Lena Halberg: London '05

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

3

Die vorweihnachtliche Atmosphäre des verschneiten Freitagabends war wieder der üblich grauen Londoner Suppe gewichen, als Lena am Sonntag frühmorgens Richtung Stadt fuhr. Es war kalt geblieben und der feine Nieselregen fror auf den Fahrbahnen der Nebenstraßen. Sie war vorsichtig unterwegs, immer wieder schlitterte der Mini, trotz seiner sehr guten Straßenlage, seitlich weg. Ihre Laune passte zum Wetter, denn die Scheiben waren zugefroren gewesen und Lena hatte noch keinen Eiskratzer gekauft. So mühte sie sich mit einem Küchenschaber ab, der für derartige Zwecke als Notbehelf im Auto lag.

Sie hatte gestern bis Mittag geschlafen und dann alle Überlegungen Hawks nochmals überdacht. Falls er recht haben sollte, war der Stoff brisant. Heute war sie um sechs aufgewacht und konnte – den Kopf voller Gedanken – nicht mehr einschlafen. Eigentlich wollte sie das Wochenende über ausspannen, spazieren gehen und den beginnenden Urlaub genießen; doch jetzt sprang sie aus dem Bett und fuhr, entgegen dieser Pläne, ins Büro. Die Redaktion besaß ein umfassendes Archiv mit allen wichtigen Meldungen, auch solchen, die nicht veröffentlicht wurden. Dort gab es die größte Chance etwas zu finden, das die These Hawks bestätigen konnte.

Die Straßen in der Innenstadt waren menschenleer, nur einige verschlafene Fußgänger führten ihre Hunde an der Leine, die in dem eisgrauen Morgen auch nicht sehr erfreut wirkten. Es war erst halb acht, als sie in die Tiefgarage fuhr.

Lena wunderte sich, als sie die Eingangstür zum Büro aufstieß: Es war nicht abgeschlossen und überall brannte Licht. Sie ging vom Entree in das große zentrale Arbeitszimmer, wo die Fotografen und die freien Mitarbeiter ihre Plätze hatten – nichts.

»Lena?«, fragte die Stimme hinter ihr.

Sie drehte sich um. Es war Clark, der mit einer Tasse Tee aus der Küche kam.

»Du bist schon da? Und noch dazu am Sonntag?«, meinte sie erstaunt.

»Dasselbe könnte ich dich auch fragen!« Clark war bester Laune, ungeachtet der frühen Stunde. »Hast du nach zwei Tagen schon genug vom Urlaub oder ist es die Sehnsucht nach den Kollegen?«

»Nein, es ist der nächste Stoff. Mich lässt da eine Idee nicht zufrieden. Und bei dir?«

»Mich lässt der Boss nicht zufrieden«, er grinste sie an, »unser Herr und Meister kommt gegen Mittag aus der Schweiz zurück. Ruth ist auch da, wir müssen Verschiedenes vorbereiten, er will wissen, was in seiner Abwesenheit los war.«

»Ah, ich dachte, Shyam bleibt länger weg«, meinte Lena, »passt mir aber gut, dann kann ich gleich wegen der nächsten Sendung mit ihm sprechen.«

»Das ging aber schnell«, sagte Ruth, die Lena sprechen gehört hatte und aus ihrem Büro kam, um sie zu begrüßen. »Vorgestern wolltest du noch eine Woche lang gemütlich darüber nachdenken. Was ist es denn?«

»Es geht um den Anschlag auf die Underground bei uns in London.«

»Du meinst von 2005?«

»Genau, aber nicht nur darum, sondern auch um den Vorfall in Moskau davor und um den heurigen Anschlag in Brüssel.«

»Irgendwie blicke ich da jetzt nicht ganz durch«, Ruth schüttelte verständnislos den Kopf, »was haben die miteinander zu tun?«

»Bring mir auch einen Tee«, sagte Lena zu Clark, »dann erzähl ich’s euch.«

»So werde ich ausgenutzt«, maulte Clark scherzhaft.

Lena lachte und warf die Tasche mit dem Laptop auf einen Stuhl, während er zurück in die Küche ging, um ihr eine Tasse Tee einzugießen.

»Das wäre doch ein ziemlich heißes Ding, meint ihr nicht?«, fragte Lena, als sie beim Tee saßen. Sie hatte Hawks Mappe offen, den Inhalt auf dem Tisch ausgebreitet und die beiden in ihre Überlegungen eingeweiht.

»Irgendwie …«, meinte Ruth nachdenklich, da Lena sie auffordernd ansah, etwas zu sagen, »ganz schlüssig kommt es mir nicht vor.«

»Wieso? Allein das Thema London ist schon eine tolle Story, da die Attentäter hier lebten und Briten waren. Diese neue Art von Terrorismus ist das Symbol für einen steigenden Hass gegen die Politik und die Menschen im eigenen Land. Wo hat es das vorher gegeben, außer vielleicht in Nordirland mit der IRA.«

»Oder in Spanien mit den Basken oder gerade in der Türkei mit den Kurden – neu ist das nicht.«

»Für uns in London schon«, verteidigte Lena ihre Idee, »und dann die gleiche Vorgehensweise zu verschiedenen Zeiten, in Ländern, die räumlich weit auseinanderliegen …«

»Ja, gut«, warf jetzt auch Clark ein, »aber gibt es eine andere Möglichkeit? Das Muster muss ähnlich sein. Man bindet sich das Zeug um und geht wo rein, wo viele Leute sind, wie eben die U-Bahn.«

»Und alle verwenden den gleichen Sprengstoff, der ein spezielles Know-how erfordert?«, konterte sie jetzt genervt. »Glaubst du, dieser Zusammenhang ist Zufall? Da muss doch einer dahinterstehen.«

»Zugegeben, es wäre möglich, aber zugleich ist es auch wieder sehr unwahrscheinlich«, meinte Ruth nachdenklich.

Clark deutete auf die Unterlagen. »Ob du da nicht voll auf die Ansicht deines amerikanischen Freundes hineinkippst? Aber bitte, ich bin in solchen Fragen kein Spezialist.«

»Eben!« Lenas Augen funkelten. »Dann mach mir das Thema nicht mies!«

»Das versuche ich gar nicht und an deinen Argumenten ist sicher was dran«, räumte Clark ein, setzte ein Lächeln auf und hob entschuldigend die Arme.

»Es ist auch ausschließlich die Entscheidung von dir und Shyam, ob ihr das Thema machen wollt«, sagte Ruth spitz, »Clark und ich sind nur diejenigen, die mit euren Erfolgen dann die Statistik füttern.«

Lena atmete tief durch. »Entschuldigt, ich verstehe eure Zweifel ja. Andererseits spüre ich, dass da etwas faul ist und es sich lohnt, dem nachzugehen. Davon will ich euch eben gerne überzeugen.«

Sie schob alles auf einen Stapel zusammen und holte ihren Laptop.

»Schon okay, komm Clark, wir machen bei uns drüben weiter.« Ruth stand auf und die beiden gingen hinaus.

Eine Stunde später, Lena stöberte über ihren Computer im Server der Redaktion herum, lagen jede Menge Notizen auf dem Tisch und sie hatte die Welt rundherum vergessen.

Das Archiv der Firma war umfangreich und bestens aufgearbeitet. Sie erinnerte sich an ihre vorherigen Jobs beim Fernsehen, wo man alte Sendungen in Bändern im Keller stapelte, die man mühsam ausheben und entstauben musste und es dann womöglich keine Abspielmöglichkeit mehr für das alte Videosystem gab. In Shyams Büro war genau das Gegenteil zu finden: Jeder Bericht und jedes Dokument wurde säuberlich digitalisiert und war über Suchbegriffe verfügbar.

Diese Übersicht führte Lena zu einem Bericht der iranischen Nachrichtenagentur Fars über einen Anschlag in Teheran im Jahr 2012. Im Norden der Hauptstadt wurde ein Atomphysiker in seinem Auto getötet, diesmal nicht von einem Selbstmörder, sondern von einem Motorradfahrer mit einer Haftbombe. Der hatte neben dem Fahrzeug angehalten, den Sprengsatz befestigt und war danach mit Vollgas geflüchtet. Die Explosion erfolgte Sekunden später, der Wissenschaftler hatte keine Chance zu entkommen. Ob er entscheidend am iranischen Atomprogramm beteiligt gewesen war, blieb unklar, schien aber realistisch. Der stellvertretende Gouverneur Teherans beschuldigte den Mossad, hinter der Tat zu stecken. Angeblich seien Führungsoffiziere der Israelis, als Diplomaten getarnt, öfter im Land unterwegs, um unzufriedene Iraner für derartige Anschläge anzuwerben.

Die Umstände waren vollkommen anders als in London, außer dass auch dort Inländer die Tat verübten, nur der verwendete Sprengstoff war der gleiche. Bei allen Sprengsätzen hatte es sich um eine als NHS-Gel bezeichnete Substanz gehandelt, eine neuartige Verbindung von Stoffen aus der Nano-Technologie. Lena hatte in die Suchmaske des Archivs nur den chemischen Begriff eingegeben und fand die folgende Beschreibung:

Die stärkste der chemischen Sprengsubstanzen, die in den letzten zwanzig Jahren entdeckt wurde, eine besondere Metallverbindung, mit der vielfachen Sprengkraft von herkömmlichem TNT oder Dynamit.

Kommt sie mit normaler Luft in Berührung, löst die Kettenreaktion eine gewaltige Explosion mit hoher Detonationsgeschwindigkeit aus. Daher kann bereits mit geringsten Mengen eine verheerende Wirkung erzielt werden. Die Verbindung ist jedoch derart empfindlich, dass ein hohes Maß an Wissen nötig ist, um sie im Gebrauch beherrschen zu können.

Die Entdeckung machte man im Jahr 2002 am bekannten Rutfeld-Institut in Haifa. Die Forschungsergebnisse wurden im Herbst 2008 in führenden Fachjournalen veröffentlicht.

Lena wollte schon weiterblättern, hatte aber das Gefühl, da stimmte etwas nicht. Sie las den Text mehrmals, bis sie erkannte, was sie daran stutzig machte – der Ort und die Jahreszahlen! Wenn man in Israel einen derartigen Sprengstoff entwickelt hatte, hing der Mossad mit drin und wenn die Details erst 2008 bekannt wurden, hatten nur die Leute in diesem Labor Zugang zu dem Wissen. Zumindest bei den Anschlägen vor der Veröffentlichung.

»Wichtiger Punkt!«, murmelte Lena vor sich hin, während sie sich einige Details notierte. »Wer die Bomben gebaut hat, muss die Forschung an dem Institut in Haifa gekannt haben.«

Für sie stand damit fest, dass dieser mysteriöse Hintermann existierte. Entweder war es einer der Forscher oder er hatte dort zu tun, möglicherweise war es auch ein ehemaliger Student, überlegte sie.

»Interessant«, sagte sie laut, als sie sah, dass es einen halb fertigen Bericht zu dem Vorfall im Iran gab, der aber nie veröffentlicht worden war. Sie stand auf und ging hinüber in Clarks Büro.

»Erinnerst du dich an Teheran vor vier Jahren, wo der Atomphysiker ermordet wurde?«

 

»So einigermaßen.« Clark sah auf. »Was ist damit?«

»Jemand hat eine Reportage ins Archiv eingespielt, aber die wurde weder zu Ende geschrieben noch je gebracht.«

»So genau weiß ich das auch nicht mehr«, sagte Clark und überlegte, »Shyam war es wahrscheinlich zu spekulativ. Du kennst ihn ja, er ist in dem Punkt relativ heikel.«

»Was ist denn daran spekulativ?« Lena wunderte sich darüber. Dann deutete sie auf die Aufstellung im Monitor. »Nebenbei erwähnt, auch über die Londoner Anschläge gibt es nichts Umfassendes. Einige kleine Berichte, ein paar Artikel, das ist alles.«

»Aha, ist mir bisher nicht aufgefallen.«

»Einer der größten Anschläge in Europa, das wäre doch ein toller Stoff gewesen.«

»Toller Stoff!?« Clark verzog den Mund. »Mit dir hält das Grauen in diese Firma Einzug …«

»Ich meine doch nur«, gab Lena lachend zurück, »dass sich die Berichterstattung darüber gut verkauft hätte, immerhin war es über Monate ein heißes Thema. Da wundert es mich eben, wenn Shyam sich das entgehen lässt.«

»Ich bin nur ein kleines Rädchen«, Clark zuckte die Achseln, »und mache meine Statistik. Die muss ich jetzt auch weitermachen …«

»Ja, schon gut, ich störe dich nicht weiter«, meinte Lena und ging wieder zurück in ihr Zimmer.

Für sie war jetzt klar, dass sich ihre nächste Story um den geheimen Bombenbauer hinter dem Londoner Anschlag drehen musste. Wie könnte der Titel für die Reportage sein, dachte sie und blickte zum Fenster hinaus.

»Hallo Clark, hallo Mutter«, sagte Shyam, als er um elf in die Redaktion kam. Dann schaute er bei Lenas Tür herein. »Du bist auch da? Ich dachte, du wolltest Urlaub nehmen?«

»Ja, habe ich auch«, sagte Lena freudig und stand auf, »ich muss dir nur ganz dringend was sagen und komme dann hinüber zu dir, ich …«

»Jetzt lass mich bitte erst mal ankommen.« Shyam hob beschwichtigend die Arme. »Ich bin eben aus Zürich gelandet und der Flug über den Kanal war ein Horror – Regen, Stürme, Turbulenzen! Also: Schönen Sonntag, alle weiteren Katastrophen morgen, dafür habe ich jetzt keinen Kopf.«

»Sind keine Katastrophen«, Lena ließ sich wieder zurück auf den Sessel fallen, »du hast eine halbe Stunde, dann komme ich. Unbedingt! Ich mache dir auch einen supergroßen Caffè Latte und hole Bagles von gegenüber.«

Shyam schmunzelte und verdrehte die Augen. »Gut, damit hast du den Boss überzeugt, aber ich will Schoko-Donuts – zwei Stück, ohne Nüsse!«

Shyam Asik Barod war sehr attraktiv, dazu kamen perfekte Umgangsformen, ein guter Geschmack für Kleidung und das nötige Kleingeld. Sein Vater war Inder, was man an Shyams Teint bemerkte. Die Familie betrieb ein Handelshaus für Gewürze und fernöstliche Spezialitäten, das der Vater vor langer Zeit gegründet hatte und womit er wohlhabend geworden war. Ruth half ihrem Sohn einfach aus Freude und um eine Beschäftigung zu haben, wie sie betonte, nötig hatte sie es nicht.

Bislang unverheiratet gehörte Shyam mit seinen fünfundvierzig Jahren zu den umschwärmten Junggesellen Londons. Seinen ersten Abschluss mit Auszeichnung machte er in Cambridge, studierte danach Politik an der prominenten Berliner Humboldt-Universität, wo er in der Mindestzeit promovierte. Überdies beherrschte er drei Fremdsprachen perfekt. Nach einer längeren Studienzeit im Ausland gründete er das Redaktionsbüro und wurde Fernsehproduzent.

»Nun«, sagte er zu Lena und setzte sich an den großen Besprechungstisch, wo sie mit einem Berg von vollgekritzelten Zetteln, Kaffeegeschirr und einer offenen Schachtel Donuts thronte, »was kann nicht bis morgen warten?«

»Eine heiße Sache, auf die ich gestoßen bin. Ich beginne sie eben zu recherchieren.«

»Wolltest du das neue Thema nicht erst im Frühjahr angehen?«, fragte er, um dann beifällig hinzuzufügen: »Übrigens meine herzliche Gratulation zum Erfolg der ersten Sendung. Du hast mit deinem Spürsinn einen beachtlichen Start hingelegt.«

»Danke!« Lena konnte ihren Stolz nicht verbergen. Die Anerkennung tat ihr gut, bei früheren Jobs hatte sie diese vermisst. »Frühjahr war ursprünglich für die neue Geschichte geplant, aber jetzt hat sich akut etwas ergeben.«

»Aber schau, in zwei Wochen ist Weihnachten – Friede, Ruhe, Harmonie.« Shyam zog die Tasse zu sich, griff nach den Donuts, lehnte sich gemütlich zurück und lächelte sie an. »Plumpudding, Schoko-Donuts …«

»Jetzt komm mir nicht so.« Lena grinste zurück. »Höre es dir zumindest an.«

»Na gut«, meinte er und nickte, »dann schieß los. Womit wirst du unsere Quoten diesmal pushen?«

»Es geht um London, genauer gesagt, um den Anschlag vor elf Jahren.«

»Anschläge verfolgen dich!« Er schüttelte amüsiert den Kopf.

»… und der Titel könnte so ähnlich lauten wie: Der Chemiker des Terrors«, beendete Lena zwanzig Minuten später die Darstellung ihrer Überlegungen zu der Reportage über den Bombenbauer, den sie hinter all den Terrorakten vermutete.

Shyam hatte während ihres ausführlichen Vortrags aufgehört zu kauen. Jetzt legte er den angebissenen Donut zurück und schob den Becher mit dem Caffè Latte weg. Er sah Lena skeptisch an.

»Das ist nicht dein Ernst, oder?«, sagte er mit ungläubigem Unterton. »Du führst mich vor!«

»Nein, gar nicht«, antwortete Lena, die mit einer derartigen Reaktion nicht gerechnet hatte. »Wieso glaubst du das?«

»Na, entschuldige bitte, du erzählst mir da über vier unterschiedliche Vorfälle, die viele Jahre und tausende Kilometer auseinanderliegen, wo Gruppierungen am Werk waren, die absolut nichts miteinander zu tun haben«, er richtete sich auf, sein Lächeln war verschwunden und einem irritierten Blick gewichen, »und du willst da einen großen Unbekannten hineinfabulieren, nur wegen eines Artikel in einer Zeitschrift?«

»Das ist ein Fachjournal und nicht irgendeine Zeitschrift, es geht aber nicht um den Artikel, sondern um das Datum. Siehst du die Fakten nicht?«, stieß Lena hervor. Sie war entsetzt, dass Shyam ihren Argumenten nicht folgen konnte. »Da sind Bomben gebaut worden mit einem Sprengstoff, der noch gar nicht bekannt war! Ist dir das nicht genug?«

»Genug? Wofür bitte?«

Sie schluckte und sprang auf. »Genug, um zu sehen, dass es jemand im Hintergrund gab oder bis heute gibt, der irgendwie mit dem Institut in Haifa zusammenhängt und sein Wissen dazu benutzt, um für jeden der bezahlt, Bomben zu basteln.«

»Das ist doch reine Spekulation und eine haarsträubende obendrein, Lena!« Er schüttelte den Kopf und wirkte mit einem Mal ziemlich verärgert. »Denkst du, der IS oder die Tschetschenen oder wer sonst den Dreck gebaut hat, benutzt dazu einen Außenstehenden? Das muss dir doch selbst lächerlich vorkommen!«

»Aha! Und du weißt so genau, wer hinter den Anschlägen wirklich steckt?« Sie begann aufgeregt hin und her zu laufen.

»Na, für den Londoner Anschlag gibt es ein eindeutiges Bekennerschreiben der Al-Qaida.«

»Ja, von der selbst ernannten Geheimorganisation Al-Qaidain-Europa, die weder davor noch danach jemals in Erscheinung getreten ist. Lächerlich! Das ist doch nur ein Fake. Hast du schon einmal überlegt, wer politisch davon profitiert hat?«

Jetzt war Shyam sprachlos. »Was willst du damit wieder sagen?«

»Es könnten Trittbrettfahrer gewesen sein oder es stecken überhaupt nicht die Araber dahinter, sondern jemand ganz anderes. Warum habt ihr eigentlich nichts darüber gebracht? Und über den Anschlag in Teheran auch nicht?«

»Sorry, aber ich habe das Tagesgeschäft wirklich nicht im Kopf. Keine Ahnung, wer daran gearbeitet hat. Für solche Dinge ist Clark zuständig, dem wird es zu spekulativ gewesen sein.«

»Schieb es nicht auf Clark, aber egal …« Sie blieb vor Shyam stehen und schaute auf ihn hinunter. »Zum Glück bin ich jetzt da! Ich spüre, wenn an einer Story etwas dran ist und ich sage dir, das ist kein Zufall!«

»Du verrennst dich da in ein Hirngespinst.«

»Interessant«, Lena warf auffordernd den Kopf zurück, »eben hast du mir wegen meines Spürsinns gratuliert.«

»Lass einfach die Finger davon«, sagte er und sein Tonfall wurde scharf.

»Das werde ich nicht. Ich flieg kommende Woche nach Israel und probiere, ob ich auf dem Institut in Haifa etwas Brauchbares herausbekomme. Immerhin steht unter der Sendereihe: Halberg Report. Es ist demnach meine Entscheidung!«

»Ist es nicht …« Er stand auf, zog die Augenbrauen zusammen und sah sie direkt an. »Es ist meine Redaktion und wir machen das nicht. Ich setze keine Verschwörungstheorien in die Welt, schließlich haben wir einen Ruf zu verlieren und selbst wenn wirklich etwas dran sein sollte, bin ich der Meinung, dass Journalismus Grenzen hat. Du bleibst! Ende der Diskussion!«

Lena verschlug es die Sprache. Es war nicht nur die thematische Ignoranz, die sie überraschte, sie war auch fassungslos über die Selbstherrlichkeit, die sie auf einmal spürte und die sie bei Shyam nie vermutet hätte. Keinesfalls würde sie sich dadurch von ihrem Vorhaben abbringen lassen, schließlich hatte sie den Job nur wegen der freien Entscheidung über ihre Stoffe angenommen.

»Gut, dann mache ich dir einen Vorschlag«, sagte sie knapp und drehte sich von ihm weg, »ich bin offiziell sowieso bis nach Weihnachten auf Urlaub. Ich fahre einfach privat nach Israel, um Freunde zu besuchen. Wenn ich dabei zufällig etwas erfahre, reden wir nachher darüber und du kannst dir überlegen, ob du die Sendung machen willst. Sonst gehe ich mit dem Bericht eben direkt zu einem Sender.«

Shyam zuckte nur die Achseln und verließ wortlos den Besprechungsraum.

»Du mich auch«, murrte Lena zornig, als er draußen war, »ihr seid doch alle gleich …«

4

Die Gulfstream G200 setzte trotz der Scherwinde, die böig vom Mittelmeer landeinwärts trieben, sanft auf der Rollbahn in Beirut auf. Ron Gazzarah atmete durch. Er fühlte sich in der Luft angreifbar und war nach jeder Landung froh, wieder festes Terrain unter den Füßen zu haben.

Am liebsten wäre er gestern nach der codierten Mitteilung sofort aufgebrochen, aber die neuen Einreisedokumente und die Flugerlaubnis nahmen dann doch den restlichen Tag in Anspruch. Er checkte ungeduldig seine Papiere, die er in Genf über die vertraulichen Kanäle der Botschaft besorgt hatte. Gazzarah war nun als Mitglied einer Akademie in Denver und amerikanischer Professor mit dem klingenden Namen Jones unterwegs.

Für die nötige Bewegungsfreiheit sorgte die American University of Beirut, eine private Hochschule, die vor hundertfünfzig Jahren von Missionaren aus New York gegründet worden war. Bis heute eine bedeutende internationale Schule im Nahen Osten, fungierte sie als Brücke zwischen den Kulturen. Man organisierte laufend einen breiten Austausch von Vortragenden, was einem unauffälligen Aufenthalt äußerst dienlich war. Diesmal hatte Gazzarah eine Einladung in der Tasche, auf der Fakultät für Architektur einen Vortrag über Baustile der Antike zu halten. Solche Akkreditierungen tauschten der Mossad und die CIA öfter untereinander aus, was beiden Nachrichtendiensten die Arbeit auf fremdem Territorium erleichterte.

Zu hundert Prozent wasserdicht waren diese Dokumente eigentlich nie – bei genauerer Überprüfung oder einer dezidierten Anfrage in der Universität wäre die Gefahr aufzufallen ziemlich groß. Aber man vertraute darauf, dass auch die Diensthabenden an den Grenzen nur bequeme Beamte waren, die ihren Job gerne mit möglichst geringem Aufwand erledigen wollten. Und je extremer die Lage in einem Land war, desto weniger kümmerte man sich um normale Reisende. Gerade jetzt, wo die Situation durch den IS brandgefährlich war und der Libanon schon wieder am Rande eines neuen Kriegs gegen Israel stand, hatte man andere Sorgen.

Nach der Zollkontrolle ging Gazzarah nach draußen. Die Nachmittagssonne stach übers Meer herunter und trieb ihm, nach der klirrend kalten Schweiz und dem angenehm temperierten Jet, den Schweiß aus allen Poren. Müde und missmutig sah er sich nach seinem Kontaktmann um, der in einem alten Ford Focus mit offenen Scheiben an der Zufahrt wartete. Die Aussicht auf eine längere Fahrt durch die brütende Stadt in einem kleinen, nicht klimatisierten Auto gab seiner Laune den Rest.

»Ich denke, Sie kennen den Weg«, sagte Gazzarah statt einer Begrüßung knapp.

Der Libanese, der einen kleinen Laden betrieb, daneben aber seit vielen Jahren als Verbindungsmann für den Mossad arbeitete, nickte bejahend. Er war einer jener unzähligen Mitarbeiter, die ein Geheimdienst braucht, um zu funktionieren. Diese Leute wissen nichts über die Unternehmungen, sind aber ortskundige Chauffeure, geben diskret Nachrichten weiter, die sie selbst nicht verstehen, oder besorgen ein sicheres Quartier. Die Zahl dieser Freiwilligen geht in die tausende, der Lohn für ihre Dienste steht in keinem Verhältnis zu dem Risiko, das sie eingehen. Überall gibt es für Landesverrat hohe Gefängnisstrafen und in manchen Staaten droht sogar die sofortige Exekution.

 

Der Fahrer kurvte aus dem Flughafenareal hinaus auf den Beirut-Saida-Highway, der lief die Küste entlang nach Norden.

»Kleiner Umweg«, sagte er dazu erklärend, »Demo!«

Infolge einer Vielzahl von politischen Kundgebungen kam es andauernd zu einer langen Absperrung der Flughafenzubringer und der Einfahrtsstraßen in die Stadt. Besucher, die von keinem ortskundigen Führer abgeholt wurden und in eine derartige Demonstration gelangten, verloren auf den wenigen Kilometern mehrere Stunden. Ganz abgesehen von dem Risiko für Reisende aus westlichen Ländern, als ein Ungläubiger erkannt und entführt zu werden.

Der Highway führte vorbei an einem Golf-Club. Gazzarah schüttelte innerlich den Kopf – Bürgerkriege, Elendsviertel, Teile der Stadt lagen in Schutt und Asche, aber einige Reiche spielten mitten in dem Chaos Golf. Es war doch überall das Gleiche. Einige Minuten nach dem Golfplatz nahmen sie eine Abzweigung auf eine Autobahn, die das Zentrum Richtung Osten querte, und fuhren über zwei Brücken. Unter ihnen stauten sich kilometerlange Kolonnen. Der Fahrer hatte recht gehabt, die Demo legte den ganzen Süden der Stadt lahm. Auch auf der Autobahn war der Verkehr sehr dicht, aber es ging in gemächlichem Tempo weiter.

Eine Stunde später, im heißen Fahrzeug eine gefühlte Ewigkeit, kamen sie nach einer Strecke von endlosen Stadtteilen mit flachen Hütten in eine hügelige Gegend, wo die Häuser größer wurden und die Straßen sauberer wirkten. Nach der Ausfahrt passierten sie einen Kreisverkehr und fuhren dann eine Anhöhe links der Autobahn hinauf, vorbei an einem Supermarkt und einem Schnellimbiss, vor dem Männer saßen, die heftig diskutierten, hinein in eine Siedlung von Plattenbauten. Auf mehreren Hügeln wanden sich die Fahrwege hoch zu hellgrauen Wohnblöcken – gleichförmige Betonkästen mit Balkonen, auf denen nie jemand gesessen hatte. Entlang der Straßen standen vereinzelt Ölbäume, deren Kronen verdorrt waren, und auf den Kreuzungen spielten Halbwüchsige Fußball. Der Asphalt brach an mehreren Stellen auf und der Fahrer hatte Mühe, den Wagen auf der Fahrbahn zu halten.

Sie stoppten vor einem einstöckigen Haus, das sich, eingezwängt zwischen den Wohnsilos, auf einem Rasenstück befand. Auf dem Dach standen zwei große Satellitenschüsseln, eine alte Fernsehantenne und daneben brummte hörbar ein rostiges Klimagerät, von dem aus ein Rinnsal mit Kondenswasser, eine bräunliche Spur hinterlassend, seitlich über die Fassade hinunterrann. Sie waren am Ziel – ein Safe House. Das Operationszentrum für die beabsichtigte Aktion gegen die libanesische Schiiten-Miliz Hisbollah.

»Hello?«, rief Gazzarah und wollte lautstark klopfen, da das Gebäude leer und verschlossen schien.

Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein schlanker, dunkelhaariger Mann erschien, der abwehrend die Hand hob.

»Bitte kein Aufsehen«, sagte er gedämpft, »die Menschen in dem Viertel sind sehr vorsichtig und beobachten alles. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe eine Nachricht mit Code 34 erhalten«, sagte der Geheimdienstmann ohne Umschweife und identifizierte sich als Operationschef mit seinem Schlüsselwort und der Chiffre für den Einsatz.

Jetzt gab der Fremde dem Fahrer ein Zeichen, der in die nächste Seitenstraße fuhr, um unauffällig zu parken und geduldig im Auto zu warten, bis er wieder gebraucht wurde. Dann trat er zur Seite und ließ den Besucher eintreten.

Gazzarah hätte seinem Ärger am liebsten Luft gemacht, hielt aber inne, als er sah, dass außer dem Fremden, den er für den Betreuer des sicheren Hauses hielt, niemand da war.

»Wo ist der Einsatzleiter?«, fragte er überrascht. »Warum sind alle ausgeflogen?«

»Sie sind nicht ausgeflogen, sondern aufgeflogen«, bemerkte der Fremde ruhig und ging voraus ins zentrale Zimmer, wo die Sachen von drei Männern auf Pritschen lagen. »Möchten Sie etwas trinken?«

»Danke«, bellte Gazzarah ablehnend und ungeduldig, »wie ist das möglich? Und wer hat mir die Meldung mit dem Notfall-Code zum Abbruch gegeben?«

»Das war ich«, sagte der Mann, »verzeihen Sie, mir ist bewusst, dass dies im Ablauf nicht korrekt ist. Normalerweise trete ich nie mit der Auftragsstelle persönlich in Kontakt, aber es gab nur diese Möglichkeit.«

»Auftragsstelle?« Gazzarah begriff nicht. »Sind Sie nicht für das Haus zuständig?«

»Nein. Ich wurde engagiert«, er deutete auf zwei schmale Pakete, die im Nebenraum auf einem Tisch lagen, »um das Material herzustellen.«

»Yafne?« Die Frage klang verwundert. Gazzarah kannte die Akte von Aaron Yafne, der nur mehr unter dem Pseudonym Chemiker arbeitete. Er holte ihn für spezielle Jobs, nur persönlich getroffen hatte er ihn nie. Derartige Kontakte liefen aus Sicherheitsgründen nur über Mittelsmänner und verschlüsselte Anrufe oder Text-Chats in virtuellen Räumen. Man vermied es, sich gegenseitig zu kennen. Auch sah der einfache Mann mit seinem dunklen Dreitagebart, dem langen arabischen Hemd und dem traditionellen Kopftuch wie ein harmloser Einheimischer aus. »Sie sind Yafne?«

Sein Gegenüber bemerkte den Blick und nickte. »Man muss sich anpassen. Die Ware ist fertig, alleine die Verteiler …«

»Was ist geschehen?«

»Der Leiter der Mission muss der Hisbollah verdächtig geworden sein und sie haben ihn sicher schon länger beobachtet. Gestern waren Ihre Leute in Badaro beim Hippodrom, um sich mit dem Einsatzort vertraut zu machen.«

»Und haben durch ihre Unvorsichtigkeit das gesamte Vorhaben gefährdet!«

»Es scheint so, sie sind in einen Hinterhalt geraten. Es gab ein Handgemenge und eine Schießerei. Es ging sehr schnell.«

»Tot?«

»Jedenfalls der Einsatzleiter und der Beifahrer, bei dem Dritten konnte ich nichts Genaues sehen, aber er dürfte noch gelebt haben, die Angreifer haben ihn weggebracht.« Er strich sich bedächtig mit der Hand über seinen Kinnbart. »Es wäre für alle besser, wenn er es nicht überstanden hätte.«

»Und Sie?«

»Ich bin getrennt hingefahren, um mir mein eigenes Bild von der Situation zu machen. Man hat mich nicht bemerkt.«

»Und danach? Sind Sie zurück?«

»Ja! Ich habe die ganze Nacht von gegenüber das Safe House beobachtet. Ich dachte, falls es enttarnt ist und die Hisbollah versucht einzudringen, muss ich reagieren.«

»Alleine? Da hätten Sie keine Chance gehabt!«

»Es sind zweimal zweihundert Gramm NHS in den Paketen und die Zünder sind aktiv«, sagte der Chemiker und nickte. »Ich hätte eine Chance gehabt.«

»Dieses Nanohydro-Zeugs ist scharf?«, fragte Gazzarah und musterte mit einem flüchtigen Seitenblick die beiden, in braunes Papier eingewickelten Bündel.

Statt einer Antwort hob sein Gegenüber die Hand, in der er die ganze Zeit einen unscheinbaren Funksender gehalten hatte. Diesen legte er jetzt auf den Tisch.

»Bei meiner Ware«, sein Mund verzog sich zu einem kaum merkbaren Lächeln, »werden auch Sicherheiten mitgeliefert.«

Gazzarah setzte sich auf einen Sessel, der bei den Pritschen stand, und wischte sich den Schweiß ab.

»In Ordnung. Es geht an ein neues Team. Ich schicke Ihnen morgen früh jemanden, der die Lieferung übernimmt. Ihre Anwesenheit ist dann nicht mehr erforderlich.«

»Das wäre bei diesem Material unüblich und gefährlich«, sagte der Chemiker knapp, der mit dieser Vorgehensweise offensichtlich nicht einverstanden war.

»Die ganze Aktion ist das«, entgegnete sein Gegenüber scharf, nicht gewohnt Widerspruch zu dulden, »das soll nicht Ihr Problem sein.«

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?