Die Geschichte der Zukunft

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Französische Revolution

»Kriege und Revolutionen fallen nicht vom Himmel und entspringen nicht der Willkür einzelner«, schreibt der Ökonom Nikolai Kondratieff 1926. Sie fänden regelmäßig gerade während des Anstiegs der langen Welle statt. Denn in dieser Zeit verschärft sich der Kampf um Rohstoffe und knapper werdende Produktionsfaktoren, das Tempo nimmt zu, die Anspannung des Wirtschaftslebens wächst – und entlädt sich schließlich in Auseinandersetzungen. Auch soziale Erschütterungen entstünden »am leichtesten gerade unter dem Druck neuer wirtschaftlicher Kräfte«.9 Kurz: Die Französische Revolution bricht 1789 nicht deswegen aus, weil die Massen Hunger haben und sich einer unfähigen Monarchie entledigen wollen – sie hatten früher noch größeren Hunger und die Monarchie war wahrscheinlich noch unfähiger. Im Gegenteil: Wenn auch ungleich verteilt, wächst die französische Wirtschaft zwischen 1783 und 1789 rapide.10

Was sich wirklich geändert hat: Zwischen König, Adel und Bischöfen auf der einen Seite und den Bauern auf der anderen Seite hat sich ein Mittelstand gebildet, der im beginnenden ersten Kondratieffaufschwung über einen wachsenden Teil des Bruttosozialproduktes bestimmt. Unternehmer haben inzwischen die Freiheit, sich Kapital aus jeder Quelle zu verschaffen, jeden zu beschäftigen, neue Produktionsmethoden auszutüfteln und anzuwenden, allen Konkurrenz zu machen und alles überall zu verkaufen. Ihre Firmen sind in der Regel klein, vermehren sich aber rasch: 1789 gibt es allein in Versailles 38 Seidenfabriken, 48 Hut-, 8 Glasfabriken, 12 Zuckerraffinerien, 10 Gerbereien.11 Die Textilindustrie, Bau und Bergbau sowie die Metallindustrie organisieren sich bereits in Großunternehmen in Form von Aktiengesellschaften. Der Bergbau gräbt seine Stollen schon 100 Meter tief unter der Erde, investiert eine Menge Kapital in Belüftung, Entwässerung und Transport. Die Firma Anzin beschäftigt während der Französischen Revolution 4000 Arbeiter, 600 Pferde und bereits 12 Dampfmaschinen. Die 300.000 Tonnen Kohle, die sie im Jahr fördert, heizen der emporschießenden Metallindustrie ein.

Dieser neue Wohlstand landet allein in den Taschen des neuen Mittelstandes, nicht oben in der Adelsschicht und erst recht nicht bei den Arbeitern. Während die Preise zwischen 1741 und 1789 um 65 Prozent steigen, steigen die Löhne nur um 22 Prozent. Wenn Arbeiter streiken, hungern die Unternehmer sie so lange aus, bis sie ihre Arbeit wieder aufnehmen – zu den Bedingungen der Unternehmer. Und wenn nicht (wie die Seidenarbeiter 1774 in Lyon), schlägt die Armee die Arbeiter in die Fabriken zurück. Ihr Hass richtet sich nun nicht mehr nur gegen ihre Arbeitgeber, sondern auch gegen die Regierung. 1786 beklagen sie, sie könnten selbst mit 18-stündiger Arbeit ihre Familien nicht ernähren. Die Massen, die 1789 ihr Leben riskieren, als sie der Staatsmacht trotzen, sind hungrig und wütend. Aber schon mit einer Brotpreissenkung wären sie zu beschwichtigen. Im Gegensatz zu den Bürgern und Unternehmern wollen sie, dass der Staat die Wirtschaft regelt, wenigstens beim Brotpreis. Damit sind sie ohne weiteres bereit, zum alten Regime zurückkehren, anstatt als Arbeiterklasse den Staat zu übernehmen. Politische Vertretung ist ihnen gleichgültig.

Anders als den Gebildeten aus den höheren Schichten. Diese überreden die besitzlose Masse, die Bastille zu stürmen (sie wird friedlich übergeben) und so den König daran zu hindern, das Militär gegen die Nationalversammlung einzusetzen. Damit gelingt es dem Mittelstand, die Unterschicht für seine Interessen einzuspannen: Ohnmächtig müssen die betuchteren Bürger im alten Königreich zusehen, wie Hof und Adel auf Kosten ihrer hart erwirtschafteten Steuern im Luxus leben, während ihnen jeder schnöselige Baron arrogant begegnet, sie politisch nichts bestimmen können und ihnen als kompetenten Bürgerlichen politische und militärische Ämter verweigert werden. Die paar schlecht bewirtschafteten Landgüter der Adeligen mit ihren ausgelaugt-ausgebeuteten Böden machen den »ersten Stand« wirtschaftlich zum zahnlosen Tiger. Er hat es versäumt, wie etwa die englischen Standesgenossen ins Unternehmertum einzutreten.

Auch sind die Zeiten um Jahrhunderte vorbei, als es für einen König die beste Wirtschaftsförderung bedeutete, Flächen an die Kirche oder Klöster zu übertragen, die daraus dann blühende Landschaften machen. 1789 sehen die Unternehmer den Klerus ein Drittel des Nationaleinkommens schlucken (wenn auch nicht nur für den Luxus der Bischöfe, sondern ebenso für soziale Aufgaben) und damit eine Theologie aufrechterhalten, die Gebildete schlicht als infantil empfinden. Die Ortspfarrer, in der Regel lauter und tugendhaft, müssen den größten Teil der Einnahmen an die adeligen Bischöfe abgeben und daher sowohl der Kirche dienen als auch ihren Lebensunterhalt selbst auf dem Feld erarbeiten. Viele von ihnen werden bei der Revolution den dritten Stand unterstützen, während die Bischöfe gegen gesellschaftliche Veränderungen sind. Es ist nicht die Schuld des Kirchenvolkes, wenn die Institution – und eng an ihr Zeugnis gekoppelt der Glaube an Gott – an Boden verliert. Die Zahl der Priester geht immer weiter zurück, alte Klöster zerfallen – zwischen 1766 und der Revolution sinkt ihre Zahl von 26.000 auf 17.000, manche nur noch mit wenigen Mönchen belebt.

Während die Dörfler gläubig sind – sie werden ihren Glauben in der Revolution gegen den aggressiven Atheismus der Pariser Zentralregierung mit Aufständen verteidigen –, glaubt in den Städten nur noch jeder zweite gebildete Mann an Gott. Die französische Kirche fordert daher 1770 eine Medienzensur und schickt dem König eine Denkschrift über »die gefährlichen Konsequenzen der Freiheit des Denkens und des Druckens«.12 Das ist keine gute Idee. Denn damit behauptet sie, sie hätte keine besseren Argumente, von dem persönlichen Beispiel der Kirchenfürsten ganz zu schweigen. Wer die Gewalt des Staates in Anspruch nimmt, um sich durchzusetzen (wie alle Staatskirchen), der verliert jede ideelle Unterstützung. Skeptizismus wird bei den Adeligen Mode. Und wenn sie sonntags in die Kirche gehen, dann nur, damit ihre Diener eine bessere Meinung von ihnen haben.

Ärgerlich daran ist für die Bauern und geschäftstüchtigen Bürger, also für den dritten Stand, dass sie alleine Steuern zahlen – Adel und Klerus sind befreit. Hinzu kommt, dass sich der König selbst das Recht verleiht, jederzeit zu erklären, der Staat sei bankrott und das vom Mittelstand geliehene Geld verloren. Nun spitzt sich Ende der 1780er Jahre die Situation zu: Der König ist bereits ausweglos verschuldet. Die Regierung will Staatsanleihen nicht mehr in fester Edelmetall-Währung, sondern nur noch in Papiergeld auslösen, dessen Wert durch Inflation aufgefressen wird. Die steuerzahlende Mittelklasse hat plötzlich Angst um ihr Erarbeitetes und ist nicht mehr bereit, sich ihren Reichtum von Arroganten und Unfähigen gefährden zu lassen.

Es geht den Bürgern also um ihre eigene Brieftasche und darum, wenigstens kontrollieren zu dürfen, wie die unfähige Staatslenkung das sauer erarbeitete Geld der Gewerbetreibenden ausgibt. Von den 26 Millionen Franzosen gehören über 25 Millionen weder dem Adel (erster Stand) noch dem Klerus (zweiter Stand), sondern eben dem dritten Stand an – aber jeder der drei Stände hat in der Generalversammlung dasselbe Stimmgewicht. Da die oberen beiden Stände mit der Monarchie stimmen, haben die Bürger von vornherein verloren. Ihnen bleibt gar nichts anderes mehr übrig, als sich zur eigentlichen politischen Macht, zum Repräsentanten der ganzen Nation, zu erklären.

Neues destabilisiert die Gesellschaft

Die Französische Revolution vollzieht auf der politischen Ebene nach, was auf der wirtschaftlichen und religiösen Ebene schon begonnen hat. Sie stürzt nicht nur einen Bereich der Wirklichkeit, sondern alle Systeme: Wirtschaft, Glaube und Staat. Technische Entwicklungen und die dafür nötigen institutionellen Innovationen haben freie Bahn. Die Dämme der bisherigen Gesetze, Bräuche und Frömmigkeit brechen schneller, als eine neue funktionierende Ordnung errichtet werden kann. Alle Emanzipationsbewegungen sind am Anfang destruktiv. Als die Konstituierende Versammlung nach zwei Revolutionsjahren die Macht erobert hat, schafft sie die Feudalherrschaft der Adeligen ab, konfisziert Kircheneigentum, legalisiert Organisationen und Zusammenschlüsse der Kaufleute und Fabrikanten, verbietet aber – von wegen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – alle Zusammenschlüsse der Arbeiter. Die chaotische Volksherrschaft mit massenweisen Hinrichtungen wird erst domestiziert durch die Rückkehr zu einem Alleinherrscher Napoleon, später dann durch eine funktionierende Gewaltenteilung. Das macht Hoffnung, daran zu glauben, dass die destruktiven Erscheinungsweisen eines befreiten Individualismus heute auch wieder domestiziert werden können – durch eine ausbalancierte Kooperationsfähigkeit.

Es ist jedoch glatt gelogen, darüber zu klagen, wie alles immer schlimmer wird, wo doch früher alles so gut und die Menschen so gesittet und friedlich gewesen sind. Wahr ist, dass technische Veränderungen die Gesellschaft durcheinander rütteln und die alten Verhaltensmaßstäbe und Organisationsstrukturen destabilisieren, sodass der nächste Kondratieffzyklus mit chaotischen Begleiterscheinungen beginnt. Damit neue Strukturen aufgebaut werden können, müssen alte zerstört werden. Das Problem daran ist, dass es nicht gelingt, beides gleichzeitig und langsam zu gestalten.

1. Kondratieffabschwung Feudalismus macht Deutschland arm

Dass Deutschland im ersten Kondratieff ein armes Land bleibt, hat daher aus Sicht der Kondratiefftheorie gesellschaftliche Gründe: Wenn seine Bewohner nicht die (Infra-)Strukturen für eine neue Basisinnovation bereitstellen, dann machen sie ein paar neue Dampfmaschinen allein eben auch nicht wohlhabender. Auch wenn es am Anfang noch danach aussieht: Deutschland erlebt den ersten Kondratieff im Krieg als Hochkonjunktur. Im Ruhrgebiet blüht die Industrie kurz auf, weil sie die Kontinentalsperre vor englischen Waren schützt; die Bauern erzielen dank der hohen Nachfrage gute Preise. Doch nach dem Krieg haben die Deutschen als kaum industrialisiertes Land keine Chance im Wettbewerb. Sie profitieren zuwenig vom Aufschwung und sind vom Abschwung der 1820er/​30er Jahre doppelt getroffen.

 

Schuld daran sind nicht die Engländer, die ihre Dampfmaschinen-Technologie hüten und Ingenieuren verbieten, ihr Wissen ans Ausland weiterzugeben; es liegt an der deutschen Gesellschaft selbst, die nichts von dem vorbereitet hat, was dieser neue Strukturzyklus braucht: Arbeiter, eine Unternehmerschicht, Kapital, einen Binnenmarkt, Transportwege wie die Kanäle in Frankreich und England, und es fehlt an Ballungszentren als Absatzgebiet, die größere Ressourcen für Investitionen mobilisieren können. Die deutschen Adeligen schauen auf Geschäftsleute herab – sie lassen niemanden von ihnen in ihre Kreise einheiraten. Mutigen fehlen Anreize, Kohle und Erze im Boden industriell zu verwerten. Zünfte schränken gewerbliche Freiheit ein. Jedes Fürstchen kocht seine eigene Suppe.

Bauern sind je nach Region noch an ihren Boden oder als Leibeigene an den Feudalherrn gebunden. Das ändert sich, als Preußen 1806 bei Jena von Napoleon gründlich geschlagen wird: Der Staat sieht ein, dass er mit gepressten Söldnern keine Schlachten gewinnen kann, sondern nur mit freien Soldaten, die für einen Staat kämpfen, von dem sie zumindest glauben, dass er ihre Sache sei. Also kommt es in Deutschland zur Bauernbefreiung (bis das revolutionäre Frankreich besiegt ist – danach werden die Möglichkeiten, ein freier Bauer zu werden, wieder zugunsten der Grundherren eingeschränkt).

Aus Leibeigenen werden lohnabhängige Landarbeiter. Das hat auch einen Vorteil für den Grundherrn: Er ist nicht mehr verpflichtet, seine Bauern sozial zu versorgen – ihre Arbeit ist mit dem Tagelohn abgegolten. Und wenn es ihnen schlecht geht, weil sie oder ihre Kinder krank werden, dann ist das ihr Problem. Dort, wo Kleinbauern den Boden eines Grundherrn beackern und dafür bislang einen Großteil der Ernte abgeben müssen, wird es möglich, den Boden abzukaufen. Dafür nehmen viele Bauern einen Kredit auf, der sich auch gut bedienen lässt – zumindest während des ersten Kondratieffaufschwungs in den Napoleonischen Kriegen, als die Nachfrage groß ist: Die Preise, welche die Bauern für Lebensmittel erzielen, sind hoch, obwohl die Ernten steigen. Weideland und dörfliche Gemeinschaftsflächen werden mit der Bauernbefreiung in Äcker umgewandelt, Tiere kommen in den Stall. Statt Dreifelderwirtschaft (jedes dritte Jahr bleibt ein Acker brach liegen) kann der Boden dank wechselnder Fruchtfolge und Stallmist jedes Jahr bebaut werden. Der Markt saugt die gestiegenen Ernteerträge auf.

Aber nur, bis der Krieg vorbei ist und die große Nachfrage ausbleibt, welche die Dampfmaschinen in England und Frankreich nach sich gezogen haben. Die Kontinentalsperre hat vor 1813 verhindert, dass die Engländer Stoffe und Eisen auf dem europäischen Festland verkaufen können. Sobald sie aufgehoben ist, ist Deutschland der vollen Wucht einer britischen Industrie ausgesetzt, die ihr ein bis zwei Generationen voraus ist. Den Deutschen geht es wie heute Entwicklungsländern: Was sie produzieren, können die Engländer und auch Franzosen längst viel besser herstellen, mit viel weniger Kosten, einem höheren Gewinn und zu einem günstigeren Preis. Es ist das Wettrennen eines Fahrradfahrers gegen ein Auto auf der freien Landstraße.

Die kurze Blüte von Bergbau und Metallindustrie in Essen und Düsseldorf verwelkt. Während Städte weniger, oder zumindest viel langsamer als bisher Agrargüter nachfragen, wächst das Agrarangebot weiter. Die Preise für Getreide sinken. Das bringt die gerade erst befreiten, selbständigen Bauern in Not. Ihre Landstreifen, die sie dem ehemaligen Feudalherrn abgekauft haben, sind nicht groß genug, um wirtschaftlich zu sein. Viele Kleinbauern im Rheinland und in Südwestdeutschland haben für ihre eigene Scholle in der Hochkonjunktur Kredite aufgenommen. Nun ringen sie um ihr Überleben, weil während der Agrarkrise in den 1820ern die Preise fallen – wie immer in einem Kondratieffabschwung. Zwar leiden auch Handwerk und die kleine Industrie unter verschärftem Wettbewerb und weniger Umsatz bei gleichen Fixkosten, doch nirgends sinken die Preise so sehr wie in der damaligen »old economy«, der Landwirtschaft.13 Ein Bauer muss eine immer größere Menge an Getreide in die Stadt karren, um dafür ein Werkzeug aus Eisen zu kaufen. Viele können jetzt ihre Höfe nicht mehr halten. Die anderen aus der Leibeigenschaft befreiten Bauern, die jetzt als Landarbeiter leben, werden von den Grundherren einfach nicht mehr beschäftigt. Sie wandern aus oder suchen eine Lebensexistenz in den Städten. Eine Arbeiterschaft, die für die Industrialisierung nötig ist, entsteht in Deutschland also erst dann, als es im langen Abschwung an ausreichenden anderen Arbeitsmöglichkeiten fehlt.

Oder ist das alles nur ein deutsches Problem gewesen und es hat nie einen Abschwung des ersten Kondratieff gegeben? Wenn Wirtschaftshistoriker heute das britische Bruttosozialprodukt schätzen, zeigen die Zeitreihen über die 1820er und 1830er hinweg ständig nach oben. Und doch kommt es auch in England zu einer schweren Rezession mit fallenden Preisen und einer geschätzten Arbeitslosigkeit von 20 bis 30 Prozent der arbeitsfähigen Erwachsenen, wie es Romane von Charles Dickens, zum Beispiel »Hard Times«, überliefern. Das harte Leben im Gefolge der »New Poor Law« in den 1830ern folgt dem heutigen Muster, aus Geldmangel die Arbeitslosenhilfe zu kürzen oder deren Bezug zu erschweren. In der Kultur spiegeln Biedermeier und Romantik das Lebensgefühl der wirtschaftlichen Stagnationsjahre. Nein: Es hat einen Kondratieffabschwung gegeben, und zwar für alle.

Warum Arbeitslosigkeit ein Produktivitätsproblem ist

Die weltweite Agrarkrise bricht nicht deshalb aus, weil die Landwirtschaft so produktiv geworden ist, sondern weil die Gesamtwirtschaft – so wie heute – nicht ausreichend produktiver wird: Sonst könnten die Bauern in produktiveren Branchen arbeiten als auf ihrem kleinen Hof, den sie mangels Spezialisierung und mangelnder Größe ineffizient bewirtschaften. Das Elend der Bauern ist Ausdruck verdeckter Arbeitslosigkeit. Die Soldaten sind aus den Kriegen heimgekehrt und die Jugend stirbt nicht mehr auf den Schlachtfeldern. Erbteilungen verkleinern die Ackerfläche pro Bauer weiter. Deren Alternativen sind nicht verlockend: Elendshütte in der Stadt, nur mit viel Alkohol zu ertragen. Oder wochenlang auf einem Auswandererschiff unter Deck und frieren in der Fremde.

Aber die Krise der 1820er/​30er muss kommen, weil man Menschen nicht so schnell ändert (oder heute auf einen kooperativen Arbeitsstil umstellt), wie man eine Dampfmaschine erfindet: Niemals würden die Bauern freiwillig ihren generationenlangen Lebensrhythmus verlassen und sich dem Takt der Maschinen unterwerfen, niemals würden die Fürsten den Bürgern Freiheiten gewähren. Nur wenn sich zu viele Menschen in den alten Branchen drängeln, deren Produktivität der jeweiligen new economy (hier Textil und Metall) völlig hinterherhinkt, wird der Druck irgendwann groß genug, den Beruf und damit das ganze private Umfeld so radikal zu verändern; nur dann stehen die Ressourcen bereit, den nächsten Strukturzyklus zu erschließen.

Der Kondratieffzyklus legt den Rückwärtsgang ein, weil Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr produktiver werden. Im Aufschwung ist die Produktivität gestiegen, weil man immer noch mehr vom Gleichen macht; im Abschwung dagegen sinkt die Produktivität gerade deshalb, weil man immer noch mehr vom Gleichen macht, aber das technische System jetzt seine Grenze erreicht hat. Kondratieff nennt das die »Realkostengrenze«, um zu verdeutlichen, dass es sich hier nicht um einen Mangel an Geld handelt: Während eines Strukturzyklus produziert der Mensch mit einer bestimmten Kombination aus Arbeitskraft und -kompetenz, Maschinen auf einem bestimmten technischen Niveau mit einer bestimmten Mischung aus Rohstoffen. Irgendwann wird einer dieser Produktionsfaktoren so knapp, dass sich weiteres Wachstum nicht mehr lohnt, weil er sich nicht einfach von einem Jahr auf das nächste schnell vermehren lässt. Fünf rechte und sieben linke Schuhe ergeben nicht sechs Paar, sondern eben nur fünf Paar Schuhe.

Am Ende wird der erste Kondratieff von einem Produktionsfaktor gestoppt, der sich nicht so einfach von heute auf morgen vermehren lässt: Der Transport von Erz, Kohle, Roheisen und Fertigprodukten ist bei diesen wetterabhängigen Straßenverhältnissen, störrischen Zugtieren vor dünnen Holzlastkarren und wenigen Kanälen so teuer, dass sich weiteres Wachstum selbst in England nicht mehr lohnt, obwohl dort schon lange in Bergwerken Erfahrungen mit von Pferden gezogenen Wagen auf Eisenschienen gemacht werden und 1825 die erste Dampfeisenbahn von Stockton nach Darlington fährt.

Um wie viel größer sind da die Transporthürden in Deutschland: 39 deutsche Kleinstaaten pochen auf ihre Souveränität mit eigener Währung, auf eigene Vorschriften und sogar auf Zölle für die bloße Durchfahrt von Waren. Wer als Unternehmer die Schwierigkeiten überwunden hat, wirtschaftlich zu produzieren, der kann seine Waren kaum weiterverkaufen. Es ist viel zu teuer, sie zu entfernteren Kunden zu bringen, und den Weg dorthin behindern Zollschranken. Die deutschen Unternehmer bitten daher 1819 die Bundesversammlung, die Zollschranken zwischen den deutschen Staaten aufzuheben. Nicht nur, dass die Bittschrift ohne Erfolg bleibt – sie erzürnt die hohen Herren sogar. Denn die Fürsten, Könige und Feudalherren wollen keine mündigen Bürger, die unternehmerisch selbständig und frei entscheiden, sondern gehorsame Bauern, die ihren Zehnten abliefern. Andererseits kann das neue technologische System, der neue Kondratieff-Strukturzyklus, nur mit flexibel agierenden Akteuren funktionieren.

Das ist der wirtschaftliche Hintergrund für den Kampf zwischen Demokratisierung und monarchistischer Herrschaft im 19. Jahrhundert. Und es ist ein Beispiel dafür, dass es zu langen Kondratieffkrisenjahren kommt, weil die gesellschaftlichen Institutionen ihre Stellung verteidigen, anstatt sich auf ein neues Paradigma einzustellen: Die Fürsten denken, sie lösen das Problem, indem sie den Verursacher dieser ärgerlichen, ihre Macht aushöhlenden Bittschrift von 1819 eliminieren: den jungen Volkswirtschaftsprofessor Friedrich List, der sich vehement und über alle damals verfügbaren Informationskanäle für die Zolleinheit einsetzt. Zuerst zwingen sie ihn, seine Professur niederzulegen. Als ihn das allein nicht mundtot macht, planen sie, ihn loszuwerden, indem sie ihn zur Festungshaft verurteilen und ihn vor die Wahl stellen, entweder im Verlies zu schmachten oder in die USA auszuwandern. Sie irren sich gewaltig, wenn sie denken, es kehre nun Ruhe ein, als List auf das Schiff in die USA verfrachtet wird. Denn List – nomen est omen – findet einen Weg, wie er als »unbesoldeter Anwalt des deutschen Volkes« für Zollfreiheit und Eisenbahnbau kämpfen kann, ohne dass ihn ein Monarch und seine Bürokraten daran hindern: Er kehrt 1832 als amerikanischer Konsul zurück und kann – diplomatisch immun – reden und schreiben, wie er will.

List weiß: Der Weg zu einem neuen Aufschwung ist nur frei, wenn Güter endlich über weite Strecken hinweg mobil werden – politisch unbehelligt und zu ökonomisch vertretbarem Aufwand. Die Kostengrenze des ersten Kondratieff erzeugt das große Investitionsbedürfnis für den nächsten Strukturzyklus, für den Eisenbahn-Kondratieff. Doch bis Deutschland mit einem ausreichenden Streckennetz bedeckt ist, bis es genug Schienenfabriken und ausgebildete Lokführer gibt, vergeht mehr als eine Generation. Das ist der Grund, warum Kondratieffzyklen so lange dauern.

2. Kondratieffaufschwung Freie Fahrt für die Wirtschaft

Wie weit die etablierte Wirtschaftswissenschaft von der Realität weg ist, zeigen Aussagen von Wirtschaftshistorikern, die sich an den üblichen mathematisch-monetären Denkmodellen orientieren: Die Eisenbahn habe mit dem großen Wirtschaftswachstum von den 1840ern bis 1873 gar nichts zu tun, weil sie nur zwei Prozent zum Bruttosozialprodukt beigetragen habe. Dabei geht es doch gar nicht um einfache Mengen- und Wertaufzählungen von Kohle, Eisen oder Schienenkilometern, sondern darum, wie sich Lebensqualität, Nutzen und Produktivität verändern, nachdem Menschen, Güter und Rohstoffe so einfach überallhin transportiert werden können.

 

Man stelle sich vor, wie beschwerlich es ist, Waren mit einem Ochsen- oder Pferdekarren über lehmige Feldwege durch eine typisch deutsche Mittelgebirgslandschaft zu schleppen: Je nach Wetter und Boden dauert es Wochen, Handelsware einige hundert Kilometer weit zu transportieren. Das Reisen in Kutschen ist eine Qual, und die Kapazitäten sind damals sehr gering. Der Sprung von der Landstraße auf die Eisenbahn ist ungeheuer. Der gewonnene Wohlstand besteht nicht aus zählbarem Geldwert, sondern aus materiellem »Realkapital« und eingesparten sozialen Kosten: Das sind die zusätzlichen Gütermengen, die ein Waggon mehr transportiert als ein Schiff oder Pferdegespann. Viel mehr Menschen können es sich jetzt leisten, zu Hause mit Kohle zu heizen – für den Konsumenten in London halbiert die Eisenbahn zwischen 1820 und 1850 den Preis für die Tonne Kohle von 31 auf 16 Schilling. Auch Eisen ist für jeden Kleinhandwerker immer einfacher zu erwerben, weil es dank Eisenbahn weniger kostet. Lieferungen werden pünktlich, zuverlässig, planbar. Haben Unternehmer vorher sicherheitshalber große Lager angelegt, kommen sie nun mit weniger Vorräten aus, was wieder Geld frei macht für produktivere Investitionen. Durch die täglich frischen Lebensmittel aus den ländlichen Regionen wird es jetzt möglich, große Industriearbeiterheere zu ernähren. Gedacht und gebaut für den Frachtverkehr, sind die Investoren überrascht, als auch Passagiere die neue Transportmöglichkeit überrennen. Der Horizont der Menschen weitet sich.

Im ersten Jahr nach Eröffnung der Eisenbahnlinie Liverpool-Manchester fahren diese Strecke 400.000 Menschen mit der Bahn. Das ist billiger als mit der Postkutsche – und komfortabler. Die Eisenbahn spart all die Zeit, die ein Händler sonst auf einem gefrorenen Kanal festsitzt, schenkt Arbeitszeit, die einem zusätzlich bleibt, weil man mit dem Zug viel schneller am Ziel ist, ja sie ermöglicht zusätzliche Lebensjahre, weil das Bahnreisen meine Gesundheit mehr schont, als wenn ich mich zu Fuß oder auf dem Pferd körperlich überanstrenge. Dazu die vielen Pferde, die nicht mehr auf Langstrecken verschlissen werden und nun dem örtlichregionalen Individualverkehr zur Verfügung stehen. Es ist unmöglich festzustellen, wie stark die Eisenbahn den Wohlstand der jeweiligen Volkswirtschaften vermehrt (was verdeutlicht, dass die Investitions-Multiplikatormodelle der etablierten Volkswirtschaftslehre reichlich albern sind).

Anstatt die investierten Geldbeträge erbsenzählerisch zusammenzurechnen, sollte die Wirtschaftswissenschaft dazu übergehen, sich im realen Leben anzusehen, wo investiert wird und mit welcher Wirkung: Die Krimifigur Sherlock Holmes des Schriftstellers Sir Conan Doyle erlebt ihre Abenteuer in der Eisenbahn. 1846/​48 nimmt diese die Hälfte aller Investitionen in Großbritannien auf.14 Welchen Sprung die weltweite Infrastruktur im zweiten Kondratieff macht, veranschaulicht Jules Vernes Roman »In 80 Tagen um die Welt«: Der Ökonom Eric Hobsbawn errechnet, dass die Romanfigur Phileas Fogg 1848 noch mindestens elf Monate für dieselbe Reise benötigt hätte, die 1872 tatsächlich in 80 Tagen machbar erscheint.

Die Eisenbahn ist die Basisinnovation des zweiten Kondratieff-Strukturzyklus, sie treibt Wirtschaft und Gesellschaft voran. Sie ist nicht nur eine, sondern ein ganzes Bündel vernetzter Innovationen: eine Kombination aus einem bisschen Stahl für die Lokomotiven, ausreichend starken Dampfmaschinen, Neuentwicklungen wie dem Dampfhammer oder noch besseren Luftdüsen, um in gigantischen Mengen den Rohstoff für die Schienen zu produzieren: Eisen ist das wichtigste Material dieser Zeit. Je einfacher und billiger die Schienen werden, umso leichter lassen sich neue Strecken finanzieren. Um 1850 ist die Eisenbahn der größte Abnehmer der Eisenindustrie und der Kohlebergwerke. Einige Autoren, die Kondratieffs Theorie zitieren, irren, wenn sie den Stahl schon dem zweiten Kondratieff zuordnen. Bis 1870 wird der wenige und noch zu teure Stahl nur für ein paar besondere Maschinen verwendet – die Gleise der Eisenbahn sind damals tatsächlich noch aus Eisen.

Zwar rosten und verschleißen sie fünfmal schneller als später die besseren Stahlschienen. Aber das reicht für einen historisch einzigartigen Sprung auf ein neues Wohlstandsniveau: Mit der Eisenbahn sind Fabriken nicht mehr von Erz- und Kohlevorkommen abhängig – sie können nun in jeder Größe und überall dorthin gebaut werden, wo es einen Eisenbahnanschluss gibt und ein Flüsschen als Abflusskanal. Kohle, Eisen und alles erdenklich andere kann zu jedem bewohnten Ort transportiert werden – erst recht zu den neuen großflächigen Industriegebieten in London, Berlin und Paris. Auch auf See verändert das neue technologische System das Tempo: Mit ihren leistungsfähigeren und energieeffizienteren Antrieben verdrängen Dampfschiffe die Mastensegler. Immer weniger Kohle müssen sie für eine Fahrt mitnehmen, was mehr Raum für Ladung übrig lässt, immer größer können sie gebaut werden. Ihre weltweite Tonnage explodiert zwischen 1851 und 1871 von 264.000 auf fast zwei Millionen.15

Nicht während des ersten Kondratieffs, sondern erst jetzt kann die Dampfmaschine ihr Produktionspotenzial großflächig entfalten. Der Ökonom Hobsbawm dokumentiert16, dass die weltweit installierte Dampfkraft in den 20 stärksten Jahren des zweiten Kondratieffaufschwungs von vier Millionen PS 1850 auf 18,5 Millionen PS bis 1870 zunimmt. In diesen nur zwei Jahrzehnten vervierfacht sich die globale Eisenproduktion, das Weltbruttosozialprodukt steigt um mehr als das Doppelte.

Dabei ist eine vorherrschende Meinung, die Wirtschaft beginne in dieser Zeit wieder zu boomen, weil große Goldfunde gemacht worden sind: In Kalifornien bricht in den 1840ern der Goldrausch aus, neue Minen werden in Alaska und Australien gegraben. Kondratieff sieht in seiner umfassenden Wirtschaftstheorie dafür einen ganz anderen Hintergrund: Wenn die Wirtschaft sich wegen der massiven Produktivitätssteigerung wieder beschleunigt, braucht sie mehr Gold für den Zahlungsverkehr. Der Goldpreis steigt mit der Nachfrage. Jetzt wird es auch wieder rentabler, neue Goldfelder zu erschließen. Und die Techniken senken die Förderkosten und machen es wirtschaftlich, die bekannten Goldadern auszubeuten.17

Wie in jedem Kondratieff schwingt sich dann die Globalisierung zu neuen Höhen auf: Der Welthandel wächst zwischen 1840 und 1870 um 260 Prozent.18 Richard Cobden (1804 - 1865) ist der führende Lobbyist, der dafür sorgt, dass England keine Zölle mehr auf ausländische Waren erhebt. Die führende Wirtschaftsmacht überzeugt auch die anderen Länder von den Vorteilen des freien Welthandels, wobei sie ihnen zum Teil großzügig Schutzzölle einräumt.

England kann es sich leisten, denn wieder führt es den Strukturzyklus an: Nach der »railway mania«, dem Investitionsboom der 1830er, ist das Hauptnetz in den 1840ern bereits fertiggestellt und entfaltet eine wirtschaftliche Macht, die Paul Kennedy zusammenfasst19: Als das Vereinigte Königreich wahrscheinlich um 1860 seinen relativen Höhepunkt erreicht, produziert es 53 Prozent des weltweiten Eisens und 50 Prozent der Stein- und Braunkohle. Es verbraucht fast die Hälfte der ungesponnenen Baumwolle der Welt. Mit nur 2 Prozent der Weltbevölkerung und 10 Prozent der europäischen Bevölkerung hat das Vereinigte Königreich 40 – 45 Prozent des globalen und 55 – 60 Prozent des europäischen Produktionspotenzials. Es verbraucht fünfmal so viel moderne Energien aus Kohle und Öl wie die USA oder Preußen, sechsmal so viel wie Frankreich und 155-mal so viel wie Russland. Großbritannien alleine handelt ein Fünftel aller Güter der Welt und zwei Fünftel aller Industriegüter.