Mirroring Hands

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2Denken in den Systemen des Lebens
Vorbereitung des therapeutischen Geistes

ELRHast du in den Büchern, die ich dir gegeben habe, die Geschichte über Leeuwenhoek gefunden?

RHJa, habe ich, Ernie! Er hat ein Mikroskop entwickelt und damit als erster Mensch rote Blutkörperchen und Bakterien gesehen … Es muss unglaublich gewesen sein, zum ersten Mal in den Körper zu schauen.

ELRWas denkst du darüber?

RHEr konnte sehen, woraus wir bestehen.

ELRWeil es mehr ist, als man mit bloßem Auge erkennen kann?

RHUnd seit jener Zeit sind wir noch viel tiefer vorgedrungen … bis zur DNS.

ELRWas denkst du darüber?

RHWir haben aufgrund dessen alle möglichen medizinischen und psychotherapeutischen Behandlungsverfahren verändert …

ELRGenau …

RHDeshalb ist es wichtig, dass wir mehr darüber wissen, woraus wir bestehen.

ELRUnd darüber, wie das gesamte System funktioniert …

RHDas System?

ELROkay, einen Moment bitte … (geht zum Bücherregal und nimmt ein Buch heraus) … Lies das hier …

(Aus den Gesprächen zwischen Rossi und Hill im Juni 2016)

Ein neuer Klient kommt in die Klinik, und nachdem die Anmeldungsformalitäten erledigt sind, setzen Therapeut und Klient sich zusammen und reden etwa eine Stunde miteinander. Unabhängig von der Methode, die Sie als Therapeut benutzen, offenbart der Klient irgendwann etwas über den Grund seines Kommens: über das Etwas, das ihn quält; über das Etwas, das nicht in Ordnung ist; über das Etwas, das nicht gut ist oder sich schlecht anfühlt. Niemand sucht einen Therapeuten auf, um ihm zu sagen, alles sei in bester Ordnung, er fühle sich großartig, und in seinem Leben gebe es nichts, was sich ändern müsse. Alle Klienten kommen, um herauszufinden, warum sie sich nicht gut fühlen, und um diesen Missstand zu beheben.

Woher wissen wir, dass mit uns etwas nicht in Ordnung ist? Offenbar existiert in uns allen eine Instanz, die das weiß. Und außerdem gibt es in uns etwas, das es vorzieht, okay zu sein, und das einen Punkt zu erreichen versucht, an dem wir uns wieder okay fühlen: zu erreichen, dass wir uns wieder gesund, positiv, geliebt und verbunden fühlen und als Teil von etwas, das uns als sinnvoll und wichtig erscheint. Von den soeben genannten Seinszuständen geht eine Attraktion aus. Ein Mensch, der zur Therapie erscheint, reagiert auf diese natürlichen Bedürfnisse, Tendenzen, Neigungen und Präferenzen. Unglücklicherweise steht es mit dem, was der Betreffende in seinem momentanen Leben tut, nicht besonders gut, und möglicherweise verschlimmert es seine Situation sogar. Wer will das wissen? In diesem Moment jedenfalls weiß es weder der Klient selbst noch der Therapeut.

Etwas muss die Ausweglosigkeit durchbrechen. Es gibt Dutzende, ja sogar Hunderte von therapeutischen Methoden, die darauf abzielen, die Probleme eines Klienten zu beheben. Aber könnten wir von allen diesen Möglichkeiten einmal absehen und uns den natürlichen Fähigkeiten im Inneren des Klienten zuwenden? Sollte es uns gelingen, sie zu aktivieren, wird vielleicht auch das System, das uns »in Ordnung bringen« will, in diesem Sinne tätig werden. Kann ein Klient diese inneren Fähigkeiten erschließen, obwohl er gar nichts über sie weiß oder das Vertrauen zu ihnen verloren hat?

Im vorliegenden Buch bezeichnen wir diese Prozesse als unsere natürliche Problemlösungsfähigkeit und als Geist-Körper-Heilung. Um diese inneren Selbstheilungsfähigkeiten zu erschließen, müssen wir uns in einem therapeutischen Bewusstseinszustand befinden. Damit ist jene Geisteshaltung gemeint, die weiß, dass mit Ihnen nicht alles in Ordnung ist, die aber bereit und in der Lage ist, die Prozesse zu initiieren, die alles wieder in Ordnung bringen. »Nicht okay zu sein« ist ein anderer Bewusstseinszustand, in dem es schwierig ist, zu den eigenen Problemlösungs- und Heilungsfähigkeiten in Verbindung zu treten. In diesem Seinszustand geht es uns nicht gut, oder wir fühlen uns krank. Dies ist ein zerrüttender Bewusstseinszustand. Eine Therapie zielt darauf ab, uns durch Prozesse zu geleiten, die Veränderungen zum Positiven bewirken und uns in einen Zustand des Wohlbefindens versetzen. Dies tritt ein, wenn wir nicht nur zu unserem besseren Selbst in Verbindung treten, sondern auch in der Lage sind, diese Veränderungen in unser gesamtes System von den Neuronen bis hin zu den Genen zu integrieren. Dies ist ein integrierender Bewusstseinszustand. Mirroring Hands geleitet uns vom Zustand der Störung zum therapeutischen Bewusstseinszustand und von dort zur Integration, zur Auflösung von Blockaden und schließlich in einen Zustand des Wohlbefindens. Mirroring Hands versucht, die Verbindungen zu unseren inneren Problemlösungsfähigkeiten und unserer Geist-Körper-Heilung wiederherzustellen, um unsere besten Seiten zu erschließen.

Ganz von selbst

Haben Sie schon einmal einen Klienten erlebt, der erklärte, es gehe ihm besser oder er habe ein Problem gelöst, habe eine erstaunliche Erkenntnis gehabt oder Genesung erlebt, und Ihnen ist absolut nicht klar, wodurch das Problem gelöst wurde – welcher Teil der Therapie oder was von dem, was Sie gesagt oder getan haben, bei ihm zum entscheidenden Durchbruch führte? Ein solches Erlebnis mag merkwürdig erscheinen, doch in einem anderen Licht betrachtet ist es zu erwarten. Und genau das wollen wir nun mit Ihnen zusammen erforschen. Wie kann es normal sein, dass eine unerwartete Reaktion eintritt, die auf keiner unmittelbaren Ursache zu beruhen scheint, die aber für den Klienten zu einem wichtigen Durchbruch führt? Die Antwort entstammt dem Bereich der Physik oder liegt in der Funktionsweise komplexer Systeme begründet.

Im weiteren Verlauf dieses Kapitels beschäftigen wir uns mit dem Wesen von Systemen und damit, was es mit nichtlinearen Dynamiken, sich selbst organisierender adaptiver Komplexität und der Chaos-Theorie auf sich hat und warum sie wichtig sind. Wir werden uns bemühen, uns kurz zu fassen und die Theorie wann immer möglich auf die therapeutische Praxis zu beziehen. Andererseits werden wir langsam und sorgfältig vorgehen, weil die im Folgenden beschriebenen Theorien und Konzepte viele vertraute Darstellungen der Funktionsweise von Dingen hinfällig machen. Dies ist beim Versuch, den Prozess der Psychotherapie zu verstehen, besonders relevant. Woher wissen wir, ob wir das Erforderliche tun, um Veränderung und Entwicklung zu fördern? Das Leben eines Menschen und das Problem, das ihn zur Therapie gebracht hat, umfassen so viele Aspekte. Woher sollen wir wissen, was wir tun können, um das Problem lösen und den Klienten mit Aussicht auf eine deutlich positivere zukünftige Situation nach Hause entlassen zu können? Wie finden wir die Ursache des Problems, und wie wenden wir die wirksamste Therapie an? Diese Fragen können wir erst beantworten, wenn wir erklärt haben, warum dies nicht die richtigen Fragen sind. Sie resultieren aus unserem Nachdenken über das System. Wir werden jedoch zeigen, inwiefern jedes menschliche System, über das wir nachdenken können, ein System ist, in dem wir uns befinden. In einer Therapie befindet sich der Therapeut fraglos im System, und diese Sicht verändert unseren Umgang mit einer Therapie und mit dem Leben im Allgemeinen völlig. Wir beginnen die Erforschung dieser Zusammenhänge mit einer Reise.

Vögel wissen, wie

Am Himmel über Newquay in Cornwall (England), über Olevoortseweg in Nijkerk (Niederlande) oder über Sacramento in Kalifornien (USA) sieht man Zehntausende von Staren in die Luft aufsteigen, ein Schauspiel, das sich jedem logischen Verständnis entzieht. Die Vögel bewegen sich in einem riesigen Schwarm in einer Art Ebbe und Flut über den Himmel.11 Es gibt dabei keinen Dirigenten, keinen »Führer« und keinen Organisator; nur eine ganz bestimmte Kombination von Voraussetzungen und Faktoren, die diesen außergewöhnlichen, sich ständig verändernden Anblick erzeugen. Es ist unmöglich, etwas anderes über Form und Fluss des Starenschwarms in jedem konkreten Augenblick vorauszusagen, als dass es immer eine Form und einen Fluss geben wird.

Die Vogelschar ist ein sich selbst organisierendes Phänomen. Ebbe und Flut der Vögel ergeben sich aus bestimmten Parametern, die untrennbar mit der Existenz der Stare verbunden sind. Die Formation entsteht fast »von selbst« – was uns als abwegig erscheinen mag, weil Menschen in der Regel meinen, dass komplexe Prozesse nur stattfinden können, wenn sie gesteuert, organisiert und geleitet werden. In unserer modernen Welt mag es ein wenig verrückt erscheinen zu denken, dass ein Prozess sich selbst organisieren kann, dass Kinder in einem nicht gesteuerten Erziehungssystem lernen können, dass eine Gemeinschaft ohne Regeln funktionieren kann und ohne dass eine Polizei für Recht und Ordnung sorgt. Ein ebenso »logischer« Denkschritt ist die Annahme, dass Psychotherapie nur auf der Grundlage strukturierter Techniken möglich ist, die zu vorhersehbaren Resultaten führen. Solche strukturierten Ansätze entsprechen dem Prinzip der linearen Verursachung, womit eine Beziehung zwischen einer Ursache und einer Wirkung gemeint ist, die schrittweise in einem Prozess mit vorhersagbaren Resultaten zutage tritt (Hardesty 2010). Noch wichtiger ist, dass dies darauf verweist, dass wir – und das bedeutet hier Menschen im Allgemeinen – eine direkte Ursache-Wirkungs-Kontrolle auf die uns umgebende Welt ausüben können. Die lineare Kausalität ist zum zentralen Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen und analytischer Prozesse geworden. Sie war im vorigen Jahrhundert das dominierende Paradigma auf den Gebieten der Erziehung (Koopmans 2014, S. 20–39), der wissenschaftlichen Forschung (Galea, Riddle a. Kaplan 2010, S. 97–106) und der Wirtschaft (de Langhe, Puntoni, a. Larrick 2017). Das Prinzip der linearen Kausalität lässt sich bis ins alte Griechenland zurückverfolgen, es wurde von Isaac Newton im Jahre 1687 in seinen Principia formalisiert (Cohen, Whitman a. Budenz 1999).

 

Doch eine Starenwolke, ein Fischschwarm, die fließende Formation der Menschen, die einander auf einem belebten Fußgängerübergang passieren, die DNS, die Planeten, Sonnensysteme und Galaxien und die Funktionsweise des menschlichen Gehirns resultieren alle aus einer Gruppierung von im Einklang mit Prinzipien und Intentionen sich selbst organisierenden Teilen, die bestrebt sind, Gesundheit und Wohlbefinden zu fördern und etwas zu schaffen, das mehr ist als die Teile selbst, und denen dies ohne jede Anleitung, Anweisung oder Instruktion von wem auch immer gelingt. Wie ist das möglich? Die Antwortet lautet, dass Selbstorganisation und nichtlineare Dynamiken der natürliche Stoff sind, aus dem das Leben besteht. Wir haben unsere Aufmerksamkeit auf die lineare Verursachung gerichtet und dabei das Gesamtbild aus dem Blick verloren. Damit soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, dass lineare Kausalität nicht existiert oder nicht wichtig ist. Lineare Prozesse finden zwischen Elementen innerhalb nichtlinearer Systeme statt. Beide heben einander nicht auf. Es handelt sich vielmehr um komplementäre Aspekte der Natur und natürlichen Erlebens. Entscheidend ist, wie wir über beide denken. Es ist sehr schwierig, aus linearer Perspektive über nichtlineare Systeme nachzudenken, aber es ist ganz und gar nicht schwierig, lineare Prozesse innerhalb von nichtlinearen Systemen stattfinden zu sehen. Vielleicht dominieren lineare Systeme deshalb in unserem Denken, weil viele der Dinge, mit denen wir uns Tag für Tag beschäftigen, auf der newtonschen linearen Physik basieren. Wenn Sie die komplexe nichtlineare Welt würdigen wollen, wird es Sie wahrscheinlich erfreuen zu hören, dass das nicht so kompliziert ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Komplexe Systeme

Ein komplexes System12 ist ein System, das aus einer Anzahl unterschiedlicher, aber miteinander verbundener und interdependenter Elemente (Chan 2001) oder Teile besteht. Offene komplexe Systeme werden im Laufe der Zeit noch komplexer. Ein Mensch ist zweifellos ein offenes komplexes System. Man kann ein komplexes System in autonome Teile gliedern. Unser Körper besteht aus Billiarden von Zellen. Sie sind Teile von Subsystemen wie Herz, Leber oder Gehirn. Die Subsysteme können zueinander in Verbindung treten oder eine Interdependenz zu anderen Teilen entwickeln und sich zu größeren Subsystemen formieren, etwa dem Verdauungssystem oder dem limbischen System. Entscheidend ist hier, dass im menschlichen Körper-»System« eine Menge vor sich geht und dass es zwar möglich ist, einige Teile zu separieren, letztlich jedoch alle für das Resultat oder die emergente Beschaffenheit des Systems wesentlich sind – ein menschliches Wesen sind. Die Teile erzeugen etwas, das mehr ist als sie, und sie geben keinen klaren Hinweis darauf, was das Gesamtsystem werden wird.

Klienten erleben im komplexen System ihrer Psyche oft Brüche und Abkoppelungen. Ein System kann auf viele Arten unterbrochen und gestört werden. Traumata, negative Bindungserfahrungen, Kritik, soziale Ablehnung und viele andere Arten affektiver und biologischer Verletzungen können in einer gesunden Psyche Diskontinuitäten erzeugen. Klienten kommen zur Therapie, weil sie das Warum und Wie ihres abgekoppelten und unterbrochenen Zustandes verstehen möchten, um das Problem lösen, den Schaden beheben und ihre Psyche reintegrieren und gesund machen zu können.

Komplexes System: Viele Teile sind miteinander verbunden und interdependent, und das aus der Komplexität resultierende Ganze ist mehr als die einzelnen Teile des Systems.

Nichtlineare Systeme

Ein nichtlineares System ist natürlich völlig anders beschaffen als das lineare System, mit dem wir uns soeben befasst haben. Bei einem nichtlinearen System steht der Output aufgrund von Querverbindungen und Interdependenzen innerhalb des Systems nicht in direkt proportionaler Beziehung zum Input. In einem linearen System entspricht die in das System eintretende Energie der aus dem System austretenden Energie, weshalb die Vorgänge in ihm voraussagbar sind. Die newtonsche Physik sagt uns: Wenn wir einen Ball mit einem Stock schlagen, entscheidet die Kraft des Schlags darüber, wie weit der Ball fliegt, und diese Relation lässt sich mithilfe einer mathematischen Formel voraussagen. Das gilt auch, wenn Ball und Schläger von allem anderen in der Umgebung isoliert werden. Systeme, die mit nichts anderem physikalisch interagieren, werden geschlossene Systeme genannt.

Die wissenschaftliche Forschung verwendet viel Mühe darauf, alle Variablen und Störfaktoren auszuschließen, um zu einem zuverlässigen und wiederholbaren Resultat zu gelangen. In Wirklichkeit sind Ball und Schläger nichtlineare, komplexe Systeme, die von der Luft, dem Wetter, der Kunstfertigkeit des Schlagenden, dem Teil des Schlägers, der mit dem Ball in Berührung kommt, dem Winkel, in dem der Schlag auf den Ball trifft und vielleicht sogar von der Tatsache, ob ein Vogel vorüberfliegt (und auch noch von dem Ball getroffen wird …), interdependent und interaktiv beeinflusst werden. In einem natürlichen (komplexen) System könnte dieser Ball überallhin fliegen. Was geschehen wird, lässt sich in diesem Fall nicht voraussagen. Ein großer Schwung kann eine geringe Wirkung und ein kleiner Schwung eine starke Wirkung haben, insbesondere wenn ein Hund den Ball fängt und mit ihm davonläuft. Sie erfahren das Resultat aber in jedem Fall, sobald es eintritt. Genauso verhält es sich bei der Arbeit mit Klienten. Ein und dieselbe Aufgabe kann, stellt man sie verschiedenen Menschen, zu sehr unterschiedlichen Resultaten führen. Und sogar ein und dieselbe Aufgabe, die man derselben Person zu verschiedenen Zeitpunkten oder auf unterschiedliche Arten stellt, kann sehr unterschiedliche Resultate erzielen.

Nichtlineares System: Der Output, das Resultat oder ein resultierendes Erlebnis stehen nicht in direkt proportionaler Beziehung zum Input, weil die kombinierte Wirkung der Querverbindungen und Interdependenzen aller Teile des Systems unbekannt ist.

Chaos

Die Chaostheorie führt uns noch ein wenig weiter in die ungewöhnlichen und der Intuition eher zuwiderlaufenden Aspekte komplexer Systeme hinein. Chaos in einem komplexen System hat zwei wichtige grundlegende Eigenschaften. Erstens spielen beim Chaos die Anfangsbedingungen eine wichtige Rolle, und zweitens findet ein Kampf zwischen Ordnung und Unordnung statt. Die für Chaos charakteristischen Anfangsbedingungen sind unter der Bezeichnung »Schmetterlingseffekt« allgemein bekannt. Diese Bezeichnung rührt von einer Analogie her, die der Erfinder der Chaostheorie, Edward Lorenz, im Jahre 1972 als Untertitel eines Vortrags am MIT in Cambridge, Massachusetts, über Vorhersehbarkeit13 benutzte. Die damalige Frage lautete, ob der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien in Texas einen Tornado auslösen könne. Damit ist nicht gemeint, dass der Schmetterling die Ursache des Tornados sein könnte, sondern dass der Flügelschlag des Schmetterlings die Anfangsbedingung sei, die eine Kaskade interaktiver Ereignisse in Gang setze, welche zu einer großen Veränderung in einem anderen Teil des Gesamtsystems führt. Wenn wir in das therapeutische Erlebnis etwas Neues einfügen, verändern wir dadurch jedes Mal potenziell die Anfangsbedingungen, und das kann erstaunliche Folgen haben. Die Aufmerksamkeit eines Klienten auf einen anderen Aspekt zu lenken oder ihn auf eine andere Perspektive fokussieren zu lassen ist ein Beispiel hierfür, wobei der Effekt noch stärker ist, wenn der Klient seinen Blickwinkel oder seine Perspektive von selbst verändert. Eine effektive therapeutische Veränderung geht immer von Klienten selbst aus; deshalb können kleine Veränderungen eine starke Wirkung haben.

Chaos in einem komplexen System reagiert sensibel auf die Anfangsbedingungen. Verändern sie sich auch nur geringfügig, kann das anderswo im System starke Auswirkungen haben.

Ordnung und Unordnung

Ist das System so überaktiv, dass es keine Ordnung hat, kann es keine nützliche Form von Verhalten zeigen. Man könnte Manie und Rage als chaotische Zustände bezeichnen. Am anderen Ende der Skala, wo ein Übermaß an Ordnung angesiedelt ist, ist eingeschränkte Aktivität möglich, der betreffende Klient ist in Erstarrung gefangen, und das System vermag keine funktionalen Formen und Verhaltensweisen zu demonstrieren. Depression und Zwangsverhalten könnte man als Erstarrungszustände bezeichnen. Nach Daniel Siegels Auffassung könnte man fast alle im DSM-5 beschriebenen psychischen Störungen als chaotische oder starre Zustände einordnen (Siegel 2007, S. 198–199, dt. 2007: Das achtsame Gehirn; American Psychiatric Association 2013). Allerdings gibt es insbesondere in offenen lebenden Systemen eine natürliche Neigung zur Ordnung, weil Chaos und Erstarrung eine adäquate Funktionsweise unmöglich machen und sogar zu völliger Funktionsunfähigkeit führen können. Wir halten von Natur aus ein gewisses Maß an Ordnung aufrecht, um überleben zu können. Am Rande von Chaos oder Erstarrung befindet sich eine abstrakte Grenze zwischen Ordnung und Unordnung. In diesem Bereich kann ein Übergang von einer chaotischen oder starren Phase zu einer geordneteren und funktionsfähigen Phase stattfinden.

Dieser Bereich ist der Punkt des Phasenübergangs im Raum zwischen den Rändern des Chaos oder der Starrheit. In dieser Zeitspanne kann eine Therapie besonders effektiv sein, weil das System des Klienten sich unter dem größten »Druck« befindet, sich in Richtung eines geordneteren oder ungeordneteren Zustandes zu bewegen. Dies bedeutet, dass die Volatilität für eine Veränderung ausreicht. Man kann das am Verhalten von Wasser beobachten. Wir alle wissen, dass Wasser normalerweise bei einer bestimmten Temperatur zu kochen beginnt und dass es bei einer bestimmten anderen Temperatur gefriert. Obwohl sich die Wassertemperatur zwischen den Zuständen Eis, Flüssigkeit und Gas fließend verändert, setzt der Übergang von einem Zustand in einen anderen erst ein, wenn das Wasser eine Temperatur erreicht hat, die sich nur wenige Grad von der Temperatur bei Zustandsveränderung unterscheidet. Dann geht die Veränderung sehr schnell und dramatisch vonstatten. Dieser kleine Temperaturbereich ist der Bereich des Phasenübergangs (Rosen 2004, S. 243–245; Olander 2007). Bei allen Temperaturen zwisüchen den Korridoren der Phasenübergänge bleibt der Zustand des Wassers stabil, weil er sich an Temperaturveränderungen anpassen kann, um den aktuellen Zustand aufrechtzuerhalten d. h., dass dort Wasser eine stabile Flüssigkeit ist). Wasser befindet sich dann in einem Zustand harmonischer Balance, obwohl sich die Temperatur in einem bestimmten Bereich verändern kann. Nähert sich das flüssige Wasser dem Zustand des Gefrierens, reicht ein wenig stimulierende Wärme aus, um die harmonische Balance des flüssigen Zustands aufrechtzuerhalten. Ebenso braucht man, wenn sich die Wassertemperatur dem Kochpunkt nähert, nur die Wärme zu verringern, damit sich die Wassermoleküle wieder so weit beruhigen, dass der flüssige Zustand erhalten bleibt. Charakteristisch für einen Zustand harmonischer Balance ist nicht, dass das Wasser im flüssigen Zustand immer eine bestimmte Temperatur hat, sondern der Zustand harmonischer Balance besteht darin, dass das Wasser eine Flüssigkeit bleibt. Nachdem wir uns nun schon so lange mit diesem Vergleich beschäftigt haben, können wir an die Stelle des »Wassers« den menschlichen »Zustand der Gesundheit und des Wohlbefindens« setzen und so den Vergleich auf die menschliche Situation übertragen. Das erlebensbasierte Feld zwischen den Bereichen des Phasenübergangs ist das »Feld der Harmonie«. Die »Temperatur« mag sich verändern, doch der Seinszustand bleibt relativ stabil (s. Abb. 2.1).

 

Klienten erscheinen oft zur Therapie, wenn sie sich in der Nähe eines Phasenübergangs oder bereits in einem solchen befinden. Sie können auch während der Therapie einen Phasenübergang erleben. Ob dies der Fall ist, kommt im Verhalten des Klienten zum Ausdruck. Das kann in Form von Tränen oder eines Anstiegs der Energie wie Stress oder Angst in der Sitzung geschehen. Es ist weder ungesund noch unnatürlich, sich an den Rand des Chaos oder der Erstarrung zu begeben, weil Sensibilität gegenüber Punkten des Phasenübergangs oder eine Reaktion auf diese Punkte es lebenden Systemen ermöglicht, auf die Welt zu reagieren, spontan und adaptiv zu sein und das Leben zu erhalten.

Abb. 2.1: Das »Feld der Harmonie«

Diese Abbildung repräsentiert unser postuliertes »Feld der Harmonie« zwischen desintegrierendem Chaos und zerstreuender Erstarrung. Die Harmonie wird nicht durch eine gerade Linie repräsentiert, sondern durch einen Fluss der Aktivität zwischen den sicheren Rändern des Chaos und der Erstarrung. In Zeiten des Chaos ist eine gewisse Zügelung der Kreativität erforderlich, die beruhigend wirkt und expansive Kreativität in etwas Praktikables verwandelt. Zeiten der Erstarrung erfordern kreative Stimulation, damit Energie mobilisiert und aktiviert wird. Nähert sich die weiße Linie dem Rand, muss eine Veränderung stattfinden, die »Phasenübergang« genannt wird. In unmittelbarer Randnähe spricht man von einem kritischen Phasenübergang. Eine adaptive Reaktion erhält den harmonischen Fluss aufrecht. Eine maladaptive Reaktion erzeugt exzessives Chaos oder entsprechende Erstarrung. Beide erzeugen Probleme und Schwierigkeiten, die häufig als psychische oder emotionale Störungen erlebt werden.

Ordnung und Unordnung treffen an einer abstrakten Grenze am Rand des Chaos (oder der Erstarrung) aufeinander, wo eine Phase des Übergangs von der Unordnung zur Ordnung oder umgekehrt stattfinden kann. In Perioden des Phasenübergangs ist therapeutische Veränderung am effektivsten möglich; ebenso kann es in diesen Zeiten zu disruptiven Wechseln hin zur Unordnung kommen.