Ich habe immer nur den Zaun gesehen

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Mit der Bitte um Sonderbehandlung brachte die Gestapo Gefangene nach Natzweiler. Mit diesem Hinweis Eingelieferte wurden sofort getötet.

In einer Kiesgrube, in der Nähe des Lagers fanden Erschießungen statt. Die Menschen wurden durch Exekutionskommandos oder durch Genickschuss mit der Pistole durch einzelne SS-Leute getötet. Die Leichen wurden verbrannt.

Andere wurden durch Injektionen giftiger Substanzen getötet. Viele wurden, wie es hieß, auf der Flucht erschossen. Sie wurden in den Tod getrieben, erschlagen oder starben an Erschöpfung.

Besonders wegen der Durchführung medizinischer Versuche hat sich das Lager Natzweiler einen grauenvollen Namen gemacht. Es handelte sich dabei um Experimente an lebenden Personen. Mit der ausdrücklichen Genehmigung des Reichsführers SS, Himmler, wurden unter der Leitung des berüchtigten Professors Dr. August Hirt Versuche an KZ-Häftlingen durchgeführt. Manche ausgesuchte Häftlinge wurden eigens zur anschließenden Obduktion getötet. Ein Raum mit Seziertisch befand sich im Gebäude des Krematoriums. Der Umbau des Kühlraumes des ehemaligen Hotels Struthof in eine Gaskammer geschah auf Veranlassung von Prof. Hirt. Zur Gaskammer gab es ein Fenster, von dem aus er den Vorgang der Vergasung seiner Opfer von außen beobachten konnte. Hier wurden Leichen und Leichenteile nach Vorschrift hergestellt, die für medizinische und sogenannte rassenspezifische Untersuchungen Verwendung fanden. Die Leichen wurden auf der Stelle seziert und untersucht oder in bestimmten Fällen zur Universität Straßburg gebracht. Das Anatomische Institut der Universität wurde aus dem Konzentrationslager mit Leichen oder Leichenteilen beliefert, um seine kriegswichtigen Geheimversuche durchführen zu können. Ein Briefwechsel, der heute im Bundesarchiv in Koblenz archiviert ist, befasst sich mit der Lieferung eines Versuchs-Tiefkühlschrankes durch die Firma LINDE an die Reichsuniversität Straßburg.

Manchen Gefangenen wurden testweise Viren oder Giftpräparate injiziert. Im Jahr 1944, so ist in den Nürnberger Prozessakten nachzulesen, wurden im KZ Natzweiler zweihundert Personen Typhusviren eingeimpft.

Eines Tages kamen im Lager der schon erwähnte Universitätsprofessor aus Straßburg und ein Fliegeroffizier an. Sie verlangten dreißig junge und kräftige Internierte, die sie in einem Block isolierten. Eine Hälfte des Blockes wurde abgeschlossen, und niemand außer dem Professor, dem Offizier und mir durfte hineingehen. Man bestimmte mich dazu, die Kranken zu versorgen und den Ablauf der Krankheit zu beobachten. Es war den SS-Leuten verboten, in den Block hineinzugehen. Es war uns verboten zu erzählen, was dort geschah.

Ich habe folgendes gesehen: Der Offizier und der Professor setzten ihre Gasmasken auf. Sie spritzten dann in die Handfläche und auf die Innenseite des Vorderarmes etwa zehn Kubikzentimeter eines Produktes ein. Zehn Gefangene bekamen sodann fünfzehn Tropfen Vogan, zehn andere acht solcher Tropfen und der Rest nichts.

(…) Am ersten Abend begannen die Kranken vor Schmerzen zu schreien. Die Impfstelle hatte sich entzündet und glich einer Verbrennung. Bald war ihr ganzer Körper damit überzogen. Sie hatten Schmerzen in den Augen und den Lungen. Ich tat mein Möglichstes, um ihnen zu helfen. Ich legte mich um Mitternacht zu Bett, und am nächsten Tag musste ich feststellen, dass auch ich kaum noch etwas sehen konnte. Der Offizier kam, nicht um die Kranken zu pflegen, sondern um sie zu fotografieren. Von diesem Tag an fotografierte man sie alle Tage, aber man kümmerte sich nicht um die Kranken, die wie Tiere brüllten. Sie waren bald willenlos, bald wie verrückt. Der erste starb nach vierzehn Tagen (am 21.12.42). Seine Leiche wurde nach Straßburg geschickt. In der Folgezeit durfte keine Leiche mehr das Lager verlassen. Man machte die Versuche an Ort und Stelle. Die Autopsie ergab folgende Resultate: Rückgang des Gehirns, die Lungen mit Eiter angefüllt und zerfressen, die Leber ebenso. Die übrigen waren halb blind und lungenkrank. 5

5 Konzentrationslager Dokument F 321 für den Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg, herausgegeben von Eugène Aroneanu. Französisches Büro des Informationsdienstes über Kriegsverbrechen

(…) diese Ärzte machten Versuche mit Gasen an diesen Unglücklichen in einer Gaskammer außerhalb des Lagers. An einem einzigen Tag, am 10. August 1943, wurden 86 Frauen vergast und ihre Leichen sofort nachher verbrannt. 6

6 Konzentrationslager Dokument F 321 für den Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg, herausgegeben von Eugène Aroneanu. Französisches Büro des Informationsdienstes über Kriegsverbrechen

Tatsächlich handelte es sich bei der hier geschilderten Begebenheit um 87 jüdische Häftlinge. Es waren 30 Frauen und 57 Männer.

Gearbeitet wurde in dem schon erwähnten, 700 Meter oberhalb des Lagers gelegenen Steinbruch. Für die Beaufsichtigung der Arbeiten und die Einhaltung der Vorgaben durch die SS waren die Kapos verantwortlich. Diese gingen in der Regel brutal und rücksichtslos gegen die Gefangenen vor. Sie hatten dafür zu sorgen, dass ein gewisses Arbeits­pensum erledigt wurde. Lagen sie unter dem Limit, hatten sie selbst eine Bestrafung zu erwarten. Dieser konnten sie nur dann entgehen, wenn sie nachweisen konnten, dass sie die Häftlinge massiv durch Schläge zur Arbeit angetrieben hatten. Beim morgendlichen Marsch der Kolonnen in den Steinbruch wurde von der SS Anweisung gegeben, wie viele Häftlinge am Abend ins Lager zurück getragen werden mussten. Diese hatten entweder völlig erschöpft oder tot zu sein. Von dieser Anweisung waren vorwiegend die N.N. Häftlinge, die Russen und die Polen betroffen.

In den Hallen auf dem Gelände des Steinbruchs mussten Junker-Motoren abgeschossener Flugzeuge durch die Häftlinge demontiert und auf Wiederverwendung überprüft werden. Bei diesen Arbeiten kam es immer wieder zu Sabotageakten. Später wurde die Tätigkeit für die Flugzeugindustrie intensiviert und weitere Montagehallen entstanden. Mit dem Ziel, die Arbeiten unter die Erde zu verlegen, begannen Häftlinge, zum Teil fünfzig bis sechzig Meter tiefe Stollen in die Granitfelsen des Steinbruches zu treiben. Zu einer unterirdischen Produktion, wie im Tunnel Bruttig-Treis, kam es in Natzweiler jedoch nicht.

Ein erschütterndes Zeugnis gibt der ehemalige Häftling Doktor Ragot in seinem Bericht über eine Weihnacht in Natzweiler: Weihnachten kam … und an zwei Tagen hintereinander wurde uns nachmittags die Arbeit erlassen und wir wurden eine Stunde später geweckt. Vierzehn Tage vorher hatten wir einen anderen Kapo bekommen, einen »grünen« Deutschen, der schon seit vielen Jahren Gefangener war. Ungefähr fünfzig Jahre alt, trieb er uns zu schneller Arbeit an, aber meiner Meinung nach hatte er das große Verdienst, gerecht zu sein.

Von unseren Liedern am Sonntag eingenommen, bat er uns, etwas für den Heiligen Abend vorzubereiten, und er selbst besorgte einen Tannenbaum, Girlanden und sogar kleine Kerzen. Ein Freudenfest war vorgesehen, das vor allem aus zusätzlichem Essen bestehen sollte. Es ist überflüssig zu sagen, dass uns dies am meisten interessierte. Aber es gab auch andere Freuden …

Gleich mittags, bei der Rückkehr von der Arbeit, bietet man uns die erste. Zwei Galgen sind auf dem Podium errichtet, davor steht die ganze Belegschaft im Viereck, und so werden zwei Häftlinge erhängt; langsames Erhängen, nicht durch den Fall des Körpers herbeigeführt, sondern durch einfaches Erwürgen. Das Opfer braucht mindestens zwei Minuten um zu sterben.

Als dieses Schauspiel vorbei war, mussten wir mit Mützen ab in Fünferreihen zwischen den beiden baumelnden Leichen hindurchgehen, rechts und links von uns der Generalstab der SS, wo Kramer, der Lagerkommandant, thronte, seine ewige Zigarre in der Schnauze; mit den Augen Wahnsinniger genossen sie es und beobachteten die Nachwirkung, die es auf uns ausübte. Aber wir zogen vorbei, automatisch, gleichgültig, den Blick ins Ungewisse gerichtet und dachten vor allem an unsere Suppe, die auf uns wartete und in unseren Essnäpfen kalt wurde.

Dieses Schauspiel hinderte uns nicht daran, fünf Minuten später drei Kartoffeln und etwas Fleischsauce zu genießen und am Nachmittag zu singen und Musik zu machen. Man lebte und starb, man lebte und arbeitete, man ging vor Hunger ein, aber man verlor nie die Hoffnung. Man starb oft allein, ohne Kameraden, um den Toten die Augen zu schließen, ohne geistlichen Beistand für die Gläubigen, und wenn sich die armen geopferten Körper einmal in Rauch aufgelöst hatten, blieb kaum die Erinnerung an sie zurück. 7

7 Quelle: KZ Lager Natzweiler Struthof, Nancy 1982

Neuer Antrieb

Inzwischen war meine Erzählung über das KZ-Außenlager Cochem in einer kleinen Auflage erschienen. Wegen dieses schmalen Bändchens wurde ich für ein Reisestipendium vorgeschlagen, das der Verband deutscher Schriftsteller, VS, zusammen mit dem Auswärtigen Amt jährlich vergibt. Wenig später erhielt ich tatsächlich die Zusage und wurde Stipendiat. Ich empfand diese Anerkennung als Aufforderung, weitere Recherchen zum Thema KZ-Außenlager Cochem anzustellen. Ich entschied mich nach Luxemburg zu reisen.

Du weißt, mit welchem Eifer ich in meiner Kindheit und Jugend als Messdiener tätig war. Ich fuhr damals mit einer kleinen Gruppe aus unserer Gemeinde zu einem religiösen Fest nach Malmedy in Belgien. In einer Gaststätte, in der wir zu Mittag essen wollten, wurden wir nicht bedient. Das war mir damals unverständlich. Auch die Art und Weise, in der man uns die Bewirtung verweigerte, irritierte mich sehr. Unser orts- und geschichtskundiger Pfarrer, der sich mit auf der Tour befand, erzählte mir später von einem Massaker deutscher Soldaten an Zivilisten aus Malmedy. Bei dem Gedanken, nach Luxemburg zu fahren, um dort Kontakt zu ehemaligen Häftlingen zu suchen, fiel mir diese Begebenheit wieder ein.

 

Post. Über die Frankfurter Geschäftsstelle der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) erhielt ich Kontaktadressen in Luxemburg. Die Landesbildstelle Rheinland-Pfalz antwortete auf meine Anfrage: Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass in unserem Bildarchiv keine Aufnahmen zum Thema ›KZ-Außenkommando Cochem‹ vorhanden sind.

Vom Verband der Schriftsteller in Luxemburg kam die Einladung, ich möge als Vertreter der rheinland-pfälzischen Autoren bei der im Herbst geplanten Literatur-Biennale in Clerf als Gastautor aus meinen Texten lesen. Die Veranstaltung sollte an einem Wochenende stattfinden, das in die Zeit fiel, in der ich vorhatte, mich in Luxemburg aufzuhalten. Natürlich sagte ich zu.

Luxemburg. Ich wollte mich auf das kleine Land einlassen. Was gab es an Büchern über Luxemburg? Ich hatte im VLB, dem Verzeichnis lieferbarer Bücher, nachgesehen. Es gab einiges über Landschaften und Sehenswürdigkeiten. Die Auswahl war abgestimmt auf den Bedarf von Gästen, die in Luxemburg Erholung suchten, und sich für Besichtigungen interessierten.

Luxemburg, das hatte für mich immer irgendwie zu Deutschland gehört, irgendwie. Das war kein richtiges Ausland gewesen. So wie Bayern. Und wenn wir früher als Kinder aufzählten, in welchen Ländern wir schon gewesen sind, dann wurde die Nennung von Luxemburg immer mit einem gelangweilten Ach ja, Luxemburg und mit einer ausladenden Handbewegung abgetan. Dass Luxemburg nicht zu Deutschland gehört, wurde mir tatsächlich und endgültig erst klar, als ein Freund eine Luxemburgerin heiratete.

»Ah, aus Luxemburg!«, sagten alle erstaunt, denen er die Frau vorstellte. Ihr Vater sei ein hohes Tier in der luxemburgischen Regierung, hatte der Freund gesagt. Erst damit wurde Luxemburg endgültig als 12. Bundesland abgeschrieben – für Kopf und Bauch.

Luxemburg war das Land gewesen, wohin man billige Zigaretten einkaufen fuhr, wenn man nahe genug an der Grenze wohnte und wohin man eine Tagestour unternahm und Zigaretten mitbrachte, wenn man nicht so nah an der Grenze wohnte. Luxemburg war das Land gewesen, durch das man beiläufig hindurch fuhr, wenn man aus Richtung Mosel kommend nach Paris wollte. Luxemburg war die preiswerte Abschussrampe für Flieger in alle Welt gewesen. Luxemburg, die Stadt, hat einen schönen großen Platz für warme Sommerabende. Hier hatte es sich einen Abend lang aushalten lassen, wenn der Flieger erst am nächsten Morgen startete.

Ich schaute über den Fluss, hinter Trier, in ein anderes Land. Den Fluss kannte ich gut und das Tal. Aber das Land?

Post. Ich erhielt eine wahre Briefflut freundlicher Antwortschreiben aus Luxemburg. Zahlreich Schreiben meinerseits waren diesen nach Luxemburg vorausgegangen. Der luxemburgische Kulturminister machte mich auf seinen Landsmann Ernest Gillen8 aufmerksam. Auch in anderen Schreiben wurde ich immer wieder an ihn verwiesen. Er schien der Mann in Luxemburg zu sein, bei dem die Fäden zusammenliefen, was die Kenntnis über das KZ Natzweiler und seine Außenlager betraf. Wenige Tage später erhielt ich auch von ihm einen Brief. Ich hatte daran gedacht, dass er selbst im Außenlager Cochem gewesen sein könnte und mir vorgestellt, ihn einzuladen, um mit ihm gemeinsam die ehemaligen Lagergelände in Bruttig und Treis zu besuchen.

8 Der ehemalige luxemburgische Häftling des KZ Natzweiler-Struthof, Ernest Gillen, hat nach dem Krieg wie kein anderer maßgeblich zur Aufarbeitung der Geschichte des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof und seiner Außenlager beigetragen. Er ist sozusagen eine Schlüsselfigur in der Forschung und Vertiefung des Themas, und sein Name ist bekannt. Ohne ihn wären auch viele Einzelheiten in diesem Buch über das KZ-Außenlager Cochem verborgen geblieben. Im Jahr 2004 ist Ernest Gillen mit 83 Jahren gestorben. In dieser völlig überarbeiteten Neuausgabe wird sein Name in Gänze genannt und nicht wie in bisherigen Ausgaben mit dem Kürzel Ernest G. Eine Online-Biografie über Ernest Gillen ist unter folgendem Link zu finden: http://www.sintiundroma.de/uploads/media/ernest_gillen.pdf

Er schrieb, dass er selbst nicht im Lager Cochem gewesen sei und auch keinen noch lebenden Luxemburger kenne, der in diesem Lager war. Er sei gern bereit, sich mit mir in Luxemburg zu treffen und hoffe, auch von mir Einzelheiten über Bruttig und Treis erfahren zu können. Er fragte, was ich über die verstorbenen KZler wisse, die in Bruttig beerdigt sind. Ich kannte zwar deren Gräber, schrieb aber, um eventuell mehr zu erfahren, an den Pfarrer von Bruttig und fragte, ob die Kirchenbücher Eintragungen über verstorbene KZ-Häftlinge enthielten. Die Antwort kam jedoch nicht vom Pfarrer, sondern vom Inhaber eines Bruttiger Weingutes, von Manfred Ostermann.

Im Auftrag unseres Herrn Pfarrers teile ich Ihnen folgendes mit: (…) Über das Schicksal der Lagerinsassen und deren Todesumstände gibt es in der Pfarrei und der Gemeinde keine amtl. Informationen, da die Lagerverwaltung mit dem Dorf nichts zu tun hatte. Informationen allgemeiner Art, die das Lager Bruttig-Treis betreffen, können hier bei uns von Ortsansässigen gegeben werden. Dazu wäre notwendig, mit den Leuten persönlich zu sprechen. Für weitere Rückfragen stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.

»Sin sie nich der, der bei ’er Abschlussfeier die Jitarre jespielt hat?«

»Richtig!«

Am Tresen beim Waldfest hatte er mich wiedererkannt. Ich erinnerte mich an ihn wegen seiner Fliegergeschichten, die er immer wieder erzählte, bevor er dann kurz vor Ende der Wirtschaftsgeografiestunde auf die Uhr schaute, »oh, wir ham ja noch jarnich jemacht« sagte und dann mit dem eigentlichen Unterrichtsstoff begann. Seine Stunden waren wegen der Fliegergeschichten durchaus beliebt, immer recht unterhaltsam, witzig und wurden von uns Schülern, wenn nicht zur Belustigung, zumindest aber als Ruhestunden genutzt. Schlechte Noten konnte man von Schmitze sowieso nicht bekommen.

»Ick hab ja viele Schüler in den letzten fünfundzwanzig Jahren hier jesehn, aber ihr Jesicht hab ick mir behalten.«

Und schon kamen wir ohne Umschweife zu den Fliegergeschichten, dann zu den »eijentlichen deutschen Grenzen« und den »janzen Drückeberjern«, die »jarnich arbeiten wollen« nach Kreta, wo »ick vor zween Jahren jewesen bin.

Mich wundert det, dat die Leute da jarnich jejen uns haben, die sind so friedlich zu uns Deutsche.« Er lachte.

Im zweiten Weltkrieg, erzählte er, sei eine Partisanengruppe auf Kreta von der Bevölkerung eines kleinen Dorfes unterstützt worden. Dort habe man die Widerstandskämpfer vor den Deutschen auch versteckt. Das gesamte Dorf sei damals von den Deutschen »dem Erdboden gleich jemacht« worden, als das mit den Partisanen heraus gekommen sei. Das Dorf, sagte Schmitze, habe er bei seiner Reise wieder besucht.

»Da steht jetzt keen einziet altet Haus mehr. Lauter neue Häuser.« Und dann lachte er wieder, der kleine Schmitze, und lieb und nett fragte er, ob ich ein Bier mit ihm trinke.

»Ja gerne.«

Mit wem, der hier über sechzig war, hätte ich denn ein Bier trinken können, hätte ich mit keinem Ex-Nazi eines trinken wollen? Also trank ich auch mit Schmitze. Er hatte so ein dummes, liebliches Opagrinsen in seinem runden Gesichtlein stehen, wenn er »dem Erdboden gleich jemacht« sagte.

»Prost, Schmitze!«

Ganz in der Nähe des Dorfes auf Kreta habe er ein deutsches Denkmal entdeckt. Damit habe das Deutsche Reich seinen tapferen Söhnen gedankt, die in Griechenlands Hitze ihr Leben für ihr Vaterland ließen.

»Die Griechen haben det wahrscheinlich jarnich lesen können. Ick bin in ’en nächsten Ort jejangen, hab ’nen Blumentopf jekooft und hab den vor dat Denkmal jestellt.«

Prost, Schmitze!

Ich habe Ihren Brief an meinen KZ-Kameraden Ernest Gillen weitergeleitet. Er wird gerne bereit sein, Sie evtl. mit anderen Widerstandskämpfern in Verbindung zu bringen, schrieb mir der luxemburgische Minister für Justiz und Kultur, Robert Krieps. An diesen Worten erfuhr ich einmal mehr, dass Luxemburg nicht Deutschland, sondern ein völlig anderes Land ist, als das unsere.

Ein Versehen

Ein großer Teil der Unterlagen, die ich mir inzwischen besorgt hatte, waren Ablichtungen der Dokumente NS 4 NA aus dem Bundesarchiv Koblenz. Ich hatte mich schleunigst dort um einen Besuch bemüht, damit ich, wenn ich nach Luxemburg fahren würde, außer meiner Erzählung, die ja hauptsächlich subjektive Schilderungen enthält, dort auch Zahlen und Fakten vorzuweisen hatte. Du kannst sehen, die Luxemburger erhofften sich auch Informationen von mir. Gegenseitigkeit.

Der überraschend große Umfang, der im Bundesarchiv vorhandenen NS-Akten hatte mich neugierig gemacht. Jetzt auf einmal die Original-Schriftstücke in den Händen zu halten, anhand von Namen und Daten die Vorgänge nachvollziehen zu können, das brachte mich vollends an die Arbeit. Ich durchblätterte die Akten einen ganzen Vormittag lang, ohne genau zu wissen, was ich nun konkret damit anfangen sollte. Zum ersten Mal wurde mir die Notwendigkeit der Archivierung von Akten überdeutlich, worüber ich mir bisher, offen gestanden, noch nie Gedanken gemacht hatte. Auf einmal hatte ich auch ein Gefühl für die Wichtigkeit auch meiner Arbeit. Diese ganzen Aktenstapel vor mir waren nichts als Papier, wenn nicht jemand etwas daraus machen, sie durchkämmen, entschlüsseln, übertragen und interpretieren würde. In diesen Papieren ruhte, was dem kollektiven Vergessen einen Strich durch die Rechnung machen könnte, würde es nur erweckt und aus den Aktenschränken nach draußen getragen werden.

Zu meiner Verwunderung verschaffte man mir seitens der Archivverwaltung Einsicht in sämtliche Akten, bei denen die Möglichkeit bestand, dass ich darin etwas finden könnte, was mit meinem Thema in einem Zusammenhang stand. Ich wurde bedient, fast umsorgt. Ich traf eine ehemalige Schulkameradin, Simone. Sie arbeite hier, sagte sie, als Sachbearbeiterin. Simone interessierte sich sofort für mein Anliegen und konnte mir aus dem Stand heraus einige Informationen an die Hand geben, die, wie sich für mich herausstellte, meine Sucharbeit erheblich verkürzen sollten.

»Hier hast du meine Telefonnummer. Wenn du mit irgendwas nicht klar kommst, ruf mich kurz an oder komm nach oben in mein Büro.«

Was hatte ich ein Glück! Simone wurde unaufgefordert aktiv und sprach ihre Mitarbeiter an, die sich mit dem Stoff, für den ich mich interessierte, auskannten. Ich erhielt Vorschläge, Hinweise.

Alle Dokumente, die mir wichtig zu sein schienen, ließ ich fotokopieren, um sie zu Hause in Ruhe lesen und auswerten zu können.

Ich ordnete zunächst alle Listen, die mit Namentliche Aufstellung der Häftlinge des Arbeitslagers Kochem, bei einer Liste heißt es … des Arbeitslagers Kochem-Bruttig, überschrieben sind, nach ihrem Datum. Die übrigen Dokumente heftete ich ebenfalls chronologisch hintereinander ab. Die ältesten vorn, die jüngsten hinten. Leider musste ich dabei feststellen, dass sie keineswegs vollständig waren, so dass Schlussfolgerungen, zum Beispiel über die jeweilige Zahl von Häftlingen zu einem bestimmten Zeitpunkt, nicht immer möglich waren. Die vorliegende Korrespondenz aus dem Jahr 1944 bewegte sich ausschließlich zwischen Natzweiler und der Lagerkommandantur Kochem, nie zwischen Natzweiler und Bruttig oder Treis. Deswegen war es schwierig, genau zu klären, welche Häftlinge sich in Bruttig und welche sich in Treis befunden hatten.

Es brachte mich Anfangs durcheinander, dass mal von Kochem, damals mit K geschrieben, mal von Bruttig, mal von Treis die Rede war. Das Außenlager wurde vom sogenannten Stammlager Natzweiler als Außenkommando Kochem bezeichnet. Dieses unterteilte sich in die Nebenlager Bruttig und Treis. Alle Angaben, die in den Dokumenten zu finden sind, beziehen sich also auf beide Nebenlager. Außenkommando Kochem war mehr oder weniger die verwaltungsmäßige Bezeichnung. Ein Häftlingslager wie in Bruttig und Treis hat es in der Stadt Cochem nicht gegeben. Aber der SS-Führungsstab, dem die Gesamtleitung des Projektes A7 oblag und die SS-Bauleitung hatten ihren Sitz in Cochem. Ihre Unterkünfte befanden sich im Cochemer Hotel Germania, ihre Büros gleich daneben im Haus Steuer.

 

Anfang Februar 1944 begannen die Alliierten mit der intensiven Bombardierung der Industrieanlagen, in denen für die deutsche Luftfahrt gearbeitet wurde. Auch die Bosch-Werke in Feuerbach wurden am 21. Februar 1944 durch einen Luftangriff schwer getroffen. Die verheerenden Zerstörungen der Anlagen und der nur verminderte Fortgang der Luftwaffenrüstung veranlassten die Reichsführung zu einem entscheidenden Schritt, der zu einem der größten Rüstungsanstrengungen des Dritten Reiches wurde. Die Anlagen der Luftwaffenindustrie mussten entweder dezentralisiert oder bombensicher untergebracht werden. Die Verlagerung in unterirdische Stollen, Tunnelanlagen, Bergwerke und Steinbrüche wurde in Erwägung gezogen. Damit diese Vorhaben schnell und unbürokratisch umgesetzt werden konnten, wurde durch einen Erlass Görings vom 1. März 1944 beim Rüstungsministerium der sogenannte Jägerstab gegründet. Ihm gehörten Offiziere der Luftwaffe, Vertreter der in der Luftwaffenrüstung bedeutenden Unternehmen, sowie Vertreter von Zulieferbetrieben an. Sie sollten mit dem Ziel zusammenarbeiten, unter allen Umständen die Flugzeugproduktion zu steigern.

In einer seiner ersten Sitzungen legte der Jägerstab bereits fest, mehr als zwanzig Großfabriken unterirdisch zu errichten. Dem SS-Gruppenführer und SS-Generalleutnant Dr. Ing. Hans Kammler wurde der Auftrag zum Ausbau der unterirdischen Räume erteilt. Er war bereits Chef einer Amtsgruppe im SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA). In dieser Eigenschaft hatte er auch die Krematorien in Auschwitz gebaut. Ab dem 4. März 1944 war Hans Kammler Mitglied des Jägerstabs und zuständig für sogenannte Sonderbauaufträge. Er verfasste am 16. März 1944 die Zusammenstellung der wesentlichen Voraussetzungen für die Durchführung der A-Vorhaben, des Sofortprogramms für bombensichere Unterbringung der Jägerindustrie.

Als A-Vorhaben wurde ein Teil der unterirdischen Bauvorhaben bezeichnet. Der Reichsbahntunnel Treis-Bruttig wurde zum Bauvorhaben A7. Dessen Ausbau war eines der ehrgeizigsten Projekte des SS Generals Hans Kammler.

Der Tunnel zwischen Bruttig und Treis bot eine Nutzfläche von insgesamt 21.000 Quadratmetern. Für den weiteren Ausbau der Röhre veranschlagte Kammler gigantische Mengen von Baustoffen: 505 Tonnen Baueisen, 275 Tonnen Maschineneisen, 145 Festmeter Rundholz, 610 Kubikmeter Schnittholz, 1500 Tonnen (!) Zement und 200.000 Ziegelsteine. Das Gesamtbauvolumen betrug dreieinhalb Millionen Reichsmark. Die Durchführung der Bauplanung, sowie die Bauleitung wurden dem Architekturbüro Heese in Berlin und dort federführend dem Dipl. Ing. Remagen übertragen. Die ausführende Baufirma war die Firma FIX aus Dernau gewesen. Der Reichsbahntunnel wurde der Firma BOSCH in Stuttgart zur Fertigung von Zubehör für Flugzeugmotoren zur Verfügung gestellt. Sie agierte in Cochem unter dem Tarnnamen Widu GmbH.9

9 Quelle: Johannes Bähr, Paul Erker: Bosch. Geschichte eines Weltunternehmens, Seite 213, C. H. Beck Verlag, München 2013

Ein großes Problem stellte jedoch zunächst die mangelhafte Zahl an Arbeitskräften dar, die diese umfangreichen Großprojekte realisieren sollten. Doch Göring bestimmte in seinem Erlass vom 4.3.1944, dass der Reichsführer SS Himmler Schutzhäftlinge, damit meinte er KZ-Häftlinge, als Hilfskräfte für Bau und Fertigung zur Verfügung zu stellen habe. Die SS bot sich daraufhin auch bereitwillig an, zu Genüge Arbeitskräfte zu liefern. Die Konzentrationslager boten hier eine scheinbar unerschöpfliche Quelle für Menschenmaterial. KZ-Häftlinge wurden also zum Arbeitseinsatz herangezogen und dort für die deutsche Rüstungsproduktion verschlissen. Von den jeweiligen Betriebsleitungen der unter die Erde verlagerten Industriefirmen wurde der massenhafte Einsatz von KZ-Häftlingen als durch den Krieg bedingte Notwendigkeit akzeptiert. Sie bedienten sich ohne jede Zurückhaltung.

Der Führungsstab des Projektes A7, Reichsbahntunnel Bruttig-Treis, setzte sich ab Anfang März wie folgt zusammen:

Die Leitung hatte ein SS-Obersturmführer O. Meyer. Zweiter Führer war SS-Untersturmführer Karl-Heinz Burckhard, der speziell den Auftrag hatte, die Baustelle im Tunnel Bruttig-Treis zu überwachen. Unterführer waren ein Wachtmeister Funke und der SS-Mann Felder. Führer der Amtsgruppe D war der SS-Obersturmführer Rudolf Beer, zuweilen auch Bär geschrieben. Der SS-Sturmscharführer und Kreissekretär Friedrich Schulze von der Gestapo in Koblenz war mit den sogenannten sicherheitsdienstlichen Aufgaben betraut. Als Energiesachbearbeiter war ein Regierungs-Baurat Prieur tätig. Die Hochbauaufsicht hatte ein Regierungs-Bauassistent Bräuer.

Die Besetzung des SS-Führungsstabes in Cochem änderte sich jedoch im Laufe der nächsten Monate. Schon Anfang Mai 1944 hatte der SS Hauptsturmführer Gerrit Oldeboershuis, genannt Oldenbuhr, die Leitung des Führungsstabes übernommen. Oldeboershuis tanzte scheinbar auf allen Hochzeiten. Er war gleichzeitig Leiter der SS Sonderinspektion III in Bad Wimpfen am Neckar. Bei Kriegsende war er als Lagerkommandant des KZ-Außenlagers in Ohrdruf in Thüringen tätig, wo das unterirdische Führerhauptquartier gebaut werden sollte. Dort hatte er kurz vor Ende des Krieges eine telefonische Unterredung mit Himmler, bei der dieser ihm anheimstellte, alle BVer (KZ-Häftlinge, bezeichnet mit BV = Befristete Vorbeugehaft bzw. Berufsverbrecher) und für besonders gefährlich erachtete politische Häftlinge zu beseitigen. Wenig später hat dann auch tatsächlich ein Todesmarsch von Ohrdruf nach Buchenwald stattgefunden, bei dem Häftlinge massenhaft den Tod fanden. Ursache waren Erschöpfung und Erschießungen. Andere wurden erschlagen oder hilflos ihrem Schicksal überlassen.

Der Hauptverantwortliche der Konzentrationslager in Bruttig und Treis war der Kommandoführer. Ihm oblagen sämtliche Häftlingsangelegenheiten wie Unterbringung, Verpflegung, Bekleidung, gesundheitliche Betreuung, Disziplinarmaßnahmen, Bereitstellung zum Arbeitseinsatz, Bewachung der Häftlinge. Für die Bewachung stand ein Luftwaffen-Wachkommando unter der Leitung des Hauptmanns Rückert zur Verfügung. Die Funktion des Kommandoführers wurde nacheinander durch SS-Obersturmführer Rudolf Beer, SS-Obersturmführer Walter Scheffe und SS-Untersturmführer Heinrich Wicker ausgeübt. Der Arbeitseinsatz der Häftlinge unterstand dem SS-Führungsstab, dessen Büro sich in Bruttig, Am Kirchweg, in den Räumen des Gasthauses Treffpunkt der Familie Hess befand.

Zu dem Schicksal des Kommandoführers Rudolf Beer ist mir, nachdem er das Kommando in Cochem abgeben musste, nichts bekannt.

Walter Scheffe, der die Hauptverantwortung für die Verbrechen in Bruttig-Treis trug, wurde nach dem Krieg im Rastatt-Prozeß zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde in einem späteren Verfahren am 8.11.1947 in 15 Jahre Zwangsarbeit umgewandelt. Bereits am 9.7.1956 wurde Walter Scheffe durch Gnadenerweis aus der Haft entlassen.

Ein Sonderbefehl des Kommandanten des KZ Natzweiler vom 26.9.1944 stellte fest, dass Heinrich Wicker ab sofort als Kompanieführer der 10. Kompanie eingesetzt werden und zur besonderen Verfügung stehen soll. Wickers Funktion in Cochem war zu diesem Zeitpunkt also bereits beendet.

Am 13. und 14. April 1944 tagte in Berlin der Arbeitsstab des Reichsministeriums für Rüstung und Kriegsproduktion. Haupttagungspunkt war die Unterirdische Verlagerung. Die sogenannten U-Bauvorhaben, U stand für unterirdisch, gingen insgesamt nicht so zügig voran, wie man sich das vorgestellt und erhofft hatte. Bei vielen Projekten gab es Probleme. So konnten in Nordhausen beispielsweise 6000 Quadratmeter unterirdischer Fabrikraum nicht zur Verfügung gestellt werden, obwohl sie bereits fest eingeplant waren. Die Seengrotte Mödling und der Keller Nußdorf stellten sich für die Vorhaben als ungeeignet heraus. Bezüglich des Felsenkellers Dresden konnte jedoch festgestellt werden: Bauarbeiten kurz vor der Fertigstellung. Über das Projekt A7, Reichsbahntunnel Bruttig-Treis heißt es in einer Niederschrift vom 17. April 1944 kurz: Bauarbeiten laufen.