Die Geschichte der Zukunft

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Die deutschen Adeligen leiden zwar insgeheim darunter, dass sie von den sozialen Aufsteigern wie Krupp, Thyssen oder Borsig in der Regel an Geld, Wissen und Tüchtigkeit längst überholt worden sind. Aber sie finden einen genialen Trick, ihren höheren Rang mit formalisiertem Verhalten zu kitten: Geld und Tüchtigkeit reichen nicht – man muss die Etikette der vornehmen Verhaltensweisen beherrschen. »Vor der Raffinesse des höfischen Zeremoniells schrumpfen sie (die Neureichen) unversehens wieder aufs plumpe bürgerliche Normalmaß zusammen.«36 (Das wirkt noch heute überall dort weiter, wo die formale Höflichkeit wichtiger ist als die Höflichkeit des Herzens.)

Während in den USA derjenige ein toller Typ ist, der eine Fabrik aufbaut oder erfolgreich eine Bank führt, ist in Preußen jeder kleine Leutnant einem noch so erfolgreichen Geschäftsmann überlegen. Und ein brillanter Professor hat in der preußischen Hackordnung selbst gegen einen leicht verblödeten Major das Nachsehen. Künstler, Philosophen und Geschichtsschreiber wiederum verunsichern Geld- und Blutsadel damit, den höchsten Rang den Geistesgrößen zuzuschreiben – also ihresgleichen – und sich so selbst an die Seite der Mächtigen zu stellen. Eine kooperative, christliche Gesellschaft ist das wahrlich nicht, egal, wie viele Kirchen gebaut werden. Die Zeiten waren früher weder besser noch christlicher als heute. Allein die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin: Da wird eine Kirche nicht einem Heiligen oder der Auferstehung Christi geweiht, sondern dem obersten Hierarchen des diesseitigen Staates ein Heiligenschein verpasst – ein Trick, um die Kraft der Gottgläubigkeit für die eigene Macht auszunützen. Klar, dass später mit der Niederlage des Kaisers im Ersten Weltkrieg für manche auch der liebe Gott abdankt.

Nur ein langer Aufschwung verbessert die Situation der Unterschicht

Je länger dieser zweite Kondratieffaufschwung andauert, umso heißer läuft die Konjunktur. Abgesehen von schwierigeren Jahren 1857/​60 geht es mit der deutschen Wirtschaft ständig bergauf. Damit werden alle Produktionsfaktoren immer knapper, auch Arbeit. In jedem Verlauf eines langen Kondratieffaufschwungs verbessert sich die Verhandlungsposition der Arbeiter – je mehr die Geschäfte der Unternehmer florieren, umso wirksamer ist ein Streik. Besonders im Krieg ist die Konjunktur bis zum äußersten angespannt – die ersten größeren Streiks finden statt im Kriegsjahr 1864 (gegen Dänemark), angezettelt von örtlichen Arbeitern. Und die Fabrikanten geben nach – was sie dank der Kriegskonjunktur auch können. Die höchsten Lohnsteigerungen setzen die Arbeiter in den Boomjahren 1870/​73 durch. Da alle Branchen rotieren und täglich neue Aktiengesellschaften gegründet werden, wird der Faktor Arbeit knapp – trotz der Zuwanderung aus dem Osten. Einzelne Streiks, die auf Betriebe oder regionale Branchen beschränkt sind, erkämpfen in Einzelfällen 25 oder gar 35 Prozent mehr Lohn (ähnlich den 14 Prozent Lohnsteigerungen, welche die Gewerkschaften Anfang der 1970er Jahre durchsetzen).

Das ist nun so gar nicht nach dem Drehbuch von Karl Marx, der sein Werk vor allem unter dem Eindruck des ersten Kondratieffabschwungs geschrieben hat. Der Kapitalismus bricht nie zusammen, weil die Profitraten der Unternehmer eben nicht immer nur fallen, sondern im nächsten langen Aufschwung wieder saftig steigen. Der Marxismus ist damit schon obsolet, als sich der zweite Kondratieff entfaltet. Statt Konfrontation setzen die ersten deutschen Gewerkschaften wie die Barmer und Elberfelder Türkisch Rotfärber-Gesellschaft 1848 im Kondratieffaufschwung eher auf Kooperation mit den Arbeitgebern. Pragmatische Führer wie Ferdinand Lassalle wollen reale politische Macht gewinnen: Die Arbeiter sollen sich als politische Partei organisieren, die das allgemeine und gleiche Wahlrecht anstrebt. Nachdem die tägliche Arbeitszeit von 14 Stunden in den 1840ern auf zwölf Stunden sinkt, bleibt neben dem Schlaf erstmals freie Zeit, die eigenen Interessen zu organisieren. 1863 gründet Lassalle den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, der die Arbeiterbewegung sammelt. Nachdem er ein Jahr später bei einem Duell aus lächerlichem Anlass stirbt (seine Geliebte ist zu ihrem Ex-Verlobten zurückgekehrt), zerfällt der Arbeiterverein teilweise.

Wilhelm Liebknecht und August Bebel gründen 1869 in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, mit der Lassalles Anhänger 1875 unter dem Namen Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands zusammengehen. Nur leider sind jetzt mit den wirtschaftlich guten Zeiten auch die politisch guten Zeiten für die Arbeiterbewegung vorbei: In den Krisenjahren ist die Verhandlungsposition der Unternehmer stets besser (wie in jedem langen Abschwung). Dass es zum großen Gründerkrach mit anschließender lang andauernder Wirtschaftskrise kommt, ist jedoch keine Laune des Wetters oder der Finanzmärkte, sondern liegt daran, dass sich das technologische Netz des zweiten Kondratieffs allmählich erschöpft.

Was wir 2001 und 2008 aus dem Gründerkrach von 1873 hätten lernen können

Weil nicht der Staat, sondern die Privatwirtschaft den Eisenbahnzyklus vorantreibt, kommt das nötige Kapital aus der wohlhabenderen Mittelschicht: Wer Anteile kauft, verleiht sein Geld zu einem Zinssatz, den er nicht kennt, weil der davon abhängt, wie rentabel sich die Firma in Zukunft entwickeln wird. Schon in den 1860ern werden die Eisenbahn- oder Bankaktien für immer mehr Leute attraktiv. 1870/​71 fallen die Aktienkurse zunächst – durch einen externen Schock: Den deutsch-französischen Krieg. Doch dann bricht ein beispielloses Aktienfieber aus: Mittlere Familienunternehmen werden in Aktiengesellschaften umgewandelt. Ein Finanzkomitee kauft dem bisherigen Besitzer die Firma zu einem weit überhöhten Preis ab, zweigt sich in Form von Spesen, Provisionen und Gebühren eine ordentliche Summe ab und gibt dann so viele Aktien aus, dass das Grundkapital zwei bis dreimal so hoch ist wie der tatsächliche Wert des ganzen Betriebes.

Gut aufgemachte Prospekte und sensationelle Zeitungsberichte treiben das zahlungsbereite Publikum zu. Sie erzeugen künstlich Knappheit, indem nur einige Banken die Aktien anbieten – und nur am ersten Tag noch zum Ausgabekurs von 100 Prozent. So suggerieren sie, nur der könne schnell reich werden, der sofort zugreift. Alle wollen möglichst viel verdienen und möglichst wenig dafür tun. Immer zahlreicher werden Finanzmakler, die in der Nachbarschaft Aktien anbieten. »Niemand machte sich mehr die Mühe, auf solide Art zu wirtschaften, alles musste möglichst schnell gehen und möglichst hohe Gewinne abwerfen«, schreibt der Journalist Günter Ogger in seinem Bestseller »Die Gründerjahre«.37

Die preußische Regierung reagiert am 27. Juni 1870 mit dem neuen Aktiengesetz auf die wachsende Nachfrage und räumt wesentliche Hindernisse aus dem Weg: Jetzt ist keine staatliche Konzession mehr nötig, um eine AG zu gründen, sondern jeder darf so oft und so viel gründen, wie er will; Geschäftsleitungen sind keiner Kontrollbehörde mehr unterworfen. Sind in den fast drei Generationen zwischen 1790 und 1870 nur 300 Aktiengesellschaften zum Börsenhandel zugelassen worden, so kommen in den beiden (!) Jahren 1871/​72 über 780 neu hinzu – also im Schnitt eine am Tag.

»Enrichez-vous!« (Bereichert Euch!) wird zum kategorischen Imperativ der Gründerjahre und ähnelt damit den Sprüchen dubioser Management- und Motivationstrainer der späten 1990er Jahre. Reichtum erklären die Fabrikanten zur gerechten Belohnung für ein gottgefälliges Leben. »Der Reiche ist reich von Gottes Gnaden, der Arme aus demselben Grund – das war die Weltanschauung der Sozialdarwinisten«, schreibt Ogger38.

»Das Bürgertum kopierte damit im Grunde nur den Trick des Adels, der seinen Herrschaftsanspruch jahrhundertelang mit dem Gottesgnadentum verteidigt hatte.«

Am Kondratieff-Höhepunkt 1870/​73 überschlägt sich schließlich die Wirtschaft: Mit dem Tempo, mit dem der Geldverkehr, die Börsen und der Warenverkauf zunehmen, strömt die Landbevölkerung in die Städte. Berlin verdoppelt fast die Zahl seiner Einwohner in drei Jahren von 500.000 im Jahr 1870 auf bald 900.000 im Jahr 1873. Es kommt zu Wohnungsnot und Mietanstieg (wie in München während der hitzigsten Jahre des Computeraufschwungs). Während eine normale Bürgerfamilie vor 1870 etwa ein Sechstel des Haushaltseinkommens für Miete ausgibt, sind es zwei Jahre später schon ein Viertel.

Wirtschaftshistoriker erklären die Börsenhausse samt anschließendem Crash 1873 mit den hohen Reparationszahlungen, die Frankreich nach seiner Niederlage am 28. Januar 1871 an Preußen zu zahlen hat: fünf Milliarden Goldfrancs innerhalb von drei Jahren – eine unvorstellbare Summe, die damals etwa dem jährlichen Volkseinkommen Preußens entspricht. Das Geld überschwemmt den Finanzmarkt, weil der preußische Staat damit nicht etwa eine neue Infrastruktur errichtet, sondern vor allem seine Schulden zurückzahlt. Das Geld, das die Bürger dem Staat in Kriegsanleihen und den Banken geliehen haben, steht nun plötzlich im Überfluss frei zur Verfügung. Weit mehr Geld wird angeboten, als sich Firmen oder Privatpersonen ausborgen wollen, obwohl doch der Preis für das geliehene Geld, der Zins, ins Nichts absinkt. Aus der Sicht der Kondratiefftheorie liegt das aber nicht an den französischen Reparationszahlungen, sondern daran, dass es im Höhepunkt des Zyklus kaum noch rentable Investitionsmöglichkeiten gibt. Hätte Frankreich seine Reparationen 1850 zu zahlen gehabt, das Geld hätte verhindert, dass im langen Aufschwung die Zinsen steigen, und wäre vom Eisenbahnbau und dem dadurch angeregten Unternehmertum aufgesogen worden.

 

So aber passiert, was auch ohne französische Geldspritze passiert wäre: Wer Geld hat, reagiert wie zu allen Zeiten (1927/​29, 1973/​74, 1996/​2001 und 2005/​2008), wenn mit festverzinslichen Anleihen nichts mehr zu verdienen ist. Sie kaufen Realwerte wie Rohstoffe oder jetzt eben vermehrt Aktien und spekulieren darauf, dass deren Wert in Zukunft stark steigt. Und das tut er auch. Aber nicht deshalb, weil die Firmen oder Rohstoffe nachhaltig an Besitz und Mehrwert zunehmen, sondern weil die anderen Marktteilnehmer gerade auch nichts anderes mit ihrem freien Geld anzufangen wissen, als es in spekulative Anlagen zu stecken. Und weil alle kaufen, steigt deren Wert. Je mehr sich herumspricht, dass man zumindest auf dem Papier mühelos reich werden kann, desto mehr Menschen steigen in das Geschäft ein. Bis selbst die untersten Besitzschichten wie Dienstboten ihren Spargroschen zur Bank tragen und darauf bestehen, irgendwelche Aktien zu erwerben. Bis 1870 haben sie kaum gewusst, was eine Aktie, geschweige denn die Börse, ist.

Schade, dass Generationen ihre Erfahrungen jedes Mal wieder mit ins Grab nehmen. Sie hätten die Aktionäre der »neuen Börsenkultur« des Jahres 1999/​2001 vor Schaden bewahrt. Denn das Problem ist jedes Mal dasselbe (und es liest sich wie die Ereignisse auf den Weltfinanzmärkten 2008): Irgendwann sind die Kurse völlig überbewertet. Es braucht nur noch Anlässe, den Rückwärtsgang einzulegen. Am 7. Februar 1873 fliegen Schwindeleien des Eisenbahnkönigs Bethel Henry Strousberg beim Bau der Pommerschen Centralbahn und der Berliner Nordbahn auf – und sorgen dafür, dass jeder seine Strousberg-Aktien verkaufen will. Auch in den USA purzeln plötzlich die Eisenbahn-Aktien, was die Unruhe in Europa verstärkt. Als im Mai in Wien das Gerücht herumgeistert, zwei der größten Banken, darunter die Wiener Kreditanstalt, stünden vor dem Zusammenbruch (was stimmt), stürmen Sparer und Aktionäre die Schalter, um ihre Wertpapiere so schnell wie möglich zu verkaufen.

Die Kurse stürzen ab. Und zwar schließlich quer Beet durch alle Branchen. 61 Banken, 116 Industrieunternehmen und vier Eisenbahnunternehmen machen pleite. Hunderttausende verlieren ihre Ersparnisse, ganze Familien verarmen auf Generationen hinaus. Statt auf Reichtum sitzen manche auf Schulden, mit denen sie Aktien gekauft haben. Zeitungen drucken Tränendrüsengeschichten etwa vom gutgläubigen Agrarier, der sein Landgut verkauft, um in der Stadt als Rentner zu leben. Von dem Geld sowie mit einem Kredit kauft er Aktien einer erst zehn Monate alten »Centralbank für Bauten«, die zwar schon zehn Monate nach Gründung eine Superdividende von 43 Prozent auf den Nennwert der Aktie ausschüttet, der etwa ein Viertel des Kurses beträgt. Dieser beginnt jedoch plötzlich stark zu sinken, und nach nur einem halben Jahr ist das Vermögen aufgebraucht, der Restwert der Aktien reicht nicht, die Schulden zu begleichen.39 Die Selbstmordrate steigt 1873 so sprunghaft an wie später auch 1929.

An den Börsen sinkt der Aktienkurs ins Bodenlose und noch 1876 liegen die Kurse im Schnitt um 50 Prozent unter den Notierungen des Booms bis zum Februar 1873. Der Bankier Gerson Bleichröder, der die Krise glimpflich überstanden hat, schätzt damals, dass die Deutschen ein Drittel ihres Nationalvermögens verloren haben.

Auch die Immobilien-Blase bricht zusammen. Baugesellschaften machen reihenweise Pleite, weil ihre Grundstücke nur noch halb so viel wert sind wie zu der Zeit, als sie den Kredit bekommen haben. In Berlin stehen plötzlich Zehntausende Wohnungen leer (das ist zuvor undenkbar, angesichts des Wohnungsmangels), unzählige Hausbesitzer können ihre Bankkredite nicht mehr zurückzahlen. Was kommt, ist die schwerste und längste Wirtschaftskrise des 19. Jahrhunderts.

Es ist wie nach jedem Kondratieffhöhepunkt: Niemand will mehr kaufen, niemand mehr investieren. Die Firmen bleiben auf ihren Waren sitzen (reden vom »Käuferstreik« oder machen den Euro dafür verantwortlich), sie müssen den Preis zurücknehmen und sich von Gewinnen verabschieden wie die Aktionäre von Dividenden. Weil das auch nichts hilft, stagniert die Produktion im Kondratieffabschwung, immer mehr Menschen sind arbeitslos, es kommt zum Verteilungskampf, mit dem Ergebnis, dass die Löhne sinken.

Während der zweite Kondratieff in Europa 1873 den Rückwärtsgang einlegt, überschreitet er in den USA schon 1866 den Höhepunkt40 – im Jahr nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Unterschiedliche Wendezeiten, schreibt der Ökonom Nikolai Kondratieff, würden nicht seine Theorie in Frage stellen, sondern zeigten, dass die langen Strukturzyklen in verschiedenen Ländern zwar nicht identisch, aber doch ziemlich parallel verlaufen.41 Daher kann es auch keine mathematisch exakten Wendepunkte der langen Zyklen geben – nur ein Zeitfenster, in dem die Wirtschaft umkippt.

Die Krise nach 1873 ist vor allem eine Strukturkrise: Zusätzliche Eisenbahnkilometer machen nicht mehr wesentlich produktiver, es dauert immer länger, bis sich Investitionen amortisiert haben. Die Zahl der zusätzlich verlegten Schienenkilometer nimmt ab. Deutschland baut in dem Jahrzehnt bis 1885 nur 9690 und bis 1895 noch zusätzliche 8910 Schienenkilometer.42 Das gilt für jedes Land wie Großbritannien, die USA oder Deutschland: Addiert man die bestehenden Bahnkilometer zusammen, erhält man jeweils eine lang gezogene S-Kurve, die sich in den 1830ern/​1840ern langsam entwickelt, dann in den 1850ern/​1860ern stark ansteigt und sich in den 1870ern/​1880ern wieder abschwächt. Diese Verlaufsform erklärt, warum lange Zyklen 40 bis 60 Jahre dauern, und sie erklärt den wirtschaftlichen Schwung dieser Jahrzehnte, der zuerst stotternd, dann mit Wucht die Konjunktur treibt und schließlich unvermittelt in langen Stagnationsjahren stehen bleibt: Der fallende Grenznutzen, also der sinkende Nutzen einer weiteren Investition, läutet den Kondratieffabschwung ein. Das heißt, ein zusätzlicher, neu gebauter Eisenbahnkilometer ist nicht mehr so rentabel wie bisher. Als man die großen Städte verbindet, bedeutet das einen großen Nutzen. Als man später von Kleinstädten noch Stichbahnen in die umliegenden Dörfer baut, nutzt das gerade den paar Bewohnern, deren Kapital in der Regel so gering ist, dass die Strecke schon sehr lange braucht, bis sie die Investitionskosten wieder eingefahren hat. Spekulative, aber unrentable Linien brechen zusammen.

2. Kondratieffabschwung Die große Depression

Historiker bezweifeln, ob es denn überhaupt eine Krise gegeben hat: Zwischen 1870 und 1890 verfünffachen die fünf größten Industrieländer ihre Eisenproduktion und produzieren am Ende 20-mal mehr Stahl. Doch subjektiv erleben die Menschen nach 1873 in ganz Europa eine Depression, fühlen sich ärmer als zuvor. Rückwärtsgewandt kultiviert die Kunst einen Baustil wie den Historismus, der in existenziell unsicheren Zeiten das Gefühl einer starken Trutzburg erzeugen will. Die Bayern haben das Gefühl, vor ihrem Beitritt zum Deutschen Reich 1871 (im langen Aufschwung) sei alles viel besser gewesen, was zwar stimmt, aber nichts mit den besserwisserisch auftretenden, schnodderigen preußischen Spitzenbeamten aus Berlin oder Essen zu tun hat. Ist die absolute Krisenstimmung mit apokalyptischen Visionen nur eine Massenpsychose? Nein: Die Preise, die Unternehmer pro Tonne Eisen erzielen, sinken, damit die Gewinne und im Gefolge auch die Löhne. Das Volkseinkommen geht in England von 1113 Millionen britischer Pfund 1875 auf 1076 Millionen Pfund 1880 zurück und stagniert bis etwa 1890. Die Nettoinvestitionen sinken inflationsbereinigt von 81 Millionen Pfund 1875 während der gesamten nächsten Jahre und erreichen 1890 einen Tiefpunkt mit 55 Millionen Pfund.43

Kein Wunder: Sobald ein halbwegs geschlossenes Eisenbahnnetz steht, konkurrieren Waren über eine Entfernung von Tausenden von Kilometern miteinander. Vor 1870 sind die wenigsten Bauern und Landwirte dem Wettbewerb ausgesetzt. Wer etwas mit großem Gewicht, aber relativ geringem Wert erzeugt – ein paar Tonnen Weizen –, dessen regionales Geschäft ist sicher, weil einem der Preis im Nachbarland egal sein kann, solange der Transport dorthin weit teurer ist als der Preisunterschied. Ab etwa 1870 spannt sich das Eisenbahnnetz weltweit um die Märkte: Der mittlere Westen und die Prärien der USA sind angeschlossen, bald auch die Kornkammer Ukraine, Argentinien, Australien und Kanada. Dampfschiffe können nun nennenswerte Lademengen mitnehmen. 1869 wird der Suez-Kanal eröffnet, was den Seeweg zwischen Europa und Indien/​Asien dramatisch verkürzt.

Je mehr Anbieter durch die neuen Transportmittel beim Kunden mitbieten, umso intensiver wird der Wettbewerb, umso stärker werden die Gewinnspannen gegenseitig unterboten. Wieder (wie 1929 oder wie heute) suchen Unternehmen ihr Heil in der Überproduktion, um durch noch größeren Mengenausstoß die Kosten pro Stück weiter zu drücken und zu hoffen, dass sie dann gekauft werden. Es ist eine Krise der Ertragskraft. Während auch alle anderen Länder zu kämpfen haben, wächst England noch langsamer als der Rest. Sein Anteil an der Weltindustrieproduktion sinkt von 22,6 Prozent im Jahr 1880 auf 18,5 Prozent zur Jahrhundertwende.

Erst in der zweiten Hälfte der 1890er wird England wieder wertmäßig so viel exportieren wie in den 1870ern. Selbst die USA erleben trotz Wirtschaftswachstums zum ersten Mal ernsthaft Arbeitslosigkeit und eine Krise, welche die ganze Gesellschaft erfasst. Zeitgenossen nennen die 1880er die »große Depression«.

Auch in Deutschland erscheinen die Abschwungjahre 1873 bis 1896 vielen Zeitgenossen als eine erschreckende Abweichung von den historischen Erfahrungen. Die Preise sinken im Durchschnitt um 30 Prozent bei allen Waren. Seit Menschengedenken hat es eine solch drastische Deflation nicht gegeben. Auch der Zinssatz fällt so stark, dass die Wirtschaftstheoretiker an die Möglichkeit zu glauben beginnen, das im Überfluss vorhandene Kapital könne sich zu einem frei verfügbaren und kostenlosen Gut entwickeln. Die Profite schrumpfen zusammen. Für die damals Lebenden scheint sich die Depression unendlich lange fortzusetzen. Sie haben den Eindruck, das Wirtschaftssystem sei erschöpft.44

Das hat nichts mit Psychologie zu tun. Politiker irren, wenn sie meinen, sie könnten heute mit Psycho-Tricks und positivem Denken einen Aufschwung herbeireden. Ebenso halbwahr meint der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard in den 1950er Jahren, Wirtschaft sei zur Hälfte Psychologie. Natürlich hängt es von der Stimmung der Menschen ab, ob sie ihr Geld ausgeben oder im Sparstrumpf behalten. Aber Stimmung ist kein Hirngespinst, keine Einbildung, sie ist langfristig nicht mach- oder manipulierbar. Die Stimmung hängt von den realen Produktivitätssteigerungen ab, welche die Menschen hautnah spüren: Wenn sie für denselben Output weniger arbeiten müssen, für denselben Preis plötzlich viel bessere Waren einkaufen, oder umgekehrt, wenn sie für denselben Lebensstandard immer härter arbeiten müssen oder ihre Firma in Konkurs geht.

Die Gewinne der Unternehmen schmelzen so dahin, dass die kleinen Betriebe, welche die Industrialisierung getragen haben, die Krise nicht überleben – entweder, weil sie vom Markt verschwinden oder weil sie durch den ökonomischen Druck massiv wachsen: Bald zählen die Arbeiter bei Vickers in Barrow, Armstrong in Newcastle oder Krupp in Essen nach Zehntausenden. Es entstehen zwar wenige, dafür aber in jeder Branche immer größere Firmen, die untereinander die Preise absprechen und machtvoll Druck auf die Politik ausüben. Aber die Kartelle lösen gesamtwirtschaftlich keine Probleme, sie zementieren nur die schwache Konjunktur. Denn die Heimatmärkte stagnieren ja deswegen, weil es an Produktinnovationen und besseren Verfahren fehlt – Preisabsprachen verringern noch keine Herstellungskosten.

Das andere Überlebensrezept der Unternehmer im langen Abschwung ist die Flucht in noch größeren Massenausstoß, um die Stückpreise zu verringern. Doch der heimische Markt kann die vielen Güter gar nicht mehr aufnehmen. Das verändert die Politik: Während die Länder im Kondratieffaufschwung um Ressourcen konkurrieren, konkurrieren sie im Abschwung um Absatzmärkte. Deswegen kommen die Politiker nach 1873 unter Druck, Zölle und Handelsschranken zu errichten, damit ausländische Firmen den eigenen im Inland kein Geschäft mehr wegnehmen. Konservative Meinungsmacher, sonst fest hinter dem deutschen Reichskanzler Bismarck stehend, wettern gegen seine Freihandelspolitik, gegen den »angelsächsischen« Pragmatismus im Denken der deutschen Unternehmer und gegen den »Abfall vom Christenthum und den Rückfall in ein neues Heidenthum« (wie konfus die Vorstellung davon auch immer sein mag). Je länger die Krise dauert, umso mehr verlieren die Anhänger des Freihandels gegen die wachsenden Interessengruppen an Boden, die den Wirtschaftsraum Deutschland gegen Waren aus dem Ausland mit hohen Zöllen abschotten wollen.

 

Zuerst schließen sich die Stahlkocher zusammen, dann die Textilhersteller. 1876 gründet sich mit dem Zentralverband Deutscher Industrieller ein Vorläufer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Bei ihrer ersten Generalversammlung 1877 reisen 500 Unternehmer aus ganz Deutschland an, um Schutzzölle zu fordern. Auch die Landwirte und Gutsbesitzer marschieren gegen den Freihandel, um sich gegen die billigere ausländische Konkurrenz auf dem deutschen Markt zu wehren. Denn die Preise für Vieh und Getreide sind so stark eingebrochen, dass ihnen die mager entlohnten Landarbeiter davonlaufen und der durchschnittliche Hektarertrag sinkt.

Die Liberalen, vor 1848 noch eine Gefahr für das monarchistische Establishment, danach die führende politische Kraft in Deutschland, reiben sich angesichts ihrer Entmachtung ungläubig die Augen: nicht nur, dass sich ihre politischen Ziele nicht mehr durchsetzen lassen – wie freier Handel und eine billige, weil inaktive Regierung. Die Wahlen zum Reichstag zerstören ihre Illusion, ihre politischen Vorstellungen würden die Bevölkerungsmehrheit repräsentieren. Erstmals in Deutschland gilt jede (männliche) Stimme gleich viel (im Gegensatz zum preußischen Dreiklassenwahlrecht, wo die Wahlstimme nach Steuerkraft zählt). Damit erringen die Liberalen keine Mehrheiten.

Es macht keinen Spaß, in einem langen Kondratieffabschwung Politiker zu sein: Produktionsrückgang, Massenentlassungen, Lohnkürzungen oder der Streit gegen die liberale Wirtschaftsordnung zermürben den Reichskanzler. Denn der begonnene Abschwung des zweiten Kondratieffs erschwert nicht nur den Verkauf der eigenen Produkte – auch die anderen Länder, sogar das bisher führende Britannien, werden ihre Güter nicht mehr los.

Lange laviert Bismarck zwischen den Fronten, weiß er doch, was eine strikt an nationalen Interessen orientierte Wirtschaftspolitik für den Wohlstand bedeutet (er sinkt, weil komparative Handelsvorteile mit dem Ausland nicht mehr genutzt werden können). Als er nicht mehr weiterweiß, wird er krank, leidet an Rheuma und Gürtelrose und bittet im Mai 1875 den Kaiser, ihn aus seinem Amt zu entlassen. Wilhelm I. lehnt ab. Die Stimmung im Land wendet sich rapide zugunsten der Konservativen. Der Liberalismus hat in den Augen vieler abgewirtschaftet, das freie Spiel der Kräfte funktioniert offensichtlich doch nicht so gut wie behauptet, und deswegen soll jetzt der Staat mit starker Hand eingreifen. Deutschland erhebt 1879 Schutzzölle, die ausländische Waren, die Deutschland selbst teurer herstellt, an den Grenzen abwehren.

Erst Anfang der 1890er Jahre senkt der nächste Reichskanzler Leo von Caprivi die Schutzzölle allmählich wieder – also rechtzeitig zum dritten Kondratieffaufschwung.

Vom Überlebensrecht des Stärkeren

Aber wie sollen Politiker auch sonst auf eine große Wirtschaftskrise reagieren als zum Nachteil anderer Länder? Seit Dampfmaschinen Druckerpressen antreiben, müssen sich jetzt auch Politiker dem öffentlichen Druck beugen. Der Zeitgeist ist erfüllt von Charles Darwins Werk »Über die Entstehung der Arten«, mit dem heute nicht mehr so bekannten Untertitel: »Das Überleben der bevorzugten Rassen im Kampf ums Dasein«. Viele Nationalisten folgern höchst unwissenschaftlich daraus: Gerade ihr Volk sei die »bevorzugte Rasse«, die sich im »Kampf ums Dasein« zwischen den Völkern durchsetzen müsse. Das »survival of the fittest« denkt ein »non-survival of the less fittest« immer unausgesprochen hinzu. Intellektuelle, Tagespolitiker, aber vor allem Journalisten sprechen und schreiben vulgär sozialdarwinistisch von einer Welt des Kampfes, des Erfolges und des Versagens, des Wachstums und des Niedergangs.

Seltsam erscheint auf den ersten Blick, dass sich diese darwinistische Ideologie nicht in Kriegen entlädt. Das außenpolitische System bleibt in den Jahren des langen Kondratieffabschwungs stabil. Das hat nicht nur mit Bismarcks Politik zu tun, die dem Ausland signalisiert, Deutschland sei saturiert. Es gibt weiterhin Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich, wie die »Krieg-in-Sicht-Krise« 1875, oder Kolonialkonflikte zwischen England und Frankreich. Aber sie entladen sich nicht in heißen Kriegen, so die Theorie von Kondratieff45, weil allen die Ressourcen fehlen, einen Krieg zu führen.

Sie kämpfen, indem sie sich alle gegenseitig unterbieten: Nachdem jede Nation ihr Heil in der Massenproduktion sucht, entsteht ein gewaltiger Verdrängungswettbewerb zwischen den Nationen um Märkte. Sie denken, diese seien begrenzt und könnten nur eine bestimmte Menge aufnehmen. Anstatt mit innovativen Produkten den Markt qualitativ zu erweitern, kämpfen sie im vorhandenen Markt der eingeführten Produkte um Mengenanteile. Den Verantwortlichen erscheint es, als könne die eigene Volkswirtschaft nur weiterexistieren, wenn sie diese Absatzmärkte selbst schaffen – in Kolonien.

Dabei haben englische Politiker im zweiten Kondratieffaufschwung noch darüber diskutiert, die bestehenden Kolonien zu unabhängigen, gleichwertigen Handelspartnern reifen zu lassen. Denn der Handel mit den unabhängig gewordenen USA bringt schon lange mehr Profit, als Amerika als Kolonie den Briten je erwirtschaftet hat. Englands Premierminister Disraeli nennt Englands »elende« Kolonien »Mühlsteine an unseren Hälsen«. Eine Unterhausdelegation empfiehlt eine Politik, die »bei den Eingeborenen die Eigenschaften aktiviert, die es uns ermöglichen – im Hinblick auf unseren späteren Abzug aus ihrem Gebiet –, nach und nach ihnen selbst alle Verwaltungsgeschäfte zu übertragen«46. Davon ist jetzt im langen Abschwung keine Rede mehr. England hat schon die meisten Kolonien, aber eignet sich im Wettlauf der 1870er/​80er noch mehr als alle anderen Staaten an.

Denn die englischen Eliten denken nun, sie bräuchten sie, um ihre Überproduktion aufzunehmen. Diese kann im eigenen Land nicht mehr ganz verkauft werden und ist in anderen inzwischen industrialisierten Ländern immer weniger konkurrenzfähig. Das Konzept funktioniert aber nicht – es nimmt nur kurz den Druck von der britischen Industrie. Langfristig geht dabei die Wettbewerbsfähigkeit Englands endgültig verloren. Denn Konkurrenten wie das Deutsche Reich können ihre Massenproduktion mangels ähnlich ausgedehnten Kolonialreichs nicht so bequem absetzen. Deren Unternehmer sind eher gezwungen, effizienter zu werden und Innovationen zu suchen – was Deutschland weiter stärkt.

Doch die öffentliche Meinung ist irrational. Die Verzweiflung des Darwinismus, der Schwächere werde untergehen, entfacht unter den Europäern eine Gier nach den letzten weißen Flecken der Weltkarte in Afrika, Asien, Ozeanien. Wie sizilianische Mafiosi pressen sie China Sonderrechte, Schutzgebiete und Pachtverträge ab. Irgendwelche unbedeutenden öden Atolle, von den Europäern bisher ignoriert und für wirtschaftlich völlig uninteressant gehalten, werden zu heiß begehrten Zielen für in den Strand gesteckte Fahnenstangen. Deutschland rafft ohne strategischen Sinn und Verstand ein Sammelsurium pazifischer Inselchen an sich – es glaubt allen Ernstes, es gehe hier um die Wachstumsmärkte der Zukunft.

Dahinter stecken die innenpolitischen Folgen des Kondratieffabschwungs mit fallenden Unternehmensgewinnen, Verteilungskämpfen und Stagnation. Zwar können die Unternehmer den wirtschaftlichen Druck an die Arbeiter weitergeben, indem sie den Reallohn mit der Zeit absenken. Aber, so die Angst der Wohlhabenden, die ärmlichen Lebensverhältnisse der Unterschicht könnten ihnen gefährlich werden, wenn sozialistische oder gar marxistische Vorstellungswelten daran eine Revolution entzünden. Diese appellieren an das Bedürfnis des Einzelnen, seine Situation zu verbessern. Dazu muss er auf der Verstandesebene zu der Überzeugung kommen (oder von außen überzeugt werden), dass er sich mit anderen, die in derselben Situation sind, zusammentun, eine Gruppenidentität ausprägen und die gemeinsamen Interessen durchsetzen muss.