LENA HALBERG - NEW YORK '01

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Er spähte vorsichtig auf die Überwachungskamera, die den Eingang überwachte, aber auch diese lief nicht. Gleich im vorderen Bereich war der zentrale Kommunikationsraum – die Geräte liefen noch. Hawk wählte seine eigene Nummer in Washington. Die Verbindung klappte ohne Verzögerung. Drei Minuten später war das Dokument als Fax durch und er verließ ungesehen das CIA-Büro.

Nachdem die Papiere in Palmers Archivraum wieder eingeordnet waren, sah er auf die Uhr. Es war gleich zehn, die Suche und die Aktion beim CIA hatten doch über eine halbe Stunde gedauert. Es war also Zeit auf die Straße zu kommen. Falls er Palmer unten noch treffen sollte, würde er sagen, er habe sich in dem Wirbel verlaufen.

Eigentlich schade, dachte er und ließ den Blick über die Ordnerreihen gleiten, denn hier gäbe es noch so vieles, was er sich gerne angesehen hätte.

Im gleichen Augenblick spürte Hawk ein gewaltiges Zittern, das durch das Bauwerk lief. Er dachte zuerst an ein Erdbeben, als er sich aber umdrehte traute er seinen Augen nicht. In einer unheimlichen Wolke aus Schutt und Staub fiel einer der beiden Türme der Twin Towers wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Das Beben der gewaltigen Bewegung dieses Zusammenbruchs wurde begleitet von einem plötzlichen Rauschen, wie ein Wasserfall, der in Kaskaden eine Felswand hinunterstürzt.

Hawk taumelte förmlich zu der Fensterwand und konnte den Blick lange Minuten nicht von dem Geschehen wenden. Es war genau wie damals, vor vielen Jahren in Warschau – das Feuer, der dunkle Himmel, die Angst der Menschen.

Erst nach einer Weile ließen ihn die Gedanken los und er kehrte abrupt in die Gegenwart zurück. Hinaus, dachte er, hinaus aus diesem Gebäude. Vergessen war seine Neugierde, in Palmers Dokumenten zu stöbern. Er wollte nur mehr weg von hier.

Er verließ das Büro und lief den Gang entlang zur Treppe. Der Lift war abgestellt und man sollte bei einer Krise niemals Aufzüge benutzen. Inständig hoffte er, dass die einzelnen Etagen keinen Brandschutz hätten, der jedes Stockwerk nach der Evakuierung mit feuerhemmenden Toren hermetisch abriegelte. Er drückte auf den Öffnungsmechanismus und atmete auf – die Tür zum Treppenhaus sprang auf. Während er hinunterlief überlegte er, dass es vorerst das Beste wäre in die Katastrophenzentrale der Stadt zu gehen, diese lag nur zwei Stockwerke tiefer. Dort sollte noch alles funktionieren und es gab das Office for Emergency Management, was nichts anderes war, als ein Bunkerraum, der Sicherheit bot. Auch die neuesten Informationen über das Geschehen würde man dort erhalten.

»Hallo?« Seine Stimme hallte durch die Zimmer des Krisenstabes, als Hawk vom Korridor aus hineinrief.

Stille.

Die Räume waren leer, verlassen wie das übrige Haus.

»Das gibt’s doch nicht …«, murmelte Hawk betroffen.

Hier war die Einsatzzentrale für Katastrophen und Notfälle der Stadt New York – und sie war geschlossen? Wo waren die Ansprechpersonen, wohin konnten sich die Leute jetzt noch wenden? Draußen geschah eine Tragödie, das World Trade Center begrub tausende Menschen unter seinen Trümmern und hier war niemand, um Hilfe zu schicken oder Einsatzkräfte zu koordinieren.

»Wann hat es das je gegeben«, stammelte Hawk, »dass eine Notfallzentrale bei einem Notfall als erstes geschlossen wird?«

Irgendwas war hier im Gange. In großer Hast lief er zurück zur Treppe und weiter hinunter. Im sechzehnten Stockwerk glaubte er Stimmen zu hören, dachte zuerst an einen Irrtum und ging weiter. Zwei Etagen darunter bemerkte er es wieder, diesmal ganz deutlich – da redete jemand. Hawk konnte nicht verstehen was gesprochen wurde, nur dass die Antworten über ein Funkgerät kamen. Er stieß die Tür zum Korridor auf. Die Stimmen kamen von den Liften her. Sollte jemand eingeschlossen sein?

Hawk bog um die Ecke und sah, dass beide Lifttüren offen standen und mit einer Metallstange verspreizt waren. Seltsam, dachte er und ging vorsichtig näher.

»Wie lange werdet ihr da noch brauchen?« kam es gerade aus dem Funkgerät.

»Etwa zehn Minuten, dann sind wir fertig und kümmern uns dann um den dreizehnten Stock«, antwortete eine männliche Stimme im Liftschacht. »Wie schaut es mit der Evakuierung aus?«

»Ist okay«, kam es zurück, »das Hochhaus ist oben komplett leer, ihr habt also Ruhe.«

»Und unten im Tiefgeschoß?«

»Da sind noch einige Leute aus den Firmen. Da fangen wir erst an, sobald alle weg sind. Bis dahin müssten dann auch die Wagen mit dem Material da sein.«

Hawk kam das ziemlich seltsam vor und er wollte in den Liftschacht hinuntersehen, wer hier arbeitete.

»Was zum Teufel machen Sie hier?«, sagte eine unfreundliche Stimme im gleichen Augenblick.

Hawk fuhr herum. Hinter ihm stand ein kleiner, kräftiger Mann mit rotblonden, längeren Haaren in einem grauen Overall mit silbernen Streifen auf den Schulterklappen und einem Emblem in Form eines Wappens auf der Brusttasche. Dazu trug er ein dunkelrotes Barett mit einem Abzeichen. Hawk erinnerte sich später, dass die Sachen neu und ungetragen aussahen und auf ihn nicht wie eine Arbeitsuniform, sondern eher wie ein Kostüm wirkten.

»Das müsste ich Sie fragen!«, konterte er deshalb geistesgegenwärtig. »Ich bin ein Mitarbeiter der Regierung! Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Wir sind vom externen Sicherheitsdienst, der für dieses Objekt und dessen Evakuierung zuständig ist. Hier zählt im Ausnahmefall nur was wir sagen. Also machen Sie, dass Sie rauskommen!«

Er nahm eine drohende Haltung ein und wies mit der Hand zum Treppenhaus.

»Wenn Sie mich einschüchtern wollen, sind Sie an den Falschen geraten«, sagte Hawk nun ebenfalls scharf und richtete sich in voller Größe auf. »Ich möchte wissen, was Sie hier tun und wer für die Arbeiten zuständig ist.«

Bevor der Rotblonde noch etwas erwidern konnte, stieg der Mann, der im Lift gearbeitet und die Diskussion mitgehört hatte, aus dem Schacht. Er trug die gleiche graue Uniform, war mindestens so groß wie Hawk, aber um vieles kräftiger.

»Das hat alles seine Ordnung. Wir sichern hier die Liftanlagen des Hauses«, sagte er mit aggressivem Unterton, »also verschwinden Sie!«

Hawk sah, dass er gegen die beiden nichts ausrichten konnte. Er drehte sich mit einem Achselzucken um und ging zurück zur Treppe. Sollten die doch machen was sie wollten, dachte er, in dem leeren Haus können sie zumindest keinen Schaden anrichten.

Als Hawk auf der untersten Etage in die große Main Lobby hinauslief, sah er, dass auch hier bereits alles leergeräumt war. Die Halle lag im Halbdunkel, nur das Notlicht brannte und warf ein blaugrünes unwirkliches Licht auf die Szenerie. Erst jetzt bemerkte Hawk, dass eine Sirene unablässig durch das ganze Haus tönte, deren Ton bis in sein Gehirn pulsierte. Der Boden war voll Schutt und hinter der langen Empfangstheke, wo sich sonst zwanzig Clerks um die Anliegen der Besucher kümmerten, stand nur einer von jenen in der grauen Uniform und hantierte an einem Schaltkasten herum. Hawk fiel der Mann überhaupt nur auf, weil er sich wegen des Staubs eine knallgelbe, durchsichtige Einkaufstüte über den Kopf gestülpt hatte, deren fröhliche Farbe unpassend wirkte.

Am Fuße der langen Doppelrolltreppen versuchten zwei Sanitäter einen blutüberströmten Mann auf eine Trage zu heben, der eine klaffende Wunde über Hals und Brust hatte. Er war von dem herabfallenden Lichtkasten getroffen worden, der zerstört daneben am Boden lag. Der Mann wimmerte leise als sie ihn anhoben.

Die großen Glastüren des Gebäudes, die in der Eingangshalle drei Etagen hoch waren, standen weit offen – einige waren zersplittert, die meisten dagegen intakt. Überhaupt wirkte das Bauwerk ziemlich unversehrt und Hawk wunderte sich, warum man befohlen hatte, es zu evakuieren. Es wäre besser gewesen, es für Schutzsuchende offen zu lassen. Vor einem der Eingänge rollte scheppernd ein halber, zersprungener Behälter eines Trinkwasserspenders. Hawk, der sich im Laufen umschaute, ob jemand Hilfe benötige, stolperte darüber und konnte sich nur im letzten Augenblick an einem Pfeiler abfangen.

Endlich auf der Straße angelangt, versuchte er zwischen den Menschen, die ziellos durcheinanderliefen oder durch die Druckwelle verletzt am Rand lagen, Palmer zu finden – vergeblich.

Auch hier vor dem Haus war alles übersät mit kleinen und größeren Betonbrocken. Viele Dächer der parkenden Fahrzeuge waren dadurch zerbeult oder eingedrückt, dazwischen Glasscherben und Staub – überall Staub. Er deckte die Dinge so gleichmäßig mit einer hellen Schicht ab, dass man meinen konnte, es wäre frisch gefallener Schnee. In der Luft schwebte Rauch so dicht, dass der Himmel nur eine dunkelgraue Suppe war und die oberen Stockwerke der umstehenden Häuser wie im Nebel verschwanden. Von irgendwoher fielen unablässig Bündel von Papier herunter: Aktenblätter, Briefe, Rechnungen, Computerausdrucke. Hawk kam es vor, als würde ein riesiger Papierkorb über ihm ausgeleert. Ein bunter Zettel flatterte direkt vor sein Gesicht – es war eine Ansichtskarte. Er wischte sie mit einer beiläufigen Geste weg und sah dabei kurz in die Augen einer jungen Frau, die in einem rosa Bikini an irgendeinem Strand dem Fotografen zuwinkte.

Er lief weiter, wollte in Richtung der Twin Towers, um falls möglich zu helfen; ständig begleitet vom Dröhnen der Einsatzhubschrauber, die über dem Platz kreisten. Zwei brennende Fahrzeuge standen verlassen mitten in einem Seitenweg, eines davon ein Schulbus. Entlang der Straße versorgten Rettungskräfte die Verletzten. Bei einigen hatten sie aufgegeben, sie lagen tot daneben, manche waren nicht einmal zugedeckt. Hawk musste immer wieder blutigen Schuhen oder Taschen ausweichen, die verstreut am Gehsteig lagen.

Zwei Männer von der WTC-Security kamen ihm entgegen, sie trugen dicke blaue Schutzkleidung und hatten schwarze Kunststoffhelme am Kopf. Einer rief Hawk zu, er möge schleunigst umdrehen und zum nächsten Straßenzug hinter die Anlage gehen, dort wäre Schutz und hier könne man nichts mehr tun. Hawk verstand nicht warum, sah aber ein, dass er ohne Schutzkleidung wenig ausrichten würde. Er drehte also um und lief in die Gegenrichtung, dabei wunderte er sich, dass die beiden ebenfalls vom Geschehen wegliefen, statt dort das Gelände zu sichern.

 

An der Ecke taumelte eine ältere Frau auf die Fahrbahn, ihr Gesicht war durch den Schmutz weiß und ihr ganzer Körper wie mit Puder überzogen. Sie wirkte auf Hawk wie einer der bemalten Eingeborenen in Fotobänden aus Neuguinea. Sie stützte sich auf die parkenden Fahrzeuge und schrie markerschütternd, nur übertönt von einer durchdringenden Sirene, die sich von hinten näherte. Die beiden Securitys rannten achtlos an ihr vorbei. Instinktiv fasste Hawk die Alte am Arm und riss sie zwischen zwei parkende Autos. Keinen Augenblick zu früh, denn ein Löschfahrzeug der Feuerwehr raste um die Kurve, dicht an ihnen vorbei und zog eine dunkle Wand aus aufgewühltem Dreck hinter sich her. Hawk wollte der Frau aufhelfen, sie aber stieß ihn von sich und schrie weiter, schrie unablässig einen Namen. Er konnte nichts für sie machen, anscheinend hörte sie ihn nicht einmal, so sehr war sie in ihrem Schmerz gefangen.

Hawk schleppte sich vor zur Nebenstraße. Das Atmen fiel schwer, so verdreckt war die Luft. Er presste ein Taschentuch vor sein Gesicht, damit ging es etwas besser. Dann lief er weiter an die Seite des Glasturms in die nächste Straße, die etwas Schutz bot. Er lehnte sich kurz an die Wand, um Kräfte zu sammeln.

Eine Wand, die den Tag nicht überleben würde. Denn oben schlugen bereits Flammen aus den geborstenen Fensterflächen und wenige Stunden später, kurz nach fünf Uhr nachmittags, würde auch Block 7, das elegante, schwarz verglaste Hochhaus auf der Anlage des World Trade Centers in sich zusammenbrechen. Die wirklichen Umstände, die dazu führten, sollten nie restlos geklärt werden. Es begrub nicht nur das Archiv Palmers mit den CIA-Memos unter sich, sondern auch die Unterlagen der Steuerbehörde und der amerikanischen Börsenaufsicht.

Und dann würde der Präsident vor die Fernsehkameras treten und die Welt auffordern, sich am Kampf gegen den Terror zu beteiligen, denn wer jetzt nicht an der Seite Amerikas stand, war ein Feind.

Doch das wusste Hawk alles noch nicht, als er völlig erschöpft einige Blocks weiter an der Kreuzung von Chambers und Church stehenblieb und zurück auf das Trümmerfeld schaute. Er wusste nur, er hatte so etwas schon gesehen, in Warschau, in Vietnam, in Kuwait – so sah Krieg aus.

Heute

1

Die Abendbeleuchtung auf der Wiener Ringstraße brannte bereits, obwohl der Himmel noch hell war. Das Zwielicht gab den Prunkbauten entlang der breiten Allee ein besonderes Flair. Hier wechselten alte Palais aus der Kaiserzeit, berühmte Museen und weitläufige Parks mit Bronzestatuen einander ab – so als wäre die Zeit stehengeblieben.

Lena und Niels saßen im Freien unter blühenden Kastanienbäumen vor einem der vielen Straßenkaffees in der Nähe des berühmten Burgtheaters und löffelten Eiskaffee mit einer süßen Haube aus Schlagsahne. Der Abend dieses späten Maitages war angenehm warm und Lena genoss nach den Ereignissen der letzten Wochen die Ruhe und die Wärme der untergehenden Sonne auf ihrer Stirn. Sie hatte den Kopf auf die hohe Sessellehne gelehnt und schien eingenickt zu sein. Tatsächlich aber sah sie Niels hinter ihrer verspiegelten Sonnenbrille von der Seite an.

Sie hätte nie gedacht, dass man sich in einen Menschen, den man eine Ewigkeit als Freund kannte, noch so verlieben konnte. Immerhin war Niels derjenige gewesen, bei dem sie sich in den letzten Jahren die Probleme mit diversen Liebhabern von der Seele geredet hatte und der ihr daraufhin einen verständnisvollen Rat gab. Dann packten sie ihre beiden Motorräder und tobten über die englischen Küstenstraßen; eine Leidenschaft die Lena nur mit Niels richtig ausleben konnte. Die engen Kurven fraßen den Frust der beiden förmlich in den Asphalt hinein – ihren, weil eine Beziehung wieder einmal nicht klappte und seinen, weil er keine mit ihr hatte.

Das änderte sich vor einer Woche schlagartig. Niels war der einzige, der sich damals Sorgen um Lena machte, also war er auf seine Suzuki gesprungen, die Strecke von London in einem Zug durchgefahren und überraschend in Italien aufgetaucht.

Als sich die Aufregungen rund um die Verhaftung des korrupten Senators Prow gelegt hatten, beschlossen Niels und Lena, sich eine Auszeit zu gönnen und Lena wollte schon immer einmal nach Wien. Also packten sie alles auf seine Maschine und fuhren her. Es war ohnehin nur für ein paar Tage, da Niels wegen der Recherche an einer Story für den Guardian bald wieder nach London zurück musste.

Auf der Fahrt nach Wien wusste sie dann, dass sie von nun an mit ihm zusammen sein wollte und während er das Motorrad in der Einfahrt des kleinen Hotels unterstellte, nahm sie bei der Rezeption ein Doppelzimmer.

Jetzt saß er neben ihr, als wäre das schon ewig so gewesen, schlürfte vom Eiskaffee und blätterte den Packen an Zeitungen durch, den er mittags am Bahnhof besorgt hatte. Zwischendurch musterte er sie öfters mit einem Seitenblick, dabei murmelte undeutlich etwas wie: »Da bin ich ja mit einer richtigen Berühmtheit …«

Lena musste lachen. Sie richtete sich auf und schob die Brille ins Haar.

»Also zeig her, sonst platz ich noch vor Neugierde …«

Sie nahm Niels das Magazin aus der Hand und blätterte zu dem Artikel, über dem sich ein Bild von ihr befand – ein wirklich schlechtes, wie Lena fand. Daneben stand fettgedruckt die Headline: GEHEIMER WAFFENDEAL AUFGEDECKT!

»Wo die nur solche Fotos her haben?«, meinte sie kopfschüttelnd und las.

Die bekannte Journalistin Lena Halberg deckte letzte Woche die illegale Lieferung eines schon seit langem verbotenen Kampfstoffes nach Kolumbien auf.

Verwickelt in die Affäre ist unter anderem US-Senator Prow, der auch als Lobbyist für den Rüstungskonzern des Industriellen Arthur Bronsteen tätig ist. Senator Prow hat sich zu dem Korruptionsverdacht und den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen bekannt und bereits ein erstes Geständnis abgelegt.

Arthur Bronsteen verwehrte sich in einer Reaktion der Presse gegenüber entschieden gegen Gerüchte, die sein Unternehmen oder seine Stiftung mit den Geschäften des Senators in Verbindung bringen. Er verwies auch ausdrücklich darauf, dass sein hauseigenes Medium ‘Eagle News’ den Fall im Sinne einer politischen Transparenz an die Öffentlichkeit gebracht hat. Er endete mit einem Dank an die Mitarbeiterin für ihren Einsatz im Kampf gegen Korruption.

Ein Zusammenhang mit dem Unfalltod eines amerikanischen Diplomaten in Südtirol konnte bislang nicht ….

»Eines amerikanischen Diplomaten, dass ich nicht lache, eine höfliche Umschreibung für einen Killer der CIA. Und der große Bronsteen putzt sich natürlich ab. Er, der Wohltäter der Gesellschaft, dankt mir sogar dafür. Das ist ein starkes Stück.« Lena ließ verärgert, aber doch auch stolz über die Anerkennung, das Magazin sinken. »Aber es war klar, dass sie das meiste unter den Tisch kehren. Da war nichts anderes zu erwarten.«

»Und, kannst du damit abschließen?« Niels sah Lena fragend an.

»So halb und halb – immerhin hat es mit Prow einen der wichtigen Drahtzieher erwischt. Besser würde ich mich fühlen, wenn sie alle dafür büßen müssten.« Sie trank den Kaffee aus und holte mit dem Löffel die letzten Reste Vanilleeis aus dem Glasbecher. »Deshalb …«

»Deshalb?«

»Deshalb geht mir Prows Überweisung im Auftrag Bronsteens nicht aus dem Kopf.«

»Sag bloß, du hast den Ausdruck mitgenommen!«

»Klar, was denkst du denn?«

Lena griff in ihre Tasche nach dem Kontoauszug, den sie im Zuge der letzten Recherchen gegen Prow von dessen Computer herunterladen konnte. Darauf befand sich eine unscheinbare Überweisung an ein Hilfsprojekt für Kleinbauern in Kolumbien, das Bronsteen mit großer Geste über seine Stiftung finanzierte, nachdem er vorher – gemeinsam mit der CIA und unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Drogenkartelle – das Land ins Chaos gestürzt hatte.

Die Gelder an die Bauernkooperative in der Nähe von Bogotá liefen offiziell über Prows Büro. In der Liste der Zahlungen fand Lena aber auch einen handschriftlichen Vermerk von ihm. Dort stand: Überweisung für Eißendorf.

»Ich weiß, was du vermutest«, nickte Niels, »Eißendorf ist der Vorort von Hamburg, wo ein Terrorist der Anschläge vom elften September gewohnt hat. Glaubst du, dass Bronsteen so verrückt ist, ein derartiges Attentat zu finanzieren …?«

»Bei Bronsteen kann ich mir alles vorstellen!« fuhr Lena dazwischen.

»Und dabei so dumm ist, einen mittelmäßigen Politiker und Lobbyisten wie Prow in die Sache einzubinden?«

Lena starrte vor sich hin – Niels’ Argument war nicht von der Hand zu weisen. Bronsteen war hochintelligent und wenn er etwas in dieser Dimension geplant haben sollte, schien es unwahrscheinlich, dass jemand wie Prow eingeweiht war.

»Hör auf zu grübeln, wir müssen uns umziehen gehen, wenn wir rechtzeitig in der Oper sein wollen«, sagte Niels und zog Lena hoch, um sie auf andere Gedanken zu bringen.

Das Taxi hielt vor der Wiener Oper. Niels trug ein schwarzes langes Sakko, eine dezente Nadelstreifhose und dazu ein dunkles Halstuch. Für ihn ganz ungewohnt, denn normalerweise liebte er seine legeren Lederjacken. Lena überlegte, ob sie ihn je so elegant gesehen hatte. Aber auch Niels konnte seine Augen nicht von Lena lassen. Mit ihren blonden Strähnchen in den kurzen Haaren und dem neuen dunkelblauen Kleid mit dem tiefen Ausschnitt, das sie an allen Stellen perfekt ausfüllte, sah sie einfach hinreißend aus. Da sie nur mit ihren Rucksäcken und ohne Garderobe nach Wien gekommen waren, gingen sie am Vortag ausgiebig in der Kärntnerstraße, der mondänen Wiener Einkaufsmeile, shoppen und Lena war danach noch beim Frisör.

Sie kamen gerade rechtzeitig zu der Vorstellung, für die Niels Karten besorgt und Lena damit überrascht hatte. Man spielte Boris Godunow von Mussorgski nach einem Drama von Puschkin. Ein bedeutendes Stück über die Verlockungen der Macht und die Ohnmacht des Volkes, in der ein Betrüger die Armut des Volkes nutzt, um sich mit falschen Versprechungen die Gunst der Menge zu erschleichen. Niels meinte scherzhaft, der Stoff würde auch auf heutige Politiker gut passen.

Obwohl seine Mutter italienische Großeltern hatte, machte sich Niels weniger aus Opern, überhaupt aus russischen, die vier Stunden dauerten. Doch Lena liebte diese Musik und für sie nahm er das gerne in Kauf. Außerdem sollte man die Gelegenheit nutzen, wenn man in Wien war und eines der berühmtesten Opernhäuser der Welt besuchen konnte.

Zu seiner eigenen Überraschung verging die Zeit recht schnell und er ertappte sich dabei, die Musik mitreißend zu empfinden. Vor allem die großen Chöre, überlegte er, wären ein perfekter Sound in den Kopfhörern am Motorrad bei vollem Speed auf einer schnurgeraden Straße.

Für einen stilvollen Ausklang nach der Vorstellung hatte ihnen der Taxifahrer eine kleine entzückende Sektbar ganz in der Nähe der Oper empfohlen. So wanderten sie dann die wenigen Schritte durch die Innenstadt zu Fuß zu dem Lokal.

Niels legte Lena sein Sakko über die Schultern, da es für das zarte Kleid doch noch ein wenig zu frisch war. Er freute sich über den gelungenen Abend und betrachtete im Vorbeigehen die beleuchteten Auslagen entlang des Weges. Lena hingegen war wieder in ihre Überlegungen verstrickt. Als sie schließlich im Wintergarten der Bar saßen, platzte sie damit heraus.

»Du hattest recht, dass es in dem Stück so läuft wie in der Politik. Manchmal dauert es lange bis die Wahrheit ans Licht kommt. Aber der alte Zar hat auch geglaubt, er kann seinem Schicksal entkommen und nicht mit dessen Hartnäckigkeit gerechnet.«

»Da hat das Schicksal was von dir«, nickte Niels heiter und bestellte zwei Glas Champagner.

»Mir geht das nicht aus dem Kopf. Es wird immer einen geben, der die Leute täuscht, um sie für seine Zwecke auszunutzen«, fuhr sie fort, ohne auf seine Bemerkung einzugehen, »und vielleicht bin ich da wie der Narr in der Oper, der als einziger spürt, was nicht stimmt. Verstehst du das?«

 

»Ja, leider. Du wirst der Sache mit der Überweisung nachgehen und dich wieder mit diesen Leuten anlegen.«

»Ich kann einfach nicht aufgeben«, sagte sie leise.

Eine Weile schauten sie still in die Sektgläser. Niels wäre wohler gewesen, sie von dem Thema abzubringen. Nur er kannte Lena und wusste, dass es zwecklos war. Deshalb war sie Journalistin geworden, deshalb war sie erfolgreich und deshalb liebte er sie schließlich auch.

»Okay, ich stehe hinter dir, wenn du mich brauchst, das weißt du. Aber wie willst du es anstellen? Zu Bronsteen gehen und sagen: Dürfte ich Sie noch fragen, ob Sie das World Trade Center zerstört haben?«, versuchte er die Stimmung wieder etwas aufzulockern.

»Die Frage gefällt mir gut«, konterte Lena nun schmunzelnd, »aber ich geh damit nicht zu Bronsteen …«

»Sondern?« Niels schluckte, da er ahnte was kommen würde.

»Sondern zu Prow!«

»Ich hab es befürchtet. Nur der sitzt noch beim FBI, das wird nicht einfach sein, denn Reporter haben da keinen Zutritt.«

»Außer sie haben dich zum Freund!«

»Also gut, ich versuche es …«

Niels wusste, worauf Lena anspielte. Sammy, einer seiner besten und ältesten Kumpel, arbeitete als leitender Beamter bei der National Security Branch des FBI im Hauptquartier in Washington. Wenn es einer schaffte, für Lena eine Besuchserlaubnis zu erwirken, dann er.

»Das ginge«, sagte Sam dann auch sofort, nachdem ihn Niels um Mitternacht – in Washington war es erst beginnender Abend – privat erreichte. »Immerhin hat sie uns die Beweise für die Festnahme geliefert, da kann ich das sicher arrangieren. Allerdings muss das unter uns bleiben und veröffentlichen darf sie darüber nichts.«

»Nein, das will sie auch gar nicht, es geht lediglich um einige Fragen, die sie selbst noch hätte, um mit der Sache abschließen zu können.« Niels hielt die Hand aufs Handy, nickte in Richtung Lena, die vor dem Zimmer am Balkongeländer lehnte, und formte mit den Lippen: »Geht okay.«

»Sie muss sich aber beeilen«, kam es von der anderen Seite des Atlantiks durchs Telefon, »wir sind mit der Befragung fertig und der Senator wird demnächst zur CIA verlegt.«

»Zur CIA? Wieso das denn?«

»Die haben anscheinend noch eine Rechnung mit ihm offen. Er kommt zu einem Spezialteam nach Charleston zum Verhör wegen Weitergabe von staatlich sensiblen Daten.«

»Soll heißen?«

»Terror, Landesverrat, das ganz Programm …«

»Wird eng für ihn, nicht?«

»Kann sein. Also zwei Tage haben wir ihn noch hier, für länger kann ich nicht garantieren.«

»In Ordnung, wir schauen gleich morgen wegen eines Fluges und ich sag dir dann kurz Bescheid.«

Das Hotel lag etwas abseits der City in einer ruhigen Gegend an den sanften Hängen eines Weinberges. Wenn man auf den Platz vor dem Haus hinuntersah, fühlte man sich nicht wie in einer Großstadt, vielmehr glaubte man sich in ein Dorf versetzt – rundum einstöckige Winzerhäuser und in der Mitte eine Grünfläche mit Bänken und Brunnen. Hier pflegte man die Randbezirke mit dem nostalgischen Flair, auch wenn hinter den alten Fassaden moderne Einfamilienhäuser lagen. Als Niels und Lena nach Wien hineinfuhren, kamen sie an dem Hotel zufällig vorbei und entschieden sofort hierzubleiben.

Niels war schon früh auf und ging eine Runde joggen. Er liebte es in der ersten Sonne des Tages durch Straßen zu laufen, die erst langsam erwachten, und sog deren eigene Stimmung in sich auf: Lichter löschen langsam aus, Straßenkehrer fegen die vergangene Nacht von den Gehsteigen und Chauffeure stehen neben ihren Bussen und rauchen eine letzte Zigarette vor dem Dienst. Alle Städte haben das, bevor das urbane Leben wieder von ihnen Besitz nimmt und den Tag mit hektischem Treiben füllt.

In diesen Momenten konnte Niels frei und ungestört denken, ging im Geiste seine Recherchen durch oder plante die nächsten Schritte von Dingen, die ihn gerade beschäftigten. Heute waren seine Gedanken nur bei Lena – bei der letzten Nacht. Auch aus diesem Grund hätte er sich wohler gefühlt, wenn sie mit ihm zurück nach London gefahren wäre.

Während er seine Runden durch die Vorstadt zog, nahm Lena eine ausgiebige Dusche, um munter zu werden. Schlafen konnte sie nicht mehr – zu neu war ihre Beziehung, zu groß die Sehnsucht nach körperlicher Nähe, auf die sie beide so lange gewartet hatten. Mehrmals versuchten sie, sich ruhig aneinanderzuschmiegen und einzuschlafen, aber jedes Mal siegte am Ende die Lust. Sogar jetzt unter der Dusche spürte sie ihn noch in ihr und wäre sofort für eine Fortsetzung bereit gewesen.

Eine Stunde später trafen sie sich auf der Terrasse hinter dem Haus, wo für das Frühstück gedeckt war.

»Ich hab gerade gebucht«, sagte Lena und füllte den Teller mit Köstlichkeiten vom reichhaltigen Buffet. Nach langen Nächten mit Sex brauchte sie Unmengen zu essen um ihre Kräfte aufzufüllen.

»Und für wann?« Niels war nach dem Joggen noch ungeduscht und steckte in seiner Short. Gähnend ging er vor dem Buffet hin und her, nahm aber dann nur Kaffee und eine kleine Schüssel Erdbeeren mit Sahne. Er schüttelte den Kopf und grinste, als er Lenas Teller sah. »War ich tatsächlich so gut?«

Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und lachte laut auf. Früher war sie gelegentlich nach nächtlichen Streifzügen bei ihm aufgetaucht und die Menge, die sie aus seinem Kühlschrank entleerte, war der Gradmesser für die Qualität des Erlebten gewesen.

»Ich fliege morgen um sieben nach New York und dann zwei Stunden später weiter nach Washington. Durch die Zeitdifferenz bin ich aber bereits am frühen Nachmittag dort und schaff es bis vier zum FBI.«

»Und du bist sicher, dass du das wirklich willst? Du könntest es noch absagen.«

»Ich bin sicher, dass ich keine Ruhe fände, wenn ich dem nicht nachgehen würde. Vielleicht liegst du richtig und es steckt nichts dahinter oder es ist bedeutungslos, dann …«

»Dann?«

»Dann verspreche ich dir«, hob Lena die rechte Hand wie zum Schwur, »dass ich Bronsteen für alle Zeiten vergesse und mich nur mehr einfachen Society-Reportagen widme und London nie wieder verlasse.«

»Lügnerin!«, kicherte Niels.

Wie schnell Abschiedstage auch vergehen, dieser war der kürzeste. Sie saßen über eine Stunde beim Frühstück, gingen die mögliche Taktik für Lenas Treffen mit Prow durch, danach fuhren sie in die Innenstadt. Lena wollte Jeans, eine Umhängtasche für ihr Notebook und einen kleinen Koffer kaufen, um die Sachen für den Flug zu verstauen. Ihren Rucksack würde Niels mit nach London nehmen.

Davor schrieb sie noch eine Kündigungsmail an die Redaktion der Eagle News in London, denn eines stand fest, bei einem Medienunternehmen, das zu Bronsteens Konzern gehörte, wollte sie nicht mehr arbeiten.

Den Nachmittag und Abend verbrachten sie im Bett, um sich alles, was sie in den kommenden Tagen – der ersten Trennung ihrer neuen Beziehung – vermissen würden, schon im Voraus zu geben.

Am nächsten Morgen im Taxi, auf der Fahrt zum Flughafen, drückte sie sich fest an Niels, als würde sie ihn nie wieder loslassen wollen. Dafür nahm Niels sich vor, Lena so lange zu küssen, bis das Flugzeug ohne sie abhob.

Sie kamen durch den beginnenden Frühverkehr jedoch sehr knapp vor Abflug an und so war es dann nur ein kurzes Ciao und Lena rannte zum Gate. Niels ging zu einem der Cafés auf der Aussichtsterrasse und wartete bis die Maschine abhob.

Zurück im Hotel packte er die Rucksäcke, schnallte sie auf seine Maschine und machte sich auf die lange Heimreise. Lena würde bedeutend früher in Washington sein, als er zurück in England. Gute elf Stunden waren es über Brüssel nach Calais und dann mit dem Zug durch den Tunnel nochmals drei Stunden bis London, die würde er dann wenigstens für etwas Schlaf benützen können.