mohren absteigen, weil seine Mutter dort gern ihren Freund in einem Extrazimmer traf. Woher er das wußte, fragte ich. Vom Chauffeur, sagte der Dozent. Daß Kálmán Madame auch als Sicherheitsmann diente, war mir schon seit langem klar. Ob die beiden mehr als das Arbeitsverhältnis verbinde, wisse er nicht zu sagen, so der Dozent. Als Mann müsse der stolze Ungar seine Meriten haben, für verständnisvolle Hobbyköche habe seine Mutter nur Verachtung empfunden. Er kenne sie als selbstbewußte Frau, die Mangel welcher Art auch immer verabscheue.

 

„‚Ich bin ja keine Sozialistin‘, pflegt sie zu sagen, ‚mit der Aussicht auf eine Mangelwirtschaft kann man mich nicht locken, ich lebe gern im Überfluß, noch dazu wo ich ihn mir redlich erarbeitet habe.‘ Die Ehe ist für sie eine Zweckgemeinschaft zur Vermögensverwaltung und zur Pflege gesellschaftlicher Netzwerke. Meine Schwester und ich sind Produkte der schwarzen Pädagogik unserer diversen Kinderfrauen, meine Mutter hat nie gewußt, ob ich die Unter- oder die Oberstufe besuche. Hauptsache, ich ging ins Theresianum. Und sie war klug genug, sich nur mit vermögenden und gebildeten Liebhabern einzulassen. Ihre Maxime lautet: ‚Sexualität ist zu wichtig, um sie von den Launen der Natur, sprich alternden Ehemännern mit Potenzproblemen, abhängig zu machen.‘“

„Ihre Mamà ist eine bemerkenswerte Frau“, sagte ich.

„Leider“, erwiderte der Dozent.

Der Dozent ließ sich in einem modernen Hotel auf der anderen Seite des Flusses nieder. Ich hingegen blieb in der Altstadt, in einer Dependance des Mohren. Vom vierten Stock aus ist der Blick auf die Salzach berauschend, einen reißenden Gebirgsfluß inmitten einer Renaissancestadt findet man nicht so bald. Auch hatte ich keinen Grund, Madame, die hundert Meter weiter in der Getreidegasse in der Blauen Gans wohnte, zu meiden. Wenn sie doch auf einen späten Drink mit ihrem wiedergefundenen Liam im Mohren auftauchen sollte, hätte mein Job sich erledigt. Ich rechnete aber nicht damit. Irgendetwas sagte mir, daß hinter der Puppengeschichte mehr steckte als ein Werbegag der Festspiele. Das Manifest sprach für einen seltsamen Verfasser, es war aber nicht so verrückt, daß man es als Studentenscherz abtun konnte.

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