Die Geschichte der Zukunft

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Weil aber in der Wirtschaftskrise der 1880er Jahre dafür kein Kredit zu bekommen ist, gründet Rathenau eine Studiengesellschaft. Das erfordert kaum Geld, bringt ihm aber Luft, um Erfahrungen zu sammeln, und Zeit, die Werbetrommel zu rühren. Mit Bankern gründet er 1883 die Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektrizität AG und ändert 1887 den Firmennamen in Allgemeine Elektrizitäts-Aktiengesellschaft. In wenigen Jahren setzt sich das elektrische System in der Wirtschaft durch.

Es verändert die Art, wie sich Unternehmen organisieren. Die Verwaltung in den Unternehmen wächst. Dieses Paradigma kann Deutschland viel besser umsetzen als andere Länder – weil der preußische Staat schon lange vor der Wirtschaft seine Bürokratie perfektioniert hat. In Deutschland ist das Vertrauen in Institutionen einfach größer – also auch in ein neu errichtetes Management. Aus den USA schwappt die Managementphilosophie des Unternehmensberaters Frederick Taylor über den großen Teich. Er lehrt hohe Spezialisierung in der Massenfertigung. In den kleinen Firmen haben sich die ausgebildeten Facharbeiter bisher mit der Geschäftsleitung identifiziert; jetzt übernimmt eine Managerbürokratie die Macht im Massenbetrieb mit Zehntausenden von Arbeitern. Der Taylorismus verlagert die Gestaltungsmacht weg von der operativen Ebene hoch in die Büros (das ist genau die Entwicklung, die jetzt im Übergang vom fünften in den sechsten Kondratieff wieder rückgängig gemacht wird). Mit der Elektrobranche bekommt der 1856 gegründete Verein Deutscher Ingenieure (VDI) Gewicht: Der VDI diskutiert theoretische Probleme, gibt praktische Erfahrungen weiter und setzt Normen.

Das neue technologische System spaltet die Unternehmerschaft – nach heutigen Begriffen in »old« und »new economy«: Die einen sehen sich in ihrer Firma autoritär-patriarchalisch als »Herr-im-Haus« und fordern vom Staat, Gewerkschaften zu unterdrücken. Zu ihnen gehören die Unternehmer der hoch kartellierten Schwerindustrie an Rhein und Ruhr (der beiden ersten Kondratieffs), die sich schon 1876 im »Centralverband Deutscher Industrieller« (CDI) zusammengeschlossen haben. Die jüngste, kapitalintensivere new economy des dritten Kondratieffs dagegen – Elektroindustrie, Chemie, also AEG, Siemens, IG Farben – gründet 1895 den »Bund der Industriellen« (BDI), der die neue Mittelschicht der Angestellten und »national« gesinnte Arbeiterverbände in den Staat integrieren will. Beide verschmelzen 1919 zum Reichsverband der Deutschen Industrie RDI, dem heutigen Bundesverband der Deutschen Industrie BDI.

Alle profitieren vom Elektroaufschwung nach 1890: Der Lebensstandard steigt. Facharbeiter können es sich als Erste leisten, keine Schlafstellen mehr an ärmere Arbeiter zu vermieten. Der Wohlstand erlaubt auch zunehmend schärfere Kinderschutzgesetze – und macht Kinderarbeit unrentabel. Damit hören Kinder mit dem dritten Kondratieff auf, wirtschaftliche Aktiva zu sein, was die Geburtenrate verändert und die Familienrollen. Kinder bekommen ab jetzt ihr eigenes Bett –»wie bei Kaisers«. Innenpolitisch wird die SPD in der Zeit des starken Wirtschaftswachstums zur stärksten politischen Kraft. Die Jugend rebelliert in der Jugendbewegung (ähnlich wie ihre Enkel bzw. Urenkel um 1970), der Jugendstil will anders sein und sich vom Historismus aus der Zeit des Abschwungs des zweiten Kondratieffs distanzieren. Die feineren Kreise sprechen von der Belle Époque.

Den sprunghaft steigenden Wohlstand investiert Deutschland nicht nur in Infrastruktur und technische Entwicklung, sondern auch in Menschen: Seine Bevölkerung steigt im dritten Kondratieffaufschwung von 49 Millionen im Jahr 1890 auf 66 Millionen bis zum Ersten Weltkrieg. Aber nicht allein die bloße Zahl der Köpfe, sondern die verhältnismäßig hohe Bildungsinvestition lässt Deutschland so prosperieren. Die für das boomende technologische Netz notwendigen Schultypen – Oberrealschulen, Polytechnikschulen und Technische Universitäten – gedeihen in Deutschland. In der Pisa-Studie zum Bildungsniveau hätte Deutschland vor 100 Jahren alle anderen Länder in den Schatten gestellt. Die amerikanischen »Institutes of Technology« sind den deutschen Technischen Universitäten vergleichbar.

Im Ersten Weltkrieg sind deutsche Truppen auch deswegen so effizient, weil die Grundschulbildung der Soldaten weit besser ist als in anderen europäischen Ländern (auch wenn man anmerken muss, dass sich ein großer Teil der hohen Bildungsinvestitionen wegen des vorzeitigen Heldentodes fast zweier Millionen deutscher Männer nie mehr hat amortisieren können): Während in Italien 330 von 1000 Rekruten nicht lesen können, in Österreich-Ungarn 220 von 1000 Rekruten Analphabeten sind und in Frankreich 68 von 1000, ist es in Deutschland nur einer von 1000 – kein Wunder, dass es den Deutschen besser gelingt, für den wachsenden Bedarf des dritten Kondratieffs mehr Laboranten auszubilden, Elektriker zu schulen oder Wissen über Düngemittel schriftlich an Bauern weiterzugeben. (Deutschland hat wegen seiner Chemieindustrie damals die höchsten Hektarerträge.)54

Warum so viele den Kriegsausbruch bejubeln

Damit wird das neue technologische Netz von unterschiedlichen Gesellschaften wieder unterschiedlich gut aufgenommen und umgesetzt. Wieder wächst das Produktionspotenzial in den Ländern unterschiedlich schnell. Wieder verschieben sich die wirtschaftlichen Machtgewichte, wieder mischt ein neuer Kondratieff die internationale Politik auf: 1870 produzieren die Deutschen erst ein Fünftel des britischen Eisenausstoßes, 1890 immerhin schon die Hälfte. 1910 haben die Deutschen mit 13 Millionen Tonnen die 10 Millionen Tonnen britischen Eisens überholt. Im selben Jahr gießen die Deutschen sogar doppelt so viel Stahl wie Großbritannien.

Gegenüber Frankreich ist der deutsche Machtzuwachs im dritten Kondratieff noch größer: 1880 hat Frankreich mit 25,1 Prozent des britischen Industriepotenzials des Jahres 1900 ein fast ebenso großes Gewicht wie Deutschland mit 27,4 Prozent.55 Weil sie die Basisinnovationen um Strom und Stahl aber besser beherrschen, verfünffachen die Deutschen ihr Industriepotenzial bis zum Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf 137,7 Prozent, die Franzosen können es nur wenig mehr als verdoppeln und kommen 1913 auf 57,3 Prozent der britischen Produktion des Jahres 1900. Die deutsche Kohleförderung steigt von 89 Millionen Tonnen im Jahr 1890 auf 277 Millionen Tonnen bis zum Ersten Weltkrieg – das ist fast so viel wie die britische Kohleförderung und mehr als doppelt so viel wie die französische, österreichisch-ungarische und russische Kohleförderung zusammen.

Die europäische Elektroindustrie wird von Siemens und AEG beherrscht. Deutsche Chemiekonzerne, angeführt von Bayer und Höchst, stellen 90 Prozent (!) der weltweiten industriellen Farbstoffe her. Deutschlands viel zitierte Kapitalschwäche hängt vor allem damit zusammen, dass Kapital von den Investitionen in Maschinen und Menschen schneller aufgesogen wird, als es erwirtschaftet werden kann. Zwischen 1903 und 1913 investieren die Deutschen 15,3 Prozent ihres Bruttosozialproduktes – das ist ein Spitzenwert, den sie vorher nicht erreicht haben und danach erst wieder im vierten Kondratieffaufschwung erreichen werden. Gemessen am Anteil an der Weltindustrieproduktion, erreicht Deutschland mit 14,8 Prozent 1913 seinen relativen Höhepunkt; Großbritannien steigt seit 1880 von 22,9 Prozent auf 13,6 Prozent der Weltindustrieproduktion ab, Frankreich von 7,8 auf 6,1 Prozent – am meisten nimmt der schlafende Riese USA zu, von 14,7 auf 32 Prozent der Weltindustrieproduktion.56

Warum sich die britische Produktivität verlangsamt, ist eines der bestuntersuchten Probleme der Wirtschaftsgeschichte: In den Studien geht es um Generationenunterschiede, Sozialethos, veraltete Fabriken, niedrige Produktivität, die vielen Arbeitskämpfe, mangelnde Verkaufstüchtigkeit und vieles mehr. Die Kondratiefftheorie bringt es auf einen Nenner: England verschläft schlicht die Elektrifizierung – und zusammen damit den Aufbau einer modernen Chemieindustrie. Es verliert Marktanteile und wird sogar im eigenen Land von ausländischen Produkten überrollt. Die Briten wehren sich zwar mit dem Brandzeichen »Made in Germany« gegen deutsche Produkte, aber es nützt ihnen nichts. Denn ein deutscher Unternehmer, der seine Fabrik elektrifiziert hat, ist nun mal bedeutend produktiver als ein Engländer, der noch immer daran festhält, mit einer – wenn auch ständig verbesserten – Dampfmaschine zu arbeiten, mit der schon sein Papa und sein Großvater so tolle Erfolge hatten.

1914 gibt es nur wenige kleinere Elektrofirmen in England – und diese gehören zum Teil den deutschen »Siemens brothers« oder sind Töchter des US-Giganten General Electric. Das britische Bildungswesen bringt zuwenig Ingenieure hervor, Banken und Unternehmer sind eher an kurzfristigen Renditen denn an langfristigem Engagement interessiert. Wirtschaftshistoriker schreiben, die Briten hätten eben mehr in ihrem eigenen Land investieren müssen, anstatt in aller Welt. Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg fließt die Hälfte ihrer Investitionen ins Ausland – aus Deutschland nur jede 20. Mark. Aber das ist ja keine Frage des Wollens, sondern ob die Investitionen rentabel genug sind. Weil die gesellschaftlichen Strukturen in England den dritten Kondratieff nicht fördern, gibt es dort auch wenig zu investieren.

Vor diesem Hintergrund wundern Spannungen und Flotten-Rüstungswettlauf zwischen Deutschland und England vor dem Ersten Weltkrieg nicht: Die Jahre, nachdem der »Lotse« Bismarck von Bord gegangen ist, bringen den Deutschen mit dem Wirtschaftswachstum das Hochgefühl der Wilhelminischen Ära. Aus der Perspektive der Kondratieff-Theorie ist es daher kein Wunder, dass Deutschland aufrüstet, seine wertlosen Kolonien ausbaut und sogar in blutigen Kriegen die dortige Bevölkerung dezimiert. Eine Gesellschaft, deren Wirtschaft im Vergleich zu früheren Jahren stark wächst, denkt, den konkurrierenden Nachbarstaat bald überholt zu haben und in die Tasche stecken zu können.

 

Marokko-Krisen, »Panthersprung«, Balkankriege, Spanisch-amerikanischer Krieg, Englischer Burenkrieg, Russisch-Japanischer Krieg und die japanische Expansion in China sind Ausdruck der wachsenden Spannung, die durch die Verschiebung von Macht und Ressourcen entsteht, weil die Staaten alle, aber unterschiedlich stark wachsen. Einige (wie etwa Frankreich) bekommen dabei Angst, gegenüber dem Nachbarn zu viel an Boden zu verlieren. Es wundert fast, dass der Erste Weltkrieg samt nachfolgender Revolutionen nicht eher ausbricht, und es scheint verständlich, dass so viele Zeitgenossen den Kriegsausbruch bejubeln, weil sie ihn als Erlösung von aufgestauter Spannung empfinden.

Was für ein unnötiges Säbelrasseln: Hätte Deutschland England im Imperialismus nicht herausgefordert, England wäre im Ersten Weltkrieg neutral geblieben, hätte als Schiedsrichter dafür gesorgt, dass Frankreich und Russland, die allein von Deutschland geschlagen worden wären, nicht zu sehr geschädigt werden. Die USA wären nie in den Krieg eingetreten, nach ein paar Monaten und nur Zehntausenden von Toten statt neun Millionen wäre alles vorbei gewesen. Aber so entladen sich die darwinistischen Vorstellungen im Stahlgewitter, gehen in Europa ein halbes Jahrhundert lang die Lichter aus. England schneidet Deutschland per Seeblockade von Rohstoffen und Lebensmitteln ab. Im Hungerwinter 1916/​17 sterben Tausende Zivilisten. Jeder friert, weil in den Bergwerken zuwenig Männer Kohle fördern, und was sie fördern, verfeuert die Reichsbahn für den Truppentransport. Selbst Grundnahrungsmittel gibt es nur noch gegen Bezugsschein, das Leben wird noch ungleicher als im Kaiserreich.

Eigentlich müsste dieser Krieg gleich vorbei sein: Durch die Seeblockade kommt aus Chile kein Salpeter mehr ins Deutsche Reich, das die Deutschen brauchen, um daraus Dünger, vor allem aber Sprengstoff, herzustellen. Dank ihres Vorsprungs im damaligen Strukturzyklus gelingt es ihnen aber, durch das Haber-Bosch-Verfahren den Luftstickstoff zu nutzen. Deutsche Chemiker stellen Kautschuk synthetisch aus Kohle her oder züchten Nährhefe als Zusatz für Lebensmittel, Metallurgen entwickeln Legierungen mit weniger Kupfer für die Elektroindustrie – kurz: Was ihnen fehlt, können die Deutschen oft technologisch ausgleichen. Umgekehrt ist die französische Chemieindustrie massiv von deutschen Chemie-Importen abhängig. Kriegsführung wird ein wirtschaftlicher Wettlauf darum, wer seine Produktion schneller ausweiten kann. Ohne den Kriegseintritt der USA mit ihrem Industriepotenzial hätte das Deutsche Reich den Krieg gewinnen können (und wir lägen, um Erich Kästners Gedicht »Wenn wir den Krieg gewonnen hätten« von 1931 zu zitieren, noch heute mit der Hand an der Hosennaht im Bett).

Damit beschleunigt der Krieg das Tempo, mit dem dieser Strukturzyklus erschlossen wird: Alle Volkswirtschaften bauen ungeheure Produktionskapazitäten in der Chemie und in der Schwerindustrie auf, investieren in arbeitssparende Maschinen, treiben die Elektrifizierung der Fabriken voran. Materialschlachten verschlingen nie da gewesene Güterberge. Moderne Industrien tauchen plötzlich neu in bisher ländlichen Gebieten auf. Die besser zahlende Rüstungsindustrie zieht Menschen aus den Dörfern in die Städte, wo sie auch nach dem Krieg bleiben. Millionen von Frauen jeden Alters und fast aller Schichten ersetzen die Männer in den Fabriken und öffentlichen Stellen (das bringt ihnen dann 1919 in der Weimarer Republik die formale Gleichberechtigung und endlich das Recht, wählen zu dürfen). Hochbetagte in Altersheimen erinnern sich heute an das Vorhängeschloss, das sie damals an der Brotdose der Mutter fanden. Der Weltkrieg am Höhepunkt des dritten Aufschwungs beendet die Jahre, in denen auch die ärmere Mehrheit ihr Leben verbessern kann.

Warum er zu Ende geht und warum es auch ohne Krieg zu einer – wenn auch nicht ganz so schweren – Weltwirtschaftskrise gekommen wäre, zeigt die lange S-Kurve, in deren Form die Basisinnovation verläuft: Um 1920 sind die meisten amerikanischen Fabriken elektrifiziert (s. Grafik). Das technologische Netz, das die Produktivitätsfortschritte der vergangenen 30 Jahre geschaffen hat, kommt seiner maximalen Ausdehnung nahe. Seine Wachstumsraten werden zu gering, um noch die ganze Wirtschaft zu tragen. Damit sinken Preise, Gewinne und Löhne. In den Privathaushalten wie in den Firmen bleibt weniger Geld übrig – der Rückwärtsgang des dritten Kondratieffs wirkt mächtiger, als der nächste Strukturzyklus schon Beschäftigung aufbauen kann.


Als Nikolai Kondratieff seine Aufsätze Anfang der 1920er Jahre veröffentlicht, schaut er realistisch zurück auf einen vergangenen Auf- und einen bevorstehenden langen Abschwung. Ob es danach wieder einen neuen Aufschwung gebe, sei jedoch nicht zwangsläufig. »Wenn ein neuer Zyklus beginnt, stellt er keine exakte Wiederholung der vorhergehenden dar, denn die Volkswirtschaft hat bereits eine neue Stufe erklommen. Der Mechanismus bleibt jedoch im neuen Zyklus im wesentlichen derselbe.«57 Wenn das, was er da entwickelt habe, richtig sei, schreibt er am Ende des Aufsatzes über die Preisdynamik, dann seien »die Quellen des in der Weltwirtschaft … herrschenden Depressionszustandes noch keinesfalls ausgeschöpft«. Wie Recht er hatte, sollte sich im folgenden Jahrzehnt zeigen.

3. Kondratieffabschwung Die schlimmste Wirtschaftskrise unserer Erinnerung

Keine Weltwirtschaftskrise ist so stark im kollektiven Gedächtnis wie die ab 1929. Selbst Jahrzehnte danach »sind sich die Experten noch immer nicht darüber einig, worin die Ursachen der Depression lagen«, schreibt der Wirtschaftshistoriker Rondo Cameron58, immerhin Herausgeber des »Journal of Economic History«. Was die etablierte Wirtschaftswissenschaft dafür an Gründen diskutiert – Kriegsfolgen, Deflation, Agrarkrise, weltweiter Protektionismus und Verteilungskämpfe zwischen Arbeitern und Unternehmern – hat die große Weltwirtschaftskrise aber nicht ausgelöst. Das sind lediglich Symptome und Folgen eines erschöpften Kondratieffzyklus. Auch die Siegerpolitik beschleunigt die Depression nur, besonders in Deutschland.

Wieso soll auch ein Weltkrieg einmal für eine Depression und ein anderes Mal, nach 1945, für ein Wirtschaftswunder verantwortlich sein? Und auch der große Börsenkrach im Oktober 1929 hat keine Krise ausgelöst, sondern nur die schon bestehende weiter verstärkt – schon lange vorher, Mitte 1927, produziert die Industrie in gedrosseltem Tempo. Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass die 20er Jahre nur »golden« sind, wenn man sie aus der Sicht der Kriegs- und Hungerjahre betrachtet: In Wirklichkeit hastet diese Zeit wie in jedem Kondratieffabschwung von Krise zu Krise.

Warum die Wirtschaft Ende der 20er Jahre schrumpft, erschließt sich einem, wenn man sieht, dass die meisten Fabriken jetzt elektrifiziert und die meisten Haushalte mit Strom versorgt sind (siehe Grafik S. 98). Weil die Produktivität nicht mehr im selben Tempo wächst, wirkt der Mechanismus des Kondratieffabschwungs: Die Gewinne schmelzen dahin, die Preise fallen, die Unternehmen flüchten in Überproduktion, die keiner braucht. Wirtschaftliche Verteilungskämpfe senken die Löhne und zerstören den Rechtsstaat. Die Zinsen sinken. Und weil es sonst keine rentablen Investitionsmöglichkeiten gibt (und die neuen Wachstumsmotoren noch nicht stark genug sind), fließt das Geld wie 1873 in die Spekulation mit Aktien. Die Kurse schießen so unrealistisch nach oben, dass sie hinterher umso tiefer fallen. Der Rest sind Begleiterscheinungen des langen Abschwungs: Kurzfristige US-Kredite werden aus Deutschland abgezogen, die geliehene Konjunktur fällt auf den Boden der Realität zurück, es mangelt an Liquidität, Banken und Firmen brechen zusammen, protektionistische Zölle unterbinden den Welthandel noch stärker, die Absatzkrise verschärft sich, die Arbeitslosigkeit explodiert. Aber der Reihe nach.

Die sozialen Erscheinungsweisen des Kondratieffabschwungs sind sehr gut in den Kinderbüchern von Erich Kästner nachzulesen: Die Krise verstärkt die Straßenkriminalität, Alleinerziehende überleben sehr mühsam (»Emil und die Detektive«), Ehescheidung, verdeckte Arbeitslosigkeit und von außen erzwungene berufliche Belastung zerstören Familien (»Das doppelte Lottchen«), die unteren Schichten sind von der Krise stärker betroffen, die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander, und gerade Kinder müssen früh in die Lücken springen, weil Eltern aus wirtschaftlichen Gründen mit dem Leben nicht mehr fertig werden und Krankheit in den wirtschaftlichen Ruin führt (»Pünktchen und Anton«). Wir werden diese Bücher jetzt wieder brauchen. Weil sie Kinder ermutigen, nicht zu resignieren, sondern sich untereinander und den Erwachsenen zu helfen. Außerdem beschreiben sie eine lang andauernde Strukturkrise ebenso real wie akademische Geschichtsbücher.

Nachkriegs-Rezession oder Kondratieffabschwung?

Zum einen – ja: Der Krieg schwächt die europäischen Länder. 1919 müssen in Deutschland sechs Millionen Soldaten wieder ins Arbeitsleben integriert werden. Die Landwirtschaft erntet nur zwei Drittel der Vorkriegsmenge und die Industrie erzeugt 38 Prozent von 1913. Der Versailler »Vertrag« nimmt den Deutschen einige Grundlagen ihres Wohlstands: Sie müssen alle Handelsschiffe über 1600 Bruttoregistertonnen abliefern, dazu 5000 Lokomotiven und 150.000 Waggons. Patente und Lizenzen, die vor 1914 die deutsche Zahlungsbilanz aufgebessert haben, ziehen die Alliierten ein. Mit Elsass-Lothringen, erst 1871 annektiert und jetzt wieder an Frankreich angeschlossen, verliert das Reich drei Viertel seines Eisenerzes sowie ein Viertel seiner Kohleproduktion – damals die Basis für fast alle Wirtschaftszweige und damit so wichtig wie später Erdöl oder heute Computerbausteine.

Außerdem hat Deutschland Reparationen an die Sieger zu zahlen. Mit einem bis vier Prozent des jährlichen Bruttosozialproduktes (in Höhe von 50 Milliarden Reichsmark) sind diese aber eher ein psychologisches denn ein wirkliches Investitionshemmnis. Das ist nur etwa so viel, wie die Deutschen nach dem Ölschock 1973 für ihr Rohöl mehr bezahlen müssen und damit kein Grund für eine schwere Rezession. Das Problem sind also nicht die Reparationen, sondern das veränderte Weltwirtschaftsklima: Vorher, während des langen Kondratieffaufschwungs, haben die Deutschen Devisen im Export gut erwirtschaften können. Das ist jetzt im Abschwung für die Nachbarn ein Problem: Schon wieder würden sie Marktanteile an deutsche Firmen verlieren, deren wirtschaftliche Konkurrenz sie doch gerade erst in einem verlustreichen Krieg niedergekämpft haben. Ihre eigene Arbeitslosigkeit würde weiter steigen. Sie fangen an, ihre Grenzen für ausländische, erst recht für deutsche Waren zu schließen.

Weil die Deutschen die Reparationen jetzt nicht mehr im Export verdienen können, bieten sie Frankreich und Belgien an, die im Krieg zerstörten Ortschaften direkt wieder aufzubauen – mit eigenen Arbeitern und selbst geliefertem Material. In einem langen Kondratieffaufschwung, wenn Produktionsfaktoren wie Arbeiter und Material knapp sind, hätten diese das deutsche Angebot gerne angenommen. Aber so ist es wie früher in den 1880ern: In einem langen Kondratieffabschwung konkurrieren die Akteure eben nicht mehr um Ressourcen, sondern um Märkte. Das Überangebot an Produktionskapazität, ausgebildeten Fachleuten und sonstigem Kapital kann gar nicht ausgelastet werden – die Preise sind unter Druck. Deswegen stößt das deutsche Angebot, Dörfer und Städte in ihrem Land selber aufzubauen, auf den Widerstand innenpolitischer Lobbys – auch das ist Konkurrenz für die eigenen Firmen.

Deutschland kann 1924/​25 nur 57,5 Prozent des Handelsvolumens von 1913 exportieren. Seine Handelsbilanz bleibt stets negativ – das heißt, Deutschland kauft zum Beispiel im Jahr 1925 ein Viertel mehr im Ausland ein, als es umgekehrt ins Ausland verkaufen kann. Die Lücke in Höhe von drei Milliarden Mark finanziert das freie, weltweit nach Anlagemöglichkeit suchende amerikanische Fremdkapital – was Deutschland so anfällig macht für den Moment, als die Amerikaner in der Weltwirtschaftskrise ihr kurzfristig verliehenes Kapital aus Deutschland abziehen.

 

Aber auch die Nachbarn stehen finanziell auf wackeligen Beinen: Ihre Kriegsausgaben haben sie mit US-Krediten finanziert. Weil es lange Zeit so ausgesehen hat, als wenn Deutschland siegen würde, haben die Amerikaner um ihr Geld fürchten müssen und sind auch deswegen in den Krieg gegen Deutschland eingetreten. Danach bitten Frankreich und England die USA, ihnen einen Teil ihrer Schulden zu erlassen – was die USA kategorisch ablehnen. Anders als später im Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg haben sie keine Ressourcen zu verschenken. Das ist der Grund, warum Frankreich so unerbittlich Reparationen von Deutschland fordert. Um dem Nachdruck zu verleihen, marschiert es 1923 ins Rheinland ein und löst damit eine Hyperinflation aus.

Normalerweise wird Geld vor allem am Ende eines langen Aufschwungs weniger wert, wenn in der Hochkonjunktur alle Produktionsfaktoren knapp sind und die Preise steigen. Die Inflation von 1923 dagegen – zu Beginn des langen Abschwungs – ist künstlich: Schon während des Krieges hat der Staat vier von fünf Mark, die er ausgibt, auf Pump finanziert; 1919 immerhin noch die Hälfte. Als das Reich während des Ruhrkampfes die Gehälter der Beamten im französisch besetzten Rheinland weiter bezahlt, finanziert es 90 Prozent seiner Ausgaben einfach dadurch, dass die Reichsbank eben mehr Papiergeld druckt. Die nicht durch reale Güter gedeckten Ausgaben entwerten die Reichsmark rapide. Der Mittelstand verliert seine Ersparnisse, seine Kapitallebensversicherungen, seine Renten. Zusammen mit einem Haufen anderer konservativ-nationalistischen Kräfte versucht Hitler in diesen Wirren das erste Mal, die demokratische Regierung wegzuputschen.

Aber nicht nur der deutsche Handel wird behindert: Nach dem Krieg gibt es in Europa nicht mehr 14, sondern 27 verschiedene Währungen und 20.000 Kilometer zusätzliche Grenzen, die Fabriken von ihren Rohstoffen trennen, Stahlwerke von ihren Kohlegruben und landwirtschaftliche Gebiete von ihren Märkten. Der Krieg hat den Welthandel unterbrochen, aber der Waffenstillstand belebt ihn nicht wieder. Versuche zu Beginn der 1920er, zum Freihandel zurückzukehren, scheitern daran, dass plötzlich überall die Preise sinken (wofür eben nicht der Krieg, sondern die nachlassenden Produktivitätsfortschritte im Kondratieffabschwung verantwortlich sind).

Einige Länder subventionieren Exportgüter, um sie im Ausland überhaupt noch verkaufen zu können. Das hilft jedoch nicht der eigenen Ausfuhr, sondern verschwendet die eigenen Steuergelder ebenso wie die der anderen Staaten, die dasselbe tun (das haben wir 2009 mit der Auto-Abwrackprämie erlebt). Außerdem kämpfen alle darum, den Devisenkurs ihrer Währung am schnellsten abzuwerten – damit sie ihre Produktion noch billiger verkaufen können (zu diesem Zweck drucken die USA heute Dollar in großen Mengen ohne entsprechenden Gegenwert). Das Konzept scheitert an der Gegenreaktion des Auslands. Der Welthandel schrumpft. Komparative Handelsvorteile – ein Land kann Produkt A besser herstellen als Produkt B, im Nachbarland ist das genau umgekehrt – verfallen ungenutzt. Dadurch stagniert die Produktivität nicht nur, sie sinkt sogar, weil man mit mehr Ressourcen aufwändig etwas herstellt, was andere eigentlich viel besser können. Wohlstand und Beschäftigung gehen zurück.

Typisch für den Kondratieffabschwung, fangen auch die Amerikaner an, Zollwände zu mauern, obwohl sie doch während des Krieges so erfolgreich die Märkte der anderen (vor allem der Deutschen) besetzt haben. 1921 verbieten sie kurzerhand, deutsche Farbstoffe zu importieren, um die eigene Farbindustrie zu schützen. Die gab es bis 1914 gar nicht, sie entstand erst im Krieg mit Hilfe von einkassierten deutschen Patenten. 1922 folgt ein Gesetz mit den höchsten Außenzöllen in der Geschichte der USA. Sich selbst autark zu versorgen, ohne auf andere Länder angewiesen zu sein – am meisten wird Nazi-Deutschland darum (erfolglos) kämpfen. Doch auch hier gilt, dass Hitler nur konsequenter fortsetzt, was schon vorher üblich gewesen ist.

Auch die Landwirtschaft leidet in den 20er Jahren weltweit. Während die Preise für Lebensmittel und für Ackerland in den USA im Krieg hochschnellen und selbst bisher nicht genutzte Gebiete etwa in Lateinamerika bebaut werden, fallen die Preise danach wieder rapide. Amerikanische Landwirte, die sich Böden dazugekauft haben, gehen bankrott (das ist derselbe Mechanismus wie im ersten Kondratieffabschwung, als die Bauern ihre Kredite nicht mehr bezahlen konnten, die sie im Aufschwung ihren ehemaligen Grundherren abgekauft hatten). Einige Länder versuchen, das Überangebot einzuschränken, indem sie es gar nicht erst auf den Markt bringen. Brasilien – damals stellt es 60 bis 70 Prozent des Kaffees der Welt her – schüttet ihn tonnenweise ins Meer. Das hebt aber nicht wie erhofft den Preis, sondern ermutigt andere Anbieter, ebenfalls Kaffee auf den Markt zu bringen.

Fazit: Reparationen, Handelskriege, sinkende Preise, Zinsen fast bei null und Überkapazitäten – die Weltwirtschaftskrise ist keine Folge des Ersten Weltkrieges, sondern die Folge eines erschöpften Kondratieffzyklus. Die hohe Arbeitslosigkeit entsteht also nicht, weil die Zinsen und Löhne zu hoch sind oder die Geldmenge zu niedrig, sondern weil das Produktivitätswachstum stagniert und es daher an Investitionsmöglichkeiten und Beschäftigung fehlt. Der technische Fortschritt in den altbekannten Branchen macht nur mittelfristig immer mehr Arbeiter überflüssig. Anders als später beim Computer begrüßen die Gewerkschaften der 1920er Jahre den technischen Fortschritt: Maschinen ersetzen die schweren, gesundheitsschädlichen und abstoßenden Arbeiten an Hochöfen, in der Fabrikhalle oder unter Tage. Für Arbeitervertreter ist der technische auch der Schlüssel zum gesellschaftlichen Fortschritt.

Beispiel Bergbau: Hauten die Bergleute 1913 noch fast alle Kohle mit Hand und Hacke oder vorbereiteten Sprengungen aus dem Untergrund, arbeiten sie zunehmend mit elektrischen Presslufthämmern: 1925 werden schon über ein Drittel und 1929 über 90 Prozent der geförderten Kohle mit Presslufthämmern gehauen. Dementsprechend weniger Bergleute sind für die Nachfrage nötig: Ihre Zahl geht von 545.000 (1922) auf 353.000 (1929) und 190.000 (1932) zurück. Typisch für eine Erschöpfungszeit ist auch, dass die Arbeitszeit kürzer wird, weil es ein Überangebot an Arbeitssuchenden gibt: von 57 (1910/​14) und 50,5 (1925) auf 41,5 Stunden in der Woche (1932). (Im langen Aufschwung, wenn gar nicht genug produziert werden kann, steigt die Arbeitszeit – wie in den 1950er Jahren und in den New-Economy-Berufen der 1990er Jahre des fünften Kondratieffaufschwungs.)

Die Menschen werden aber nicht deshalb arbeitslos, weil die Wirtschaft jetzt so produktiv geworden ist – die Produktivität pro Arbeitsstunde steigt zwar weiter, aber viel langsamer als im Kaiserreich und in den ersten 20 Jahren der Bundesrepublik, als die Volkswirtschaft boomte. Die Arbeitslosigkeit der 20er Jahre entsteht, weil das neue technologische System noch nicht produktiv genug ist, um Hunderttausende von Arbeitskräften ausreichend effizient einzusetzen. Deswegen investieren die Unternehmen selbst in den relativ gefestigten Jahren 1925 – 29 auch nur 10,5 Prozent des Nettosozialprodukts – im Kondratieffabschwung fehlen Investitionsmöglichkeiten. Das ist im langen Aufschwung vor 1914 und in den 1950ern ganz anders gewesen: Damals werden netto 15 Prozent des Sozialproduktes investiert.

Was in den 1920er Jahren neu erfunden wird – Fernsehen, das Radio wird populär –, schafft noch keine wirklich große Beschäftigung. Auch das Fließband, von Henry Ford 1913 im Autobau eingeführt, läuft 1930/​31 erst in zwei bis drei Prozent der deutschen Betriebe. Wer bei Ford in Berlin eine Stelle am Band erhält, verdient zwar den Traumlohn von bis zu 20 Mark am Tag – so viel wie andere Berliner Metallarbeiter in einer Woche. Nach drei bis zehn Monaten ist er allerdings körperlich so kaputt, dass er aufgeben muss und vom nächsten ersetzt wird. Wer älter ist als 35 Jahre, wird gar nicht erst eingestellt.59 Eine breite Schicht von Arbeitern lässt sich bei diesen Verhältnissen noch nicht beschäftigen.