Das Erbe von Samara und New York

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Der Richtige kommt mit dem Schiff

Alvine kannte die Namen von mehreren großen Schiffen auf dem Fluss. Einigen gab sie selbst Namen: Silberschwall, Morgensonne, Amadeus. Das kleine schwarze Schiff mit dem großen Schornstein nannte Alvine Zakarina.

Sie verriet ihrer kleinen Schwester Toni die Namen, da sie wusste, dass Toni es den anderen Geschwistern niemals erzählen würde. Toni war ernsthaft, lachte nicht oft, freute sich sehr über das in sie gesetzte Vertrauen.

Toni sagte, sie wolle ebenfalls Schiffe taufen. Alvine verbot es ihr.

»Ich bin es, zu der sie auf der Wolga kommen«, sagte Alvine, »du musst dir deine Freunde anderswo suchen.«

»Freunde?«, wollte Toni wissen.

»Ja, sie kommen auf dem Fluss, aber ich werde nur einen Einzigen empfangen und ihm meine Hand geben, verstehst du?«

Toni sagte, sie würde es schon verstehen, und jetzt war das Geheimnis noch größer. Jemand würde zu ihrer Schwester kommen. Ein Mann?

In dem Jahr, in dem Alvine siebzehn wurde, war noch kein Mann gekommen. Sie sollte achtzehn Jahre alt werden, ehe ein Mann sie mit wirklichem Interesse ansehen würde. Das war der junge Hauslehrer, der für Toni eingestellt worden war. Er war liebenswürdig, sah gut aus, kleidete sich elegant, sprach ausgezeichnet französisch. Als jedoch Alvines Mutter bemerkte, dass er Alvine richtiggehend den Hof machte, erklärte sie ihrer Tochter, dass sie ihr schon sagen würde, wenn der Richtige gekommen sei, der Hauslehrer war nicht passend. Sein Vater war Dorfschullehrer, Bahnwärter oder etwas Ähnliches. Sicher hatte der Junge studiert, aber man konnte von dem, was in den Büchern steht, nicht leben. Das sah Alvine doch wohl ein?

Ja, das sah sie ein.

Alvine wartete weiter. Sie stand nicht mehr ganz so oft auf dem Balkon. Stattdessen las sie Romane über die Liebe und über das Reisen. Sie las sogar zwei Bücher von Leo Tolstoj.

Ihr Vater sah diese Bücher. Er lehnte Tolstoj ab, den er verwirrend fand. Er wollte seiner Tochter nicht verbieten, die Bücher des phantasiebegabten Grafen zu lesen, aber es gab doch so viel anderes zur Auswahl, Bücher, an denen man Freude hatte.

Alvine tat, was ihr Vater wünschte. Sie hörte auf, Tolstoj zu lesen. Sie wandte sich wieder den Romanen über die Liebe zu, die an Orten spielten, die weit weg lagen – in der Südsee, in Arabien, in Paris.

Sie wurde zwanzig, dann einundzwanzig, und er, der kommen sollte, hatte sie noch nicht gefunden.

Im Frühjahr 1895 dann passierte es. Alvine lernte Oscar Peterson auf der Schlittschuhbahn in Samara kennen. Er hielt nach dreimonatiger Bekanntschaft um ihre Hand an. Alvines Mutter meinte, dass Oscar der Richtige sei. Er war Geschäftsmann, hatte schwedische Vorfahren, sah gut aus und konnte sich angeregt unterhalten.

Oscar war mit dem Schiff auf dem Fluss gekommen, aus der großen Stadt Saratov im Süden, um Haushaltswaren zu verkaufen, aber das wusste Alvine nicht. Für sie war Oscar derjenige, auf den sie gewartet hatte. Er war doch auf einem ihrer Traumschiffe gekommen, nicht wahr?

Alvine und Oscar heirateten in der lutherschen Kirche in Samara. Oscars Mutter und seine vier Schwestern waren mit dem Dampfer aus Saratov angereist. Sie wohnten im Hotel. Das Hochzeitsessen wurde im Hause der Christensens eingenommen. Alvines Vater hielt eine lange und sehr gefühlvolle Rede.

Er erzählte von den Vorfahren aus dem fernen Norden, die Familien stammten ja von dort, sprach über das große Russland, das ewige russische Zarenreich.

Julius Christensen war von seinen Worten selbst gerührt. Nach dem Essen spielte eine Musikkapelle verschiedene Stücke russischer und nordischer Komponisten.

Oscar fand, dass die nordische Musik wie ein Wiener Walzer klang. Er konnte wirklich tanzen. Alvine hatte keine Übung, aber sie hatte Unterricht von einer Lehrerin erhalten. Alle lächelten dem Brautpaar zu, dem großen eleganten Oscar im gut sitzenden Frack, und der kleinen zarten Alvine in Spitzen, Schleier und Seide. An diesem Abend war sie eine bezaubernde kleine Braut.

Die Nacht wurde schlimm. Sie wusste nicht, was ihr bevorstand, dass der Mann in ihrem Leben so fordernd sein würde, so hart und schwer. Sie wusste nichts, und es war sehr schmerzhaft, als er in sie eindrang und immer weitermachte, gar nicht aufhören wollte.

Lange lag sie noch wach und horchte auf Oscars schwere Atemzüge, die allmählich in Schnarchen übergingen.

Jemand hatte ihr gesagt, dass man sich mit der Zeit daran gewöhne, ja sogar Gefallen daran finden konnte.

Das jedoch war bei Alvine niemals der Fall. Sie war gezwungen, Oscar seinen Willen zu lassen, wann immer er wollte, und sie verabscheute ihn für das, was er tat, aus ganzem Herzen.

Die Brände kommen näher

Oscars Vater Johan Peterson war ein schwedischer Schiffsmaschinist gewesen. Er stammte aus Schonen, war mehrere Jahre auf Dampfschiffen zur See gefahren, war in Odessa in Südrussland an Land gegangen. Johan war ins Landesinnere gefahren, hatte Emilie Goldbach aus Astrachan, der großen Stadt im Wolgadelta am Kaspischen Meer kennengelernt.

Sie hatten geheiratet und sich in Sarajewo siebenhundert Kilometer flussaufwärts niedergelassen. Johan Peterson arbeitete weiterhin auf Dampfschiffen. Er wurde Maschinenaufseher auf einem Wolgaschiff, dessen Kapitän Däne war. Wenn das Schiff vertäut war, tranken sie zusammen Wodka. In einer kalten Winternacht rutschte Johan am Kai aus, fiel ins Wasser, zog sich eine Lungenentzündung zu und starb nach zwei Wochen.

Oscar war drei Jahre alt gewesen, als er seinen Vater verloren hatte. In der Familie gab es vier Schwestern. Anna war die Älteste. Sie kümmerte sich um Oscar, wurde wie eine Mutter für ihn, wenn Emilie es nicht schaffte.

Anna wurde Oscars Haushälterin, seine Gehilfin, die große Stütze seines Lebens. Sie wachte über ihn, ließ ihn bestimmen, fällte jedoch auch oft Entscheidungen, ohne ihn vorher zu fragen, sie wusste ja, wie er es haben wollte.

Als Oscar Alvine heiratete, wurde Anna ängstlich. Würde Oscar sie im Stich lassen? Nein, er versprach, Anna mitzunehmen. Sie durfte in das Haus einziehen, das er gekauft hatte. Sie betätigte sich weiterhin als seine persönliche Haushälterin. Anna bügelte Oscars Hemden und Kragen, sie bereitete ihm das Frühstück, brachte ihm warmes Waschwasser, packte seinen Koffer, wenn er verreisen musste. Sie blieb immer auf und wartete auf ihn, wenn er von den Abenden in seinem Herrenclub in Samara spät nach Hause kam.

Alvine ließ es geschehen. Sie hatte keine Wahl. Anna und Oscar hatten so viel gemeinsam, ein Urbild alter Abhängigkeiten. Oscar und Alvine waren miteinander verheiratet, aber Anna hatte das Sagen im Hause, sie kommandierte die Dienerschaft, beriet mit Oscar über wirtschaftliche Angelegenheiten, hatte sein Vertrauen.

Oscar ließ seine Schwester nicht im Stich, noch nicht.

Das Haus lag ein Stück vom Fluss entfernt, im nördlichen Außenbezirk von Samara, in der Nähe einer kleinen blauweißen orthodoxen Kirche. Es war eine schöne Gegend, schattig im Sommer, nicht allzu lehmig, wenn im Herbst der Regen fiel, im Frühling dufteten die Lilien.

Aber das Haus war alt. Es war solide gebaut, hielt im Winter die Wärme, aber es hatte kein fließendes Wasser, die Mägde mussten Wasser mit Eimern vom Brunnen auf dem Hof holen. Alvine hatte in ihrem Elternhaus alle Annehmlichkeiten der modernen Technik der damaligen Zeit gehabt. Sie und ihre Schwestern hatten ein eigenes Dienstmädchen zur Verfügung, die Familie hatte eigene Kutscher, die auch für die Kinder den Wagen vorfuhren.

Jetzt war Alvine gezwungen, sich selbst um ihre Kleidung zu kümmern. Sie bekam zwar die Mahlzeiten hingestellt, aber sie musste sich selbst bedienen. Wenn sie in die Stadt fahren wollte, mussten Pferd und Wagen bestellt werden.

Im Spätwinter 1900 gebar Alvine ihr erstes Kind, es war ein Mädchen, das Erika genannt wurde.

Die Kleine schlief zunächst eine Zeitlang in einem Kinderbettchen neben Alvine. Anna stand immer zur Verfügung, sie nahm Erika auf, wenn Alvine darum bat, ließ das Kind eine Weile neben seiner Mutter liegen, legte es recht bald wieder zurück in das Bettchen. Anna wechselte die Windeln, wusch, brachte Erika in ein anderes Zimmer, wenn Alvine sich ausruhen wollte.

Nach einem Monat war es soweit, dass Anna bestimmte, wie Erika versorgt werden sollte. Nach vier Monaten schlief das Kind nicht länger bei seiner Mutter. Als Erika ein Jahr alt war, aß sie zusammen mit Anna und der Dienerschaft in der Küche. Die jungen Eltern bekamen ihre Mahlzeiten oben in dem kleinen Speisezimmer neben dem Schlafzimmer serviert.

Oscar und seine junge Frau waren der Auffassung, dass es so am besten sei. Alvine wurde beim Essen nicht durch Kindergeschrei gestört, Oscar musste nach einem langen Arbeitstag nicht nach Hause kommen zu übelriechenden Windeln.

Er hatte einen Laden eröffnet, er verkaufte Küchengeräte, meist aus Deutschland importierte Waren. Oscar hatte Alvines Mitgift in den Laden gesteckt, er selbst hatte kein Geld gehabt. Das Geschäft lief jedoch gut, er hatte zwei Angestellte, selbst würde er es bald etwas ruhiger angehen können, vielleicht etwas häufiger zuhause sein können. Das würde Alvine doch wohl gefallen?

Das tat es sicher, ja, natürlich.

Er könne morgens länger im Bett bleiben, das wolle sie wohl gerne?

Sie antwortete ausweichend. Oscar nahm an, dass sie dasselbe wie er wollte, dass sie nur zu schüchtern sei, ihm zu antworten.

Alvine gebar noch ein Mädchen, das Dagmar genannt wurde. Jetzt wusste Anna, was von ihr erwartet wurde. Schon nach zwei Monaten wurde das Kind von seiner Mutter getrennt.

Im Sommer 1904 wurde Alvine zum dritten Mal schwanger.

 

Die Kälte war um Neujahr herum sehr schneidend. Das Wasser der Wolga war gefroren, die Rauchsäulen aus den tausenden von Schornsteinen in Samara stiegen kerzengerade hinauf in die stillstehende Luft, sie vereinigten sich über der Stadt zu einem weißen Schleier. Das Mondlicht war gedämpft, alles stand still, in der Neujahrsnacht zeigte das Thermometer minus neununddreißig Grad.

Alvine war im siebten Monat. Sie war umfangreicher als die vorigen Male, bewegte sich weniger. Sie las Romane, blieb im Bett liegen. Die Hebamme, die nach ihr sah, bat sie aufzustehen, es sei für das Kind besser, wenn sich die Mutter etwas mehr bewege, auch sei es gut für die Mutter.

Widerwillig stand Alvine auf und zog sich an. Die Hebamme ließ absichtlich eine Dose mit Knöpfen auf den Boden fallen, schlug vor, dass Alvine sie als ein kleines Training aufsammeln sollte. Als Alvine sich weigerte, änderte die Hebamme ihre Taktik, fand, dass sie gemeinsam die Knöpfe auflesen sollten.

Alvine ließ sie liegen. Sie stellte sich ans Fenster, die Scheibe war von Frostblumen überzogen, sie konnte nicht hinaussehen. Sie überlegte, was sie am Neujahrstag anziehen sollte, wenn sie, Oscar und die Kinder zu Alvines Eltern zum Essen fahren würden.

Am ersten Tag des Jahres war es nicht ganz so kalt. Die Leute gingen ohne einen Wollschal vor dem Gesicht nach draußen.

Der Schlitten holte sie um ein Uhr ab. Es war ein überdachter Schlitten, sie saßen in Decken eingewickelt, Oscar hielt seinen Arm um Erika, die kleine Dagmar saß neben Alvine.

Die beiden Pferde hatten Schellen um den Hals. Sie zogen den Schlitten langsam auf dem Weg an der Kirche vorbei, hinauf bis zur Salzsiederei, über das Feld, auf dem der verharschte Schnee in kleinen harten Wehen lag, die Kufen knarrten auf dem verkrusteten Schnee.

Dann ging es etwas schneller, sie befanden sich auf der geraden Strecke, die an dem Stall der Kosaken vorbeiführte, an den Gebäuden der Wachmannschaften, vorbei an dem Platz, auf dem die Wagen und Geräte standen, die den Soldaten gehörten. Alvine nahm flüchtig einige Soldaten auf dem Hof wahr, sowie ein paar Reiter. Sie schienen irgendwohin aufzubrechen, sie ritten sehr schnell weg.

Jetzt war der Schlitten nur noch ein kleines Stück von der Katarinastraße, auf der sich der Palast des Gouverneurs befand, entfernt. Sie würden gleich an dem großen gelben Gebäude vorbeifahren und dann abbiegen hinunter in Richtung Innenstadt.

Da verlangsamte sich die Fahrt plötzlich. Der Kutscher rief den Pferden etwas zu, es schien so, als ob er sie zurückhielt.

Oscar steckte den Kopf auf der Seite hinaus und rief dem Kutscher zu, die Fahrt fortzusetzen.

»Du sollst uns zu der Adresse, die du erhalten hast, bringen, ohne zu trödeln«, schrie Oscar.

»Mein Herr, mein Herr«, rief der Kutscher zurück, »sehen Sie nicht, was wir vor uns haben?«

Jetzt verlangsamte er die Fahrt noch mehr. Oscar sah wieder hinaus, er sagte nichts, der Schlitten hielt an.

»Eine Schar Krawallmacher«, murmelte Oscar.

»Was für Leute?«, fragte Alvine.

»Ein Haufen Menschen auf dem Weg dort hinten.«

»Was sind das für Leute?«

Oscar antwortete nicht. Er rief dem Kutscher zu, einen anderen Weg zu nehmen.

Der Kutscher sprang vom Schlitten herunter, zog die Zügel an, versuchte, die Pferde ein Stück zurückzuführen, damit er den Schlitten wenden konnte. Es ging sehr langsam, eine große Schneewehe war im Weg.

»Beeil dich, du fauler Kerl«, schrie Oscar.

Der Kutscher riss an den Zügeln, sprach auf die Pferde ein, führte sie ein Stück zurück, dann wieder vor. Jetzt hatte er es fast geschafft, den Schlitten zu wenden. Die dunkle Schar vor ihnen kam näher. Die vordersten der Männer trugen eine große Prozessionsfahne, ein Bild der Jungfrau Maria, einige der anderen an der Spitze hielten brennende Kerzen in den Händen. Jetzt konnte man Gesang hören. Sie sangen einen Psalm, eine Neujahrshuldigung an den Erlöser.

Als sich die Schar noch etwa hundert Meter vom Schlitten entfernt befand, bog die Spitze ab. Die Männer, die die Standarte trugen, begannen, über das Feld hinauf zum Gouverneurspalast zu gehen. Sie stapften durch den Schnee, die anderen folgten, bald hatte der ganze Zug den Weg verlassen. Die Volksmenge bewegte sich hinauf auf den offenen Platz vor dem Palast zu. Dort machte die Spitze halt, die anderen blieben ebenfalls stehen.

Jetzt konnte Alvine sehen, wie viele Leute in dem Zug waren. Es waren fast nur Männer, sicher mehrere hundert, einige hielten Bilder von Maria, Josef und dem Jesuskind in den Händen.

Dann begann jemand zu sprechen, es klang laut und eintönig. Alvine konnte zunächst nur einzelne Wörter verstehen, dann Teile von Sätzen: »Als Diener des Zaren … bringen wir unsere Huldigung … seine guten … rechtgläubigen Kinder. Jesu Leiden … Huldigung.«

Hier wurde der Redner von dem Psalmengesang unterbrochen. Die Männer hielten die angezündeten Kerzen hoch, der Gesang tönte über das Feld, hinauf gegen die Wände des Palastes. Jetzt verstummte der Gesang wieder. Neue Worte erreichten Alvine: »Hungernde Kinder … treue … hungernde … hör uns … Jesu Gnade … hungern … Kinder hungern … sei gnädig.«

Wieder Psalmengesang. Wieder Hunderte erhobener Hände mit brennenden Kerzen, donnernder Gesang über das Feld.

Dann hörte man andere Geräusche, zuerst schwach, dann lauter werdend. Es waren Pferdehufe, dumpf im Schnee, viele galoppierende Pferde. Alvine wandte den Kopf, blickte in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Da kamen Pferde heran, eine Reitertruppe, die Kosaken. Der Schnee stob um die Hufe der Pferde.

Sie waren unterwegs über das Feld, hin zu den singenden Menschen. Sie machten vor den Männern mit den Kerzen nicht Halt. Die Reiter ritten direkt in die Schar auf dem Feld hinein. Einige Menschen wurden umgestoßen, andere versuchten wegzulaufen, wieder andere fielen mit gefalteten Händen auf die Knie.

Einer der Reiter schwang seinen Säbel und schlug zu, andere machten es ihm nach, sie schlugen ununterbrochen auf die Wehrlosen ein, die Säbel trafen Gesichter und Hälse, der Schnee färbte sich rot. Viele lagen schon am Boden, andere liefen davon, die Reiter nahmen die Verfolgung auf, und auch diese wurden niedergehauen.

Dann war der schonungslose Angriff plötzlich vorbei. Vielleicht hatte ein Offizier den Befehl erteilt, vielleicht war der Auftrag erfüllt. Die Reiter formierten sich in Reihen und entfernten sich langsam. Überall lagen tote und verletzte Menschen, einige versuchten, in Sicherheit zu kriechen, ein junger Mann saß mit hängendem Kopf im Schnee.

In weiter Entfernung war eine Kirchenglocke zu vernehmen. Vielleicht war es die Kirche in der Nähe von Oscars und Alvines Haus. Der Ton kam aus der Richtung.

Der Kutscher hatte die ganze Zeit über bewegungslos neben den Pferden gestanden. Jetzt kletterte er wieder auf den Schlitten, zog die Zügel leicht an. Die Pferde setzten sich in Bewegung und zogen den Schlitten hinunter auf die Alexanderstraße.

Die Kälte hielt an. Es war mitten im Winter, eine schwere, stille Zeit. Samaras Zeitung schrieb über die Ereignisse am Palast, aber als Alvine die Zeitung las, fand sie, dass die Beschreibung nicht mit dem übereinstimmte, was sie gesehen hatte.

In den folgenden Wochen standen in der Zeitung Berichte von ähnlichen Vorkommnissen überall in Russland, wo sich Menschen versammelt hatten und vom Militär auseinandergetrieben worden waren. Offenbar war irgendetwas Bemerkenswertes in St. Petersburg geschehen, aber es wurde nicht klar, was wirklich vorgefallen war. Viel später würden Oscar und Alvine von dem blutigen Sonntag im Januar vor dem Winterpalais des Zaren erzählen hören. Sie nahmen jetzt an, dass es sich hauptsächlich um Übertreibungen handelte oder dass böse umstürzlerische Mächte zu Recht zurückgeschlagen worden waren.

Im Februar gebar Alvine ihre dritte Tochter. Sie wurde Irma genannt. In diesen Tagen gingen in Samara Gerüchte um über Ereignisse, die sich auf dem Land am gegenüberliegenden Ufer zugetragen hatten. Einige große Güter waren von hungernden Bauern geplündert und in Brand gesetzt worden.

An stillen Tagen konnte man weit hinten die Rauchsäulen erkennen. Die Brandherde rückten immer näher. Eines Nachts loderten die Flammen aus einem großen brennenden Hof direkt vor der Stadt.

Niemand sah Erika je weinen

Die Jahre vergingen. Oscars Geschäft lief gut. Er war oft unterwegs, hatte eine Filiale in Kazan eröffnet und mit einem Händler in Novgorod eine Vereinbarung über den Verkauf von Waren getroffen, die er aus Deutschland importierte.

Oft war er über lange Zeit nicht zuhause, einen ganzen Monat lang, oder auch mehrere Monate. Einmal im Jahr fuhr er nach Deutschland, um neue Artikel für seinen Import auszusuchen. Diese Reisen beanspruchten viel Zeit. Oscar nahm sich die nötige Zeit, zwei, manchmal drei Monate. Er nutzte die Gelegenheit, alte Geschäftspartner zu besuchen oder neue Bekanntschaften zu knüpfen.

War er sehr lange von zuhause weg, dann schrieb er der Familie: Alvine würde ihn bestimmt vermissen, er würde bald zurück sein, mit Geschenken für all seine kleinen Mädchen in Samara.

Alvine jedoch vermisste ihn nicht. Sie empfand es als Erleichterung, dass Oscar weg war.

Nach den drei Töchtern hatte sie keine weiteren Kinder mehr bekommen. Irma, die zuletzt Geborene, war inzwischen fünf Jahre alt. Die drei Schwestern wohnten im Kinderzimmer im Erdgeschoss des Hauses. Anna kümmerte sich um sie, sie erzog sie, bestrafte sie, wenn sie ihr ungehorsam erschienen. Ein- oder zweimal am Tag sahen die Kinder ihre Mutter, meist fiel der Besuch jedoch sehr kurz aus. Nie nahmen sie gemeinsam eine Mahlzeit ein. Sie wurden zu Alvine hineingeführt, grüßten, setzten sich und unterhielten sich eine Weile, ehe Anna in die Hände klatschte. Das war das Signal: Der Besuch war zu Ende, es war an der Zeit, in das Kinderzimmer zurückzukehren, in die Küche oder sich an die Hausaufgaben zu machen.

Sie wurden von einer Gouvernante, Fräulein Feodorovna, unterrichtet. Jeden Vormittag wurden sie mit dem Wagen zum Unterricht gebracht, der in dem Haus stattfand, das Alvines Bruder Kolja gekauft hatte. Es kamen auch noch drei kleine Cousins dazu, zwei waren Kinder von Alvines ältester Schwester, der dritte war Koljas Sohn, der siebenjährige Mikael. Zusammen machten sie eine kleine Schulklasse aus.

Erika war jetzt neun Jahre alt. Sie las Bücher, die für Erwachsene bestimmt waren, machte Fortschritte im Rechnen und im Französischen, Deutsch sprach sie schon, da ihre Mutter die Tante Anna gebeten hatte, sich in dieser Sprache mit den Kindern zu unterhalten.

Erika half dem Fräulein Feodorovna. Sie las den jüngeren Kindern vor, erklärte Fremdwörter, hörte Hausaufgaben ab. Wenn Fräulein Feodorovna krank war, was recht oft vorkam, übernahm Erika die Klasse. Sie war eine tüchtige kleine Lehrerin, sie war immer zur Stelle, wenn weinende kleine Geschwister oder Cousins Trost brauchten.

Niemand hatte Erika je weinen gesehen. Die anderen waren, als sie klein waren, oft traurig, und dann gingen sie zu Erika. Sie trocknete Tränen, erzählte Märchen, brachte sie wieder zum Lachen.

Im Herbst 1910 zog ein Junge in die Küche auf der Etage der Kinder ein. Er hieß Vanja und war dreizehn Jahre alt. Oscar hatte Vanja als Laufburschen für seinen Laden eingestellt, aber Vanja hatte auch eine Reihe anderer Aufgaben; die Mädchen lernten schnell, Befehle zu geben, er wurde auch ihr Diener.

Er verließ die warme Küche vor dem Hellwerden, fegte die Straße vor dem Haus, ging schnell zu dem Laden in der Iverskijstraße, fegte auch dort, trug Holz und Wasser hinein, holte die Zeitung, die er auf Oscars Schreibtisch in dem kleinen Kontorraum hinter dem Ladenlokal legte.

Wenn Oscar gegen neun Uhr eintraf, wartete Vanja auf die Aufträge des Tages. Manchmal schickte Oscar ihn mit einer Rechnung auf die andere Seite der Stadt, und wenn er zurückkam, hatte Oscar eine weitere Rechnung oder einen Brief an jemanden geschrieben, der in der Nähe des Ortes wohnte, an dem Vanja gerade gewesen war.

Vanja nahm sein Essen in der Küche der braunen Villa ein. Erika hatte das Haus einmal so genannt, als sie in einem Aufsatz ihr Elternhaus beschreiben sollte. Die Geschwister hatten zugehört, als Fräulein Feodorovna Erikas Text vorgelesen hatte, und sie begannen, diesen Namen zu verwenden. Als Anna das hörte, wurde sie böse, sie verbot den Kindern, ihr Zuhause so zu nennen, es klang wie der Name einer Hütte, eines kleinen Holzschuppens.

Aber nun gab es den Namen einmal, die Kinder benutzten ihn, wenn Tante Anna es nicht hörte.

 

Vanja machte es ihnen nach. Er konnte weder lesen noch schreiben, aber er versuchte, wie die Mädchen zu reden, benutzte ihre Ausdrucksweise. Manchmal, wenn er in der Küche war und sie nicht wollten, dass er sie verstand, sprachen sie deutsch miteinander.

Ehe Vanja morgens die braune Villa verließ, aß er Brot und kalte Suppe, seine nächste Mahlzeit erhielt er erst spät abends. Zwischendurch trank er Wasser, um den Hunger zu unterdrücken. Er schlief oben auf dem Ofen, auf der dicken grauen Mauer, neben zwei jungen Mägden. Er lag auf einem Unterbett, das er mit Heu gefüllt hatte. Seine Kleider legte er selten ab. Einmal im Monat wurde Vanja gezwungen, in die Sauna zu gehen, alle halbe Jahr wurde ihm der Kopf kahl geschoren. Das sollte die Läuse vertreiben, aber sie kamen immer wieder.

In der Woche vor Weihnachten wurden Vanjas Kleider nach dem Saunabesuch verbrannt. Er erhielt neue Lumpen, die vorher in einer Lauge gekocht worden waren.

Eine der Aufgaben, die Vanja übertragen worden waren, war es, die Schuhe der Familie zu putzen. Besonders wichtig waren Oscars Stiefel aus Chevreauleder. Sie mussten glänzen, es durfte kein Schuhfett daran kleben, das Leder sollte weich bleiben. Oscar hatte die teuren Stiefel in der Leipziger Straße in Berlin gekauft. Er hatte den Mädchen von dem eleganten Geschäft erzählt, in dessen Eingang Palmen in Kupfertöpfen standen.

Die Chevreaulederstiefel gehörten der großen Welt an, ebenso wie Oscars Homburger, die Anzüge aus St. Petersburg und der Spazierstock aus Paris. All das verlieh Oscar Stil. Und die Anzüge sollten unbedingt gut gebügelt sein, die Stiefel mussten glänzen, das Leder blank sein.

Einmal war Oscar aufgefallen, dass die Stiefel Abdrücke auf dem Flurboden hinterließen, kleine kaum sichtbare Spuren von Schuhfett, aber trotzdem handelte es sich um eine auffallende Nachlässigkeit. Reste von Schuhfett unter den Sohlen.

Oscar ging schnell hinunter in die Küche. Vanja war natürlich nicht da, er war wohl mit einem Auftrag unterwegs, oder er hackte Holz auf dem Hinterhof des Ladens. Aber Oscar verlangte, dass Vanja geholt werden sollte. Die jüngste Magd wurde auf die Suche nach ihm geschickt.

Sie fand ihn vor dem Laden. Er putzte das Schaufenster auf Geheiß von Oscars Bürovorsteher. Vanja musste die Arbeit abbrechen und sofort in die braune Villa kommen.

Oscar hatte die Mädchen in der Küche versammelt. Er wollte, dass sie zusehen und zuhören.

Er schlug Vanja mit einer kurzen Weidenrute ins Gesicht, einen schnellen Schlag auf die rechte Wange und einen ähnlichen kurzen Schlag auf die andere Seite. Vanjas Kopf wurde hin und her geschlagen. Aber Vanja begriff nicht, warum Oscar ihn schlug. Er hob die Hände gegen die Wangen, Tränen liefen ihm aus den Augen.

»Für deine Nachlässigkeit«, sagte Oscar, »und dafür, dass du das nicht noch einmal tust.«

Vanja verstand es immer noch nicht.

»Denk genau nach«, sagte Oscar, »du weißt es bestimmt, und wenn du es nicht weißt, musst du darüber nachdenken.«

Er nickte den Mädchen zu. Dann ging er. Vanja stand da und drückte die Hände gegen seine brennenden Wangen. Die Tränen tropften ihm immer noch vom Kinn.

Spät am Abend fand Vanja ein kleines Paket mit zwei Butterbroten am Kopfende seines Bettes. Es war dickes Roggenbrot mit wunderbarer Butter bestrichen. Auf dem einen Stück Brot lag Ziegenkäse, auf dem anderen geräuchertes Fleisch. Vanja wusste nicht, wer die Brote dort hingelegt hatte. Er wollte nicht fragen. Er glaubte, dass es vermutlich Erika gewesen war.

In den Tagen nach der Bestrafung ging Vanja den Mädchen aus dem Weg. Er schämte sich, er war vor ihnen gedemütigt worden, und er verstand immer noch nicht, warum er geschlagen worden war.

Am Sonntagnachmittag, als er von der Andacht in der orthodoxen Kirche zurückkam, traf er die Mädchen auf dem Hof vor dem Haus. Sie waren mit ihren Eltern in der lutherischen Kirche unten in der Stadt gewesen. Sie kamen gerade im Wagen zurück. Vanja trat zur Seite, er hatte dort nicht zu stehen, wenn die Herrschaft nach Hause kam.

Aber Erika war schon aus dem Wagen gestiegen; sie ging schnell auf ihn zu. Er drehte sich um, und sie begrüßte ihn.

»Gottes Friede sei mit dir, Vanja«, rief Erika.

»Gottes Friede«, murmelte Vanja zurück.

Dann verschwand Vanja hinter dem Haus. Sie hatte ihn begrüßt, nur sie hatte es getan. Es war üblich, dass man einander etwas Gutes wünschte, wenn man aus der Kirche kam. Erika hatte nichts Besonderes getan.

Aber nur sie hatte ihn bemerkt.

Im Februar des darauffolgenden Jahres kaufte Alvines Bruder eine Fabrik in Samara. Dort wurden Nudeln hergestellt. Einiges wurde in der Umgebung verkauft, der größte Teil wurde mit dem Zug nach Westen transportiert. Samara lag an der Hauptbahnstrecke.

Der älteste Bruder Alfred hatte das Warenhaus übernommen. Er handelte außerdem mit Getreide. Er kaufte größere Posten bei den Großbauern des Gouvernements auf, ließ das Korn zu Mehl mahlen und verkaufte es an die Kaufleute, die das Mehl mit Schiffen auf der Wolga weitertransportierten.

Alvines Vater war gestorben, die Mutter Ida jedoch war trotz ihres Alters immer noch stark und dominierend. Sie kontrollierte ihre erwachsenen Kinder, machte zu aller Erstaunen den Töchtern gelegentlich kleine Geschenke. Es konnte Schmuck sein, Umschläge mit Geldscheinen, eine kleine Dose mit einer Goldmünze.

Für Alvine wurden die Geschenke der Mutter wichtig. Oscar gab ihr allzu wenig Geld für private Ausgaben, das Haushaltsgeld erhielt Anna. Alvine nahm die kleinen Geschenke ihrer Mutter dankbar an, und sie verkaufte oft den Schmuck und die anderen Wertgegenstände, die sie erhalten hatte.

Sie brauchte das Geld für Bücher. Sie las die ganze Zeit über Romane, sprach immer seltener mit den Bewohnern des Hauses. Wenn ihr die russischen Bücher ausgegangen oder zu langweilig geworden waren, bestellte Alvine Bücher aus Deutschland und Frankreich. Sie las in drei Sprachen, Bücher über die Liebe, über Reisen und Abenteuer, über exotische Orte, Liebe, ferne Meere, noch mehr Liebe.

Oscar reiste; wenn er zuhause war, versuchte Alvine, ihn von ihrem Bett fernzuhalten, sie schob Kopfschmerzen vor, Schmerzen im Unterleib nach den in kurzen Abständen erfolgten Entbindungen.

Im April 1911 gebar Alvine ihr viertes Kind, eine Tochter, die den Namen Magda erhielt. Erikas kleine Schwester, meine Mutter.