Mein Leben für Amazonien

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Die Zuwanderung verschärfte
den seelsorglichen Notstand

Der seelsorgliche Notstand wurde durch den Bau der Transamazônica verschärft. Denn diese Straße quer durch Amazonien löste eine große Zuwanderungswelle in den nördlichen Teil von Brasilien aus. Wir waren in Altamira damals nur zwei junge Priester und wussten erst gar nicht recht, was wir tun sollten. Eines aber war uns klar, es ging zunächst schlicht darum, für diese Migranten, die irgendwie entwurzelt waren, da zu sein. Sie sollten spüren, dass es auch hier „Kirche“ gab, zu der sie dazugehörten und die gerade für sie in ihrer vermeintlichen Heimatlosigkeit nicht aufgehört hat, Heimat zu sein. Wir besuchten und begleiteten die angekommenen Familien. Wir feierten Eucharistie und spendeten die Sakramente.

Und doch: Wie sollten wir tausende Menschen aus den verschiedensten Bundesstaaten nun seelsorglich begleiten? Immer mehr Gemeinden schossen wie Pilze aus dem Boden, an der Hauptstraße und an den Nebenstraßen, die alle fünf Kilometer nach Norden und Süden bis weit in den damals noch üppig wuchernden Busch vordrangen. Wie sollten wir angesichts dieser enormen Binnenmigration aus dem Nordosten, aus dem Süden und aus Zentralbrasilien nach Amazonien wirklich dem Auftrag Jesu nachkommen, mit den Menschen an der Transamazônica Eucharistie zu feiern? Wie sollten wir das feiern, was das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Dogmatischen Konstitution Lumen Gentium als „Quelle“ und „Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ (LG 11) bezeichnet hatte? Diese Aussagen des Konzils klangen für uns junge Priester alle so wunderbar, aber sie gingen – und gehen bis heute – mitleidslos an unserer Realität vorbei. Der größte Teil unserer Gemeinden und damit tausende Christinnen und Christen sind monatelang von dieser Quelle und dem Höhepunkt des christlichen Lebens ausgeschlossen.

In den Nachbardiözesen war die Situation nicht anders. Daher mussten die Bischöfe Amazoniens 1972 bei ihrer historischen Versammlung in Santarém im Kielwasser des Konzils und der lateinamerikanischen Bischofsversammlung von Medellín für Amazonien ein neues seelsorgliches Konzept entwickeln. Die „desobriga“, die ausschließlich sakramentale Betreuung der Menschen entlang der Flüsse und Nebenflüsse, der Straßen und Nebenstraßen, griff pastoral entschieden zu kurz und war mit der im Konzil grundgelegten Kirche nicht mehr in Einklang zu bringen. Es ging jetzt um eine Kirche, die sich als das pilgernde Volk Gottes verstand, das miteinander unterwegs ist und in den Gemeinden lebt, wie Lumen Gentium gesagt hat: „In diesen Gemeinden, auch wenn sie oft klein und arm sind oder in der Diaspora leben, ist Christus gegenwärtig, durch dessen Kraft die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche geeint wird“ (LG 26).

Ohne Gemeindeleben werden Sakramente zu fast magischen Ritualen. Das Schlussdokument von Santarém spricht deshalb im Sinne des Konzils und der Bischofskonferenz von Medellín von der Notwendigkeit einer Inkarnation der Kirche in die Realität Amazoniens. Zwei Eckpfeiler wurden festgehalten: die Inkarnation, das heißt, die Kirche hat in Amazonien „das Fleisch“, die Gestalt Amazoniens anzunehmen, und die „simplicidade“, die Einfachheit. Der Klerus sollte einfach sein wie das Volk, nicht erhaben. Der Zugang zum Volk solle so sein, dass wir nicht von oben herab missionieren, sondern dass wir mit dem Volk zusammenleben.

Das erste Mal ist dabei in Amazonien das Wort Befreiung gefallen, der Gedanke, dass es um eine befreiende Evangelisierung gehe. Es sollte nicht um eine versorgende, sondern um eine befreiende Evangelisierung gehen. Die Erfahrungen und Anliegen der Leute an der Basis müssen berücksichtigt werden. Als Prioritäten des pastoralen Einsatzes wurden die Stärkung der kleinen kirchlichen Gemeinden – die später als Basisgemeinden bezeichnet wurden – und die damit verbundene Ausbildung der Laien gesehen. Frauen und Männer sollten befähigt werden, ihren Gemeinden vorzustehen, die Wortgottesdienste zu leiten, als Katechetinnen und Katecheten tätig zu sein und andere Dienste zum Wohl der Gemeinde zu übernehmen. Die Bibel, das Wort Gottes ist von zentraler Bedeutung in dieser Ausbildung. Dabei geht es darum, auf den Erfahrungen der Leute in den kleinen Gemeinden aufzubauen und diese durch das Wort Gottes immer mehr zu vertiefen. Die dritte Priorität waren die indigenen Völker, die vierte deren Bedrohung durch die Großprojekte der Regierung.

In unserer Prälatur war dieser Ansatz der Gemeindebildung ab 1972 mehr oder weniger beschlossene Sache. Wir waren sofort handelseins, denn so viele Priester sind wir ja nicht gewesen. Wir haben von den Leuten verlangt, dass sie sich als Gemeinde etablieren. Viele blühende Gemeinden sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. Es war immer eine Freude, zu diesen Gemeinden zu kommen. Frauen und Männer haben die Leitung übernommen, haben Taufe und Hochzeiten und Kinder auf die Erstkommunion vorbereitet, und später, als ich schon Bischof war, die jungen Leute auf die Firmung.

Es war eine neue Art und Weise, Kirche zu sein. Manches davon ist zeitweise ein wenig abgeebbt, sobald es nicht mehr ganz neu war, aber im Grunde existieren die kleinen Gemeinden bis heute. In jüngerer Zeit sind daneben die charismatischen Bewegungen entstanden. Vor allem in der Stadt machen sich diese bemerkbar. Dort funktioniert die kleine Basisgemeinde nicht ganz so wie in den ländlichen Gebieten. Auf dem Land ist die Basisgemeinde eine soziale Größe. Da gehört man dazu, auch die jungen Leute treffen sich dort. Dort wird alles besprochen, bis hinein in die Politik.

Selbstverständlich läuft nicht alles friktionsfrei. Es hat zeitweise Polarisierungen gegeben. Vor allem vor Wahlen spielt in Brasilien die Parteipolitik eine große Rolle. Da bleibt kein Lebensbereich davon verschont. Es wird heftig diskutiert und gestritten. Man hat sogar gesagt, immer wenn Wahlen anstehen, zerschlägt der Wahlkampf die Gemeinden. Und der Priester muss den Scherbenhaufen nach der Wahl wieder kitten. Das ist auch tatsächlich oft und oft der Fall. Die Leute sagen, o. k., das war der Wahlkampf, das gehört dazu, aber jetzt möchten wir wieder gut zueinander sein.

Die größte Prozession in der katholischen Welt

Zu den erfreulichen Erfahrungen gehört eine jahrhundertelange Tradition der Volksfrömmigkeit, die unsere kirchliche Situation in Amazonien auch vom Süden Brasiliens unterscheidet. Im Süden kamen im 19. Jahrhundert europäische Einwanderer aus Polen, Deutschland, Italien und haben ihre Priester, die deutschen Lutheraner ihre Pastoren mitgebracht. Dort ist heute die kirchliche Situation ähnlich wie in Europa. Bei uns in Amazonien sind diese Einflüsse durch die Migration aus dem Süden Brasiliens in den vergangenen Jahrzehnten größer geworden, trotzdem ist die Art und Weise der Religiosität in Amazonien anders gelagert. Man merkt, dass durch Jahrhunderte oder zumindest durch Jahrzehnte kein Priester dagewesen ist. Die Leute haben ihre eigenen religiösen Empfindungen und Ausdrucksformen geschaffen und gepflegt, zum Beispiel durch Prozessionen und eine besondere Art von Heiligenverehrung.

In Belém gibt es seit mehr als zwei Jahrhunderten den „Círio de Nossa Senhora de Nazaré“, die weltweit größte Prozession und Glaubensmanifestation der katholischen Kirche. Am zweiten Sonntag im Oktober wird ein kleines Bildnis Unserer Lieben Frau von Nazareth von der Kathedrale in Belém zur Basilika der „Nossa Senhora de Nazaré“ getragen. Die Statue kommt vermutlich aus Portugal. Hunderttausende Gläubige begleiten die Marienstatue auf einer fünf Kilometer langen Strecke durch die Straßen der Hauptstadt unseres Bundesstaates Pará. Weit mehr noch säumen die Straßen. Bis zu zwei Millionen Menschen sind hier vereint zur Verehrung der Jungfrau. Die ganze Stadt wird zu einem unendlichen Meer von Menschen.

In Altamira haben wir zwei Prozessionen. Die eine zu Ehren von São Sebastião am 20. Jänner, die andere am vierten Sonntag im Oktober auch zu Ehren Unserer Lieben Frau von Nazareth, der Patronin vom Xingu. Diese Prozessionen haben sich über Jahrhunderte erhalten, auch nachdem die Jesuiten aus der ersten Missionswelle vertrieben worden waren. Auch das Ave Maria und das Vaterunser wurden tradiert. Das hat heute den Vorteil, dass die Ausübung der Religion nicht ausschließlich vom Priester abhängt. Es gibt viele Frömmigkeitsformen, die in den Familien und Gemeinden weitergegeben werden.

Wenn ich mit den Gemeinden Gottesdienst feiere, dann sind mindestens die Hälfte junge Leute, viele jüngere Ehepaare mit den Kindern dabei. Kinder tanzen und springen manchmal in der Kirche herum, dass ich bei der Predigt aufpassen muss, den Faden nicht zu verlieren. Aber man geht am Sonntag in die Kirche. Das ist auch für die Jüngeren selbstverständlich. Es gibt Jugendgruppen, die zum Teil sozial, aber auch charismatisch ausgerichtet sind. Der Organisationsgrad war vielleicht vor ein, zwei Jahrzehnten ein wenig besser. Aber wenn der Priester in den Pfarrgemeinden einen Draht zu den jungen Leuten hat, dann sind sie auch da.

Die großen christlichen Feste des Jahres sind bei uns jahreszeitlich anders geprägt als in Europa. Zu Weihnachten ist es heiß. Das Leben spielt sich großteils auf der Straße ab. Oft geht es zu wie auf einem Jahrmarkt. Die Karwoche und Ostern unterscheiden sich insofern, als der wichtigste Tag in Brasilien der Karfreitag zu sein scheint. Der Karfreitag ist wirklich ein Tag, an dem alles ruht. In der Früh beginnt der große Kreuzweg, der quer durch die Stadt führt und mehrere Stunden lang dauert. Auch wer das ganze Jahr über nie in der Kirche ist, bei dieser Karfreitagsprozession ist er dabei. Um drei Uhr Nachmittag beginnt in allen Kirchen und Kapellen die offizielle Karfreitagsliturgie mit einer nicht aufhören wollenden Kreuzverehrung. Jede und jeder kniet vor dem Kreuz nieder und küsst eines der Wundmale Jesu.

 

Am Karfreitag sind tatsächlich mehr Menschen in den Kirchen als in der Osternacht. Die Leute haben einen tieferen Zugang zum Leiden, zum Schmerz, zum Tod. Dagegen können sie mit der Auferstehung oft weniger anfangen, schlicht und einfach, weil sie von Auferstehung in ihrem Alltag viel weniger erfahren. Ich denke, das ist psychologisch von der Situation her, in der unsere Leute leben, verständlich. Sie identifizieren sich mit dem leidenden Jesus, mit dem Gegeißelten, mit dem Dornengekrönten, mit dem unter dem Kreuz Gefallenen. Der glorreiche Jesus, der Auferstandene mit der Siegesfahne, ist ihnen nicht so nahe.

Trotzdem ist die Osternachtfeier immer ein tiefes Erlebnis. Es wird sehr viel gesungen, beim Gloria läuten die Glocken, wenn es solche gibt, Böller knallen und Raketen steigen. Das Halleluja wird zu einem wahren Jubelgesang. Die Leute haben Zeit. Man kann alle zwölf Lesungen vortragen. Das ist überhaupt kein Problem. Niemand schaut auf die Uhr. Beim Friedensgruß liegen sie sich in den Armen. Das geht dann ewig lang hin und her mit dem österlichen Wunsch „Feliz Páscoa!“. Auch der Bischof umarmt die Leute und wird umarmt, er wünscht Frohe Ostern und empfängt den Ostergruß. Niemand darf übersehen werden. Es macht überhaupt nichts, wenn die Feier bis Mitternacht oder darüber hinaus dauert. In den kleinen Gemeinden schlafen die Kinder oft schon seit den Lesungen auf den Bänken oder am Fußboden.

Heute spüren wir zunehmend den Einfluss der Medien. Manche antikirchlichen oder antireligiösen Wellen, die in Europa nichts Neues sind, schwappen auch zu uns herüber. Oft sind die Universitäten Orte einseitiger Kritik an der Kirche von heute und in der Vergangenheit. Nur die düstersten Seiten der Kirchengeschichte werden aufgerollt. Junge Leute kommen oft zu mir und sagen, sie verstünden die Welt nicht mehr. Wenn die Kirche Thema einer Debatte sei, würde nur von Kreuzzügen und Hexenverbrennungen gesprochen und kein gutes Haar an der Kirche gelassen. Ich weise dann darauf hin, dass jede Schwarzweißmalerei ungerecht ist. Es gab die Inquisition mit all ihren schrecklichen Auswüchsen, aber es gab in derselben Epoche auch einen Franz von Assisi (1181–1226) und seine Bewegung mit ihren positiven Auswirkungen bis zum heutigen Tag. Die Kirche hat auch große Fehler im Umgang mit den indigenen Völkern Amerikas gemacht. Diese Tatsache kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber andererseits war es dieselbe Kirche, die einen Antonio de Montesinos (1475–1540) und einen Bartolomé de Las Casas (1484–1566) hervorgebracht hat, die ihr Leben und all ihre Energie zur Verteidigung der indigenen Völker gegen die Ausbeutung vonseiten ihrer Landsleute einsetzten.

Bei allen Fehlern und Unzulänglichkeiten der Missionare in den vergangenen Jahrhunderten darf doch nicht vergessen werden, dass es Missionare gegeben hat, denen die Inquisition mit dem Scheiterhaufen drohte und die aufgrund ihres Einsatzes für die Indios ins Exil gejagt wurden. Der Schrei des Jesuitenpaters Antonio Vieira (1608–1697) in seiner berühmten Epiphaniepredigt 1662 vor dem portugiesischen Hof darf nicht überhört werden: „Sie wollen, dass wir die Heiden zum Glauben bringen und sie der Habgier ausliefern; sie wollen, dass wir die Schäflein zur Herde bringen und sie Herodes ausliefern. […] Dieses ganze Land ist heute nach so wenigen Jahren verwüstet und verlassen, und von so vielen und so verschiedenen Bevölkerungsgruppen, von denen nur noch die Namen geblieben sind, sieht man heute nur noch Ruinen und Friedhöfe.“

Und übrigens, was bringt es, Steine auf Missionare im Kontext vergangener Jahrhunderte zu werfen? Viel wichtiger ist es, heute die Rechte und Würde der in ihrem Überleben bedrohten indigenen Völker zu verteidigen. Es darf wirklich nicht vergessen werden, dass durch den Einsatz des Indigenen Rates der Brasilianischen Bischofskonferenz die Rechte der indigenen Völker in der Verfassung von 1988 festgeschrieben wurden und die katholische Kirche heute die einzige Institution ist, die sich ohne Abstriche gegenüber einer nachlässigen, gleichgültigen oder sogar anti-indigenen Regierung für die Rechte, die Würde und das Leben der indigenen Völker einsetzt.

In Brasilien geht viel auf der persönlichen Schiene. Es gibt kaum eine Familie, die nicht einen Priester oder Bischof zu ihren guten Bekannten zählt. Es kann jemand ein überzeugter Atheist sein, aber er ist trotzdem stolz darauf, mit einem Bischof oder Priester befreundet zu sein. Es ist mir selbst schon passiert, dass mir jemand sagt, er habe nichts am Hut mit der Kirche, aber er finde gut, was ich tue, und unterstütze die Anliegen, die ich verteidige.

Am Xingu bin ich jedes Jahr in jeder Pfarrgemeinde. Zum Teil eine ganze Woche, denn eine Pfarre ist ja immer die Summe von bis zu 80 Gemeinden. Zu Weihnachten bin ich nicht in Altamira, sondern immer am Unteren Xingu. Ich feiere mit den Leuten in Souzel die Christmette, am 25. Dezember ist dann die Firmung, denn wenn der Bischof kommt, ist Firmung, auch zu Weihnachten. Am Nachmittag fahre ich sechs Stunden flussabwärts nach Porto de Moz. Am nächsten Tag geht es weiter nach Gurupá, da ist dann am 27. Dezember das Fest des hl. Benedikt. Am 29. Dezember fahre ich nach Porto de Moz zurück. Dort höre ich in der Silvesternacht die Böller, aber den Dankgottesdienst feiern wir bereits um 20 Uhr. Am 2. Jänner geht es zurück nach Altamira. Die Leute in Altamira verstehen, dass ich nicht nur der Bischof von Altamira bin und daher nicht an allen Feiertagen am Sitz der Prälatur sein kann. Die Karwoche und Ostern verbringe ich aber immer in Altamira.

2.Ein Bischof und Pendler
zwischen zwei Welten
„Ich bin Brasilianer, in Österreich geboren“

Seit nunmehr knapp fünf Jahrzehnten lebe ich in zwei Welten. Ich sage immer: Ich bin Brasilianer, in Österreich geboren. Wenn ich in Österreich bin, fühle ich mich zu Hause. Aber auch am Xingu fühle ich mich zu Hause. Ich lebe mein Leben in Brasilien. Aber meine Wurzeln habe ich nie verleugnet, ich liebe Koblach und das Ländle und habe eine ganz tiefe Beziehung zur Stadt Salzburg, wo ich studiert habe und geweiht worden bin. Ich fühle mich heute noch als Priester, der von seiner Heimat gesandt worden ist, um für die Indios und die anderen Menschen hier am Xingu da zu sein. Ohne die Rückendeckung aus meiner Heimat wäre vieles nicht möglich.

Wenn ich in Österreich bin, habe ich meist das Glück, die Kirche in besonderen Situationen zu erleben, etwa bei Firmungen. Da war und ist meist alles eitel Wonne. Ich habe oft sehr gute Gespräche in der Vorbereitung auf die Firmung geführt und gemerkt, da sind junge Menschen auf der Suche. Wenn die jungen Leute dann hören, dass ich in Amazonien lebe und mich für die Indios und den Regenwald einsetze, dann sind sie sehr aufgeschlossen, dann wollen sie genauere Informationen. Von manchen Firmlingen bekomme ich jahrelang E-Mails. Ein Mädchen schreibt, sie werde jetzt bald die Matura machen und sie hätte dieses und jenes im Sinne, und fragt mich, was ich dazu sage. Auch wenn ich es nur schwer schaffe, alle E-Mails zu beantworten, so achte ich doch sehr darauf, den Dialog mit meinen Firmlingen aufrechtzuerhalten.

Im Einzelnen kenne ich natürlich die Lebenswelt der jungen Leute in Österreich nicht mehr so gut. Wenn ich mehr mit ihnen zu tun hätte, würde ich mich zuerst einmal mit ihnen zusammensetzen und sie erzählen lassen. Ich würde sagen: Ich bin da, redet euch aus, über eure Nöte und Sorgen, aber auch über das, was euch freut, was euch begeistert. Bei den Gesprächen im Vorfeld der Firmung haben sie ihre Fragen meist schon vorbereitet. Da sind sie ganz ungeniert. Das ist herrlich. Wir waren als Jugendliche nicht so offen. Bestimmte Fragen haben wir nicht gestellt, schon gar nicht einem Pfarrer oder Bischof. Mir kommt vor, dass die jungen Menschen heute schon mit 13, 14 Jahren sehr eingespannt und überfordert sind. Es bleibt kaum Zeit für andere Lebensbereiche und ich kann auch verstehen, dass sie am Sonntag zuallererst einmal ausschlafen wollen.

Sehr großen Respekt habe ich vor den Priestern, die ich in Österreich und darüber hinaus im deutschsprachigen Raum kenne. Ich habe mir oft gedacht, dass sie in einer viel schwierigeren Situation sind als wir in Brasilien. Der Gesellschaft ist die Kirche oft ziemlich egal, viele gehen weg, treten aus. In den Medien herrschen kirchliche Skandale vor, für die der einzelne Seelsorger absolut nichts kann, die aber seine Arbeit schwer beeinträchtigen. Die Leute kommen zu ihm und sagen: Das kann doch nicht die Kirche sein, die wir wollen.

Größten Respekt habe ich auch vor den Religionslehrerinnen und Religionslehrern. Es ist unglaublich, was die oft an Kritik an der Kirche einstecken müssen, für Zustände, an denen sie selbst nichts ändern können. Trotzdem geben sie nicht auf! Manchmal erzählen mir solche Menschen aus ihrem Alltag und mir läuft es kalt über den Rücken. Das erlebe ich drüben nicht. Klar gibt es auch bei uns in Altamira junge Leute, für die die Kirche im Moment nicht interessant ist. Aber sie sind nicht unbedingt aggressiv. Dagegen habe ich in Österreich mit Religionslehrerinnen und Religionslehrern gesprochen, die ein Burn-out oder depressive Phasen erlebt haben, weil sie diese harsche Kritik nicht mehr ausgehalten haben.

Anstatt ihnen unendlich dankbar zu sein für ihren Dienst, werden sie vor die Tür gesetzt, wenn zum Beispiel in ihrer Ehe etwas schiefgeht. Eine Religionslehrerin steht jahrelang, vielleicht jahrzehntelang in der Klasse, macht verantwortungsvoll ihre Aufgaben. Dann wird sie von ihrem Mann verlassen oder lässt sich scheiden, weil es für sie so nicht mehr weitergehen kann. Wenn sie eine neue Beziehung eingeht, fliegt sie hinaus. Da komme ich nicht mit. Da wird am Ende noch viel mehr kaputt gemacht und Leid zugefügt, als solche Menschen ohnehin ertragen müssen.

Eine große Offenheit sehe ich den Gemeinden in Österreich. Die Menschen sind sehr interessiert, auch an unserem Schicksal in Brasilien, an der Bewahrung der Mitwelt in Amazonien. Wir könnten viele unserer Initiativen überhaupt nicht durchführen, wenn wir nicht diese tatkräftige und nachhaltige Unterstützung hätten. In dieser Solidarität, die über alle Grenzen und Einschränkungen hinweggeht, ist Österreich wirklich sehr vorbildlich. Das ist für uns eine Basis, ohne die wir nicht leben könnten.

Wir haben in Brasilien den Vorteil, dass diese Säkularisierungswelle, wie wir sie in Europa erleben, dort noch nicht angekommen ist. In dem Ausmaß, wie in Europa der Kirche Gegenwind teils ins Gesicht bläst, kennen wir das in Brasilien nicht. Ob das auch auf uns zukommt? Hoffentlich nicht so rasch. Wobei das Naturell der Brasilianer einen solchen Trend immer ein wenig abschwächen wird. Ich habe nie erlebt und könnte mir das auch nicht vorstellen, dass mich zum Beispiel ein Jugendlicher als Priester oder als Bischof angepöbelt hätte, weder in der Schule noch sonstwo.

Erholung finde ich, wenn ich jedes Jahr ein paar Wochen in Koblach bin. Ich liebe es, im Ried und im Wald zu gehen, und beginne oft bereits um fünf Uhr früh meinen Gesundheitslauf. Ich gehe schnell und bewältige fünf Kilometer in 45 bis 48 Minuten.

Meine Familienbande schätze ich sehr und bin froh darum. Wir sind sechs Geschwister, aber es gibt darüber hinaus die Großfamilie und es gibt den Ort, wo ich aufgewachsen bin. Da habe ich nach wie vor meine Beziehungen aus der Jugendzeit, die habe ich nie abgebrochen. Darüber bin ich sehr glücklich, frei nach Goethe: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein.“ Für meine früheren Hobbys bleibt mir aber kaum mehr Zeit. Früher bin ich in die Berge oder Ski fahren gegangen. Wenn ich in Vorarlberg bin, dann ziehe ich es heute vor, in der Ebene zu wandern. Steil hinauf tue ich mich schwer. Auch bin ich nicht mehr schwindelfrei. Ich weiß nicht, wie und warum ich es nicht mehr bin.

Ich bin 1965, also vor einem halben Jahrhundert, von daheim weggegangen. Aber für die Leute in Koblach bin ich bis heute nicht Bischof, sondern ich bin der Erwin. Da fühle ich mich gut. Ich fühle mich aber auch in Brasilien zu Hause, am Xingu, im Urwald. Das ist mein Umfeld. Ich bin Brasilianer und ich bin bis heute überzeugt, dass das mein Weg ist. Ich bin glücklich in Brasilien.

Ich habe beide Staatsbürgerschaften, die österreichische und die brasilianische. Ich wollte die österreichische Staatsbürgerschaft nie aufgeben. Das wäre für mich komisch, in Österreich sind meine Wurzeln, die ich nie vergessen habe. Ich bin nach wie vor immer wieder in Österreich und ich bin auch Österreicher. Aber ich lebe und arbeite in Brasilien und bin 1978 brasilianischer Staatsbürger geworden. Damals war ich noch nicht Bischof und ich war neben meiner spezifisch priesterlichen Tätigkeit auch im Schuldienst tätig. Ich musste meine Diplome vom Studium in Salzburg beglaubigen lassen. Dafür musste ich mich einer Nachprüfung in portugiesischer Sprache und Literatur unterziehen. Das habe ich gern gemacht und sage mit einem gewissen Stolz, dass ich die Note 9,5 erhalten habe, also ganz nahe an der Bestnote 10.

 

Außerdem musste ich eine Arbeit über die brasilianische Geschichte und Realität schreiben. Das habe ich gemacht und ich habe die entsprechenden Stempel bekommen und zunächst eine provisorische Lehrbefugnis für Erziehungspsychologie, -philosophie und -soziologie an der Lehrerbildungsanstalt. Nebenbei habe ich noch Englisch unterrichtet, weil kein Englischlehrer da war. Aber ich fand es irgendwie komisch, dass ich nur eine „provisorische“ Lehrverpflichtung hatte und diejenigen, die ich ausbildete, sofort nach Abschluss der Studien eine ordentliche Lehrbefugnis bekamen.

Ich bin dieser Geschichte nachgegangen und die Erklärung war einfach: Ja, gut, Sie haben alle Diplome, das ist in Ordnung, aber was ihnen fehlt, ist die brasilianische Staatsbürgerschaft. Daraufhin ging ich zum österreichischen Botschafter in Brasilia und unterbreitete ihm mein Anliegen: Ich möchte gerne die brasilianische Staatsbürgerschaft annehmen, aber die österreichische nicht verlieren. Der Botschafter machte mir zunächst keine großen Hoffnungen. „Das ist sehr, sehr schwierig“, sagte er in seinem oberösterreichischen Dialekt, „wenn Sie nicht Herbert von Karajan sind oder Karl Schranz, dann ist das sehr, sehr schwierig. Sie müssen für Österreich interessant sein.“

Dann fragte er mich, woher ich käme. Das hätte er eigentlich aus meinem alemannischen Akzent erraten können. „Aus Vorarlberg“, antwortete ich. „Ja, da schaut die Geschichte ein bisschen anders aus. Vorarlberg ist ja so klein, dass jeder jeden kennt! Da gibt es doch sicher einen Landtagsabgeordneten, der sich für Sie starkmacht.“ Als ich das nächste Mal nach Vorarlberg gekommen bin, habe ich bei einem Fest den späteren Landesstatthalter Siegi Gasser getroffen und ihn gefragt, ob er mir weiterhelfen könne. Er hat gemeint: Das machen wir doch sofort. Aber Sie müssen eben interessant sein für Vorarlberg. – Wie wird man das? – Was tun Sie denn drüben in Brasilien? – Ich unterrichte an der Lehrerbildungsanstalt, ich bin offiziell der Präsident des Alphabetisierungsprogramms, ich bin neben meinen priesterlichen Aufgaben in der Schule angestellt. – Gut, bitte schreiben Sie das alles zusammen.

Das Land Vorarlberg hat dann tatsächlich in Altamira bei der Lehrerbildungsanstalt angefragt, ob ich dort wirklich unterrichte und was ich sonst täte und sei. Auch der Bürgermeister von Altamira erhielt eine Anfrage. Der war natürlich voll des Lobes über mich. So bekam ich schließlich 1978 den Bescheid, dass ich im Falle der Annahme der brasilianischen Staatsbürgerschaft die österreichische behalten dürfe.

In Brasilien war damals noch die Militärregierung am Ruder. Das war ein wenig gefährlich, weil ich Priester war. Ich musste zu einer Befragung durch einen Militär. Der hat mich ausgefragt, welche Literatur ich lese, was meine Hobbys sind. Da habe ich von Musik geredet, von Mozart und Salzburg, wo ich studiert hatte. Schließlich fragte er: „Was sagen Sie zu Che Guevara?“ Er wollte sichergehen, dass ich kein Marxist bin. Ich habe geantwortet, dass ich gegen jede Art von Gewalt sei. Das hat ihn dann überzeugt. Schlussendlich wollte er noch wissen, ob ich verheiratet sei. – Nein. – Ob ich Kinder hätte? – Nein. – Er fragte, wo ich lebe und wohne. Ich wollte absolut nicht, dass er daraufkommt, dass ich Priester bin, denn wahrscheinlich wäre zur Zeit der Militärdiktatur mein Ansuchen um die brasilianische Staatsbürgerschaft deshalb im Archiv gelandet. So sagte ich einfach: „Bei den andern.“ Damit war das Gespräch zu Ende.

Am 7. Juli 1978 habe ich dann die brasilianische Staatsbürgerschaft erhalten. Das wurde im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Ich habe seither alle Rechte als Brasilianer, ich könnte Senator werden oder Minister, ich kann nur nicht Präsident werden und ich dürfte nicht in der ersten Klasse Volksschule unterrichten, weil man meint, dass ich wegen meiner Herkunft nicht akzentfrei Portugiesisch sprechen könnte. Allerdings sagen die Leute nie, dass ich einen Akzent hätte. Viele meinen, ich sei aus Santa Catarina, Paraná oder Rio Grande do Sul, und wundern sich, wenn ich sage, ich sei in Österreich geboren. – Das gibt es nicht, Sie sprechen ja akzentfreies Portugiesisch!

Die harte Lehre, durch die ich sprachlich gegangen bin, hat sich gelohnt. Die Ordensschwester, die mich Portugiesisch gelehrt hat, meinte gleich zu Beginn des Unterrichts: Du wirst so reden, wie die Leute hier reden. Sie hat mich einzelne Worte so lange wiederholen lassen, bis die Aussprache perfekt war. Dann bin ich ja bald an die Schule gekommen und ich habe die Schülerinnen und Schüler sofort gebeten: Bitte, wenn ich einen Fehler mache, dann sagt mir das sofort. Denn in Brasilien ist es taktlos, jemanden auf einen sprachlichen Fehler aufmerksam zu machen. Wir reden in Amazonien ein schöneres Portugiesisch als die Brasilianer im Süden. Denn die haben alle einen Akzent, einen italienischen, einen deutschen oder den einer anderen Nationalität.