Триумфальная арка / Arc de Triomphe

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«Warum?»

«Weil Sie mich sprechen ließen, ohne zuzuhören. Es war gut. Ich brauchte das.»

Ravic nickte. Er sah, daß ihr Glas wieder leer war. «Gut», sagte er.

«Ich werde Ihnen die Flasche hierlassen.»

Er stand auf. Ein Zimmer. Eine Frau. Nichts weiter. Ein blasses Gesicht, in dem nichts mehr leuchtete. «Wollen Sie gehen?» fragte Joan Madou.

«Hier ist die Adresse Morosows. Sein Name, damit Sie ihn nicht vergessen. Morgen abend um neun.» Ravic schrieb es auf einen Rezeptblock. Dann riß er das Blatt ab und legte es auf den Koffer.

Joan Madou war aufgestanden. Sie griff nach ihrem Mantel und ihrer Mütze. Ravic sah sie an. «Ich will nur nicht hierbleiben. Nicht jetzt. Ich will noch irgendwo herumgehen.»

«Warum bleiben Sie nicht hier?» «

Es ist bald Morgen. Wenn ich zurückkomme, wird es Morgen sein. Dann ist es einfacher.» Ravic ging zum Fenster. Es regnete immer noch.

«Kommen Sie», sagte er. «Wir trinken noch ein Glas, und Sie legen sich schlafen. Das ist kein Wetter für Spaziergänge.»

Er griff nach der Flasche. Joan Madou war plötzlich dicht neben ihm. «Laß mich nicht hier», sagte sie «Laß mich nicht allein hier, nur heute nicht. Ich kann jetzt nicht allein sein.»

Ravic stellte die Flasche hin.

«Ich kann hier schlafen. Es hat keinen Zweck, noch anderswo hinzugehen. Ich brauche ein paar Stunden Schlaf. Muß morgen um neun operieren. Kann ebenso gut hier schlafen wie bei mir.»

Sie stand noch immer dicht neben ihm.

«Ich muß um halb acht ’raus.»

«Das macht nichts. Ich werde aufstehen und Frühstück für Sie machen, alles …»

«Sie werden gar nichts tun», sagte Ravic. «Ich werde frühstücken im nächsten Café wie ein vernünft iger Arbeiter; Kaffee mit Croissants. Alles andere kann ich in der Klinik machen. Wird nicht schlecht sein, Eugenie um ein Bad zu fragen. Gut, bleiben wir hier. Zwei verlorene Seelen im November. Sie nehmen das Bett. Wir brauchen noch ein paar Sachen, Kissen, Decke und so was.»

«Ich kann klingeln.» «Das kann ich auch.» Ravic suchte nach dem Knopf. «Besser, ein Mann macht das.»

Der Portier kam schnell. Er hatte eine zweite Kognakflasche in der Hand. «Sie überschätzen uns», sagte Ravic. «Herzlichen Dank. Wir gehören zur Nachkriegsgeneration. Eine Decke, ein Kissen und etwas Leinen. Ich muß hier schlafen. Zu kalt und zu viel Regen draußen. Ich bin gerade zwei Tage aus dem Bett nach einer schweren Lungenentzündung. Können Sie das machen?»

«Selbstverständlich, mein Herr. Dachte mir schon so etwas.»

«Gut.» Ravic zündete sich eine Zigarette an.

«Ich werde auf den Korridor gehen. Schuhe ansehen vor den Türen. Ein alter Sport von mir. Ich laufe nicht weg», sagte er, als er den Blick von Joan Madou sah. « Ich lasse meinen Mantel nicht im Stich.»

Der Portier kam mit den Sachen. Er stoppte, als er Ravic im Korridor stehen sah. «Das findet man selten», sagte er.

«Ich tue das auch selten. Nur an Geburtstagen und Weihnachten. Geben Sie mir die Sachen. Ich nehme sie mit hinein. Was ist denn das da?»

«Eine Wärmflasche. Wegen Ihrer Lungenentzündung.»

«Danke. Aber ich wärme meine Lungen mit Kognak.» Ravic zog ein paar Scheine aus der Tasche.

«Mein Herr, Sie haben sicher keine Pyjamas. Ich kann Ihnen ein Paar geben.»

«Danke, Bruder.» Ravic sah den Alten an. «Sie würden mir sicher zu klein sein.»

«Im Gegenteil. Sie werden Ihnen passen. Es sind ganz neue. Ein Amerikaner hat sie mir einmal geschenkt. Dem hatte sie eine Dame geschenkt. Ich trage so etwas nicht. Ich trage Nachthemden. Sie sind ganz neu, mein Herr.»

«Gut, bringen Sie sie herauf. Wir können sie ja mal ansehen.» Ravic wartete im Korridor.

Der Portier brachte die Pyjamas. Sie waren Prachtstükke. Die Pyjamas waren neu. Sie waren sogar noch in dem Karton des Magazin du Louvre, in dem sie gekauft waren. «Schade», sagte Ravic. «Ich hätte gern die Dame gesehen, die sie ausgesucht hat.»

«Sie können sie haben für diese Nacht. Sie brauchen sie nicht zu kaufen, mein Herr.Freut mich, daß Sie Ihnen gefallen. Gute Nacht, mein Herr. »

«Wecken Sie mich um halb acht. Klopfen Sie nur leise an. Ich höre es schon. – Gute Nacht.»

«Sehen Sie », sagte Ravic zu Joan Madou und zeigte die Pyjamas. «Ein Kostüm für einen Weihnachtsmann. Dieser Portier ist ein Zauberer. Ich werde die Sachen sogar anziehen. Er ordnete die Decken auf der Chaiselongue. Es war ihm gleichgültig, wo er schlief, in seinem Hotel oder hier. Er goß ein Glas voll und stellte die Flasche auf den Boden. «Salute!»

«Salute! Und danke!»

«Das ist in Ordnung. Ich hatte ohnehin nicht viel Lust, durch den Regen zu gehen.»

«Regnet es noch?»

«Ja.»

Das leise Klopfen kam von draußen durch die Stille.

«Gute Nacht zum Trinken.»

«Ja – und eine schlechte, allein zu sein.»

Ravic schwieg eine Weile.

«Daran haben wir uns alle gewöhnen müssen», sagte er dann.

«Warum bleiben Sie in Paris, wenn Sie niemand hier kennen?» fragte Ravic. Er fühlte, daß er schläfrig wurde.

«Ich weiß nicht. Wohin soll ich sonst gehen?»

«Haben Sie nichts, wohin Sie zurückgehen können?»

«Nein. Man kann auch nirgendwohin zurückgehen.»

«Weshalb sind Sie nach Paris gekommen?» fragte Ravic.

Joan Madou antwortete nicht. Er glaubte schon, sie sei eingeschlafen. «Raczinsky und ich kamen nach Paris, weil wir uns trennen wollten», sagte sie dann. Ravic hörte es, ohne überrascht zu sein.

«Warum waren Sie dann so verzweifelt?» fragte Ravic.

«Weil er tot war! Tot! Plötzlich nicht mehr da!» Weil er dich allein gelassen hat, bevor du dafür bereit warst.

Ravic wollte schlafen. Morgen mußte er operieren. Dies alles ging ihn nichts mehr an. Er stellte das leere Glas auf den Boden neben die Flasche.

6

Lucienne Martinet saß am Fenster, als Ravic hereinkam. «Wie ist das» fragte er, «so zum erstenmal aus dem Bett zu sein?»

Das Mädchen sah ihn an und dann hinaus in den grauen Nachmittag und wieder zurück zu ihm. «Kein gutes Wetter heute», sagte er.

«Doch», erwiderte sie. «Für mich schon.»

«Warum?»

«Weil ich nicht ’raus muß.»

Sie saß in ihrem Sessel, einen billigen baumwollenen Kimono um die Schultern gezogen, ein schmales, unansehnliches Wesen mit schlechten Zähnen – aber für Ravic war sie im Augenblick schöner als Trojas Helena. Sie war ein Stück Leben, das er mit seinen Händen gerettet hatte. Es war nichts, um besonders stolz zu sein; eine hatte er kurz vorher verloren. Die nächste verlor er vielleicht wieder; und am Ende verlor man sie alle und sich selbst auch. Aber diese hier war für den Augenblick gerettet.

Sie blickte durch das Fenster. «Schade, daß es nicht mehr regnet. Gestern war es besser. Da regnete es in Strömen.» Ravic setzte sich ihr gegenüber auf die Fensterbank. Merkwürdig, dachte er. Man erwartet immer, Menschen müßten glücklich sein, wenn sie am Leben geblieben sind. Sie sind es fast nie. Diese hier ist es auch nicht. Ein kleines Wunder ist geschehen, und alles, was sie daran interessiert, ist, daß sie nicht durch den Regen gehen muß. «Wie sind Sie gerade hierher, in die Klinik, gekommen, Lucienne?» fragte er.

Sie sah ihn vorsichtig an. «Eine Bekannte hat es mir gesagt.»

«Was für eine Bekannte?»

Das Mädchen antwortete nicht sofort.

«Eine Bekannte, die auch hier war. Ich habe sie hierhergebracht, bis vor die Tür.»

«Wann war das?»

«Eine Woche bevor ich kam.»

«War es die, die während der Operation gestorben ist?»

«Ja.»

«Und trotzdem sind Sie hierhergekommen?»

«Ja», sagte Lucienne gleichgültig. «Warum nicht?»

Ravic sagte nicht, was er sagen wollte. Er sah das kleine kalte Gesicht an, das einmal weich gewesen war und das das Leben so rasch hart gemacht hatte. «Waren Sie vorher auch bei derselben Hebamme?» fragte er.

Lucienne antwortete nicht. «Oder bei demselben Arzt? Sie können es mir ruhig sagen. Ich weiß ja nicht, wer es ist.»

«Marie war zuerst da. Eine Woche früher. Zehn Tage früher.»

«Und Sie sind später hingegangen, trotzdem Sie wußten, was Marie passiert war?»

Lucienne hob die Schultern. «Was sollte ich machen? Ich mußte es riskieren. Ein Kind … was sollte ich mit einem Kind?» Sie sah aus dem Fenster. «Wie lange muß ich noch hierbleiben, Doktor?»

«Ungefähr zwei Wochen.»

«Zwei Wochen noch?»

«Das ist nicht lange. Warum?»

«Es kostet und kostet…»

«Vielleicht können wir es ein paar Tage früher machen.»

«Glauben Sie, daß ich es abzahlen kann? Ich habe nicht genug Geld. Es ist teuer, jeden Tag dreißig Frank.»

«Wer hat Ihnen denn das gesagt?»

«Die Schwester.»

«Welche? Eugenie, natürlich …»

«Ja. Sie sagte, die Operation und die Verbände wären noch extra. Ist das sehr teuer?»

«Die Operation haben Sie schon bezahlt.»

«Die Schwester sagt, es wäre längst nicht genug gewesen.»

«Das weiß die Schwester nicht so genau, Lucienne. Da fragen Sie besser später Doktor Veber.»

«Ich möchte es gern bald wissen.»

«Warum?»

«Ich kann es mir dann besser einteilen, wie lange ich dafür arbeiten muß.» Lucienne blickte auf ihre Hände. Die Finger waren dünn. «Ich muß auch noch einen Monat Zimmermiete zahlen», sagte sie. «Als ich hierherkam, war es gerade der dreizehnte. Am fünfzehnten hätte ich kündigen müssen. Jetzt muß ich noch den Monat bezahlen. Für nichts.»

«Haben Sie nicht jemand, der Ihnen hilft ?»

Lucienne blickte auf. Ihr Gesicht war plötzlich zehn Jahre älter. «Das wissen Sie doch selbst, Doktor! Der war nur ärgerlich. Er hätte nicht gewußt, daß ich so dumm sei. Sonst hätte er nie mit mir angefangen.»

Ravic nickte. So etwas war nichts Neues. «Lucienne», sagte er, «wir können versuchen, von der Frau, die den Eingriff gemacht hat, etwas zu bekommen. Sie war schuld. Sie müssen uns nur ihren Namen geben.»

 

«Polizei? Nein, da fliege ich selbst ’rein.»

«Ohne Polizei. Wir drohen nur.»

Sie lachte nur. «Von der kriegen Sie damit nichts. Die ist aus Eisen. Dreihundert Frank habe ich ihr bezahlen müssen. Und dafür …» Sie strich ihren Kimono glatt. «Manche Menschen haben eben gar kein Glück», sagte sie .

«Doch», erwiderte Ravic. «Sie hatten eine Menge Glück.»

Er sah Eugenie im Operationssaal. Sie putzte Nickelsachen . Sie war so versunken in ihre Arbeit, daß sie ihn nicht kommen hörte.

«Eugenie», sagte er.

Sie fuhr herum. «Ach Sie! Müssen Sie einen dauernd erschrecken?»

«Ich glaube nicht, daß ich soviel Persönlichkeit habe. Aber Sie sollten die Patienten nicht erschrecken mit Ihren Geschichten über Honorare und Kosten.» «Die Hure hat natürlich sofort geklatscht.»

«Eugenie», sagte Ravic. «Es gibt mehr Huren unter Frauen, die nie mit einem Mann geschlafen haben, als unter denen, die eine schwierige Arbeit daraus machen. Ganz zu schweigen von den Verheirateten. Außerdem hat das Mädchen nicht geklatscht. Sie haben ihm nur den Tag verdorben, das ist alles.»

«Sie sollten heiraten, Eugenie», sagte er. «Einen Witwer mit Kindern. Oder den Besitzer eines Begräbnisinstituts.»

«Herr Ravic», sagte die Schwester. «Wollen Sie sich bitte nicht um meine Privatsachen kümmern? Ich muß mich sonst bei Herrn Doktor Veber beschweren.»

«Das tun Sie ohnehin den ganzen Tag.» Ravic sah mit Freude zwei rote Flecken auf ihren Wangenknochen erscheinen. «Warum können fromme Menschen so selten loyal sein, Eugenie? Den besten Charakter haben Zyniker; am unerträglichsten sind Idealisten. Gibt Ihnen das nicht zu denken?»

«Gottlob nein.»

«Das dachte ich mir. Ich gehe jetzt hinüber zu den Kindern der Sünde. Zum ›Osiris.‹ Für den Fall, daß Doktor Veber etwas für mich hat.»

«Ich glaube kaum, daß Doktor Veber etwas für Sie haben wird.»

«Ich werde bis ungefähr fünf Uhr dort sein. Dann in meinem Hotel.»

«Schönes Hotel, die Judenbude.»

Ravic drehte sich um. «Eugenie, nicht alle Flüchtlinge sind Juden. Noch nicht einmal alle Juden sind Juden. Und manche sind es, von denen man es nicht glaubt. Ich kannte sogar mal einen jüdischen Neger. War ein furchtbar einsamer Mensch. Das einzige, was er liebte, war chinesisches Essen. So geht es in der Welt zu.»

Die Schwester antwortete nicht. Sie putzte eine Nickelplatte, die völlig blank war.

Ravic saß in dem Bistro an der Rue La Boissiere und starrte durch die verregneten Scheiben, als er den Mann draußen sah. Es war wie ein Schlag in den Magen. Im ersten Augenblick fühlte er nur den Schock, ohne zu realisieren, was es war – aber gleich darauf stieß er den Tisch beiseite, sprang von seinem Stuhl auf und lief durch den vollen Raum der Tür zu.

Jemand hielt ihn am Arm fest. Er drehte sich um. «Was?» fragte er verständnislos. «Was?»

Es war der Kellner. «Sie haben nicht bezahlt, mein Herr.»

«Was? – Ach so … ich komme zurück …»

Der Kellner wurde rot. «Das gibt es hier nicht! Sie …»

«Hier …»

Ravic riß einen Schein aus der Tasche, warf ihn dem Kellner zu und riß die Tür auf. Er drängte sich an einer Gruppe von Leuten vorbei und stürzte nach rechts, um die Ecke, die Rue La Boissiere entlang.

Jemand schimpft e hinter ihm her. Er ging so schnell er konnte, ohne aufzufallen. Es ist unmöglich, dachte er, es ist völlig unmöglich, ich bin verrückt, es ist unmöglich! Das Gesicht, dieses Gesicht, es muß eine Ähnlichkeit sein, ein blöder Trick, den meine Nerven mir spielen – es kann nicht in Paris sein, dieses Gesicht, es ist in Deutschland, es ist in Berlin, die Scheibe war verregnet, man konnte nicht deutlich sehen, ich muß mich geirrt haben, bestimmt… Er ging weiter, eilig. An der Kreuzung der Avenue Kléber blieb er stehen. Eine Frau, eine Frau mit einem Pudel, erinnerte er sich plötzlich. Gleich hinterher war der andere gekommen. Die Frau mit dem Pudel hatte er schon längst überholt. Rasch ging er zurück. Als er die Frau mit dem Hund von weitem sah, blieb er an der Bordkante stehen.

Ravic spürte plötzlich, daß er naß von Schweiß war. Er wartete noch einige Minuten – das Gesicht kam nicht. Er musterte die geparkten Autos. Niemand saß darin. Er kehrte wieder um und ging bis zur Untergrundbahn an der Avenue Kleber. Er lief den Eingang hinunter, löste ein Billett und ging den Bahnsteig entlang. Es waren ziemlich viel Leute da. Bevor er durch war, lief ein Zug ein, hielt und verschwand in dem Tunnel. Der Bahnsteig war leer. Langsam ging er zurück in das Bistro. Er setzte sich an den Tisch, an dem er vorher gesessen hatte. Da stand noch ein Glas, halbvoll mit Calvados. Es schien sonderbar, daß es immer noch da stand … Der Kellner sah ihn «Entschuldigen Sie, mein Herr. Ich wußte nicht …»

«Gut, gut», sagte Ravic. «Bringen Sie mir ein anderes Glas Calvados.»

«Ein anderes?» Der Kellner blickte auf das halbvolle Glas auf dem Tisch. «Wollen Sie dieses nicht erst trinken?»

«Nein. Bringen Sie mir ein anderes.» Der Kellner nahm das Glas. «Ist er nicht gut?»

«Doch. Ich will nur ein anderes haben.»

«Gut, mein Herr.»

Ich habe mich geirrt, dachte Ravic. Die verregnete Scheibe, wie konnte man da etwas genau erkennen? Er starrte durch das Fenster. Er starrte aufmerksam hinaus, wie ein Jäger, er beobachtete jeden Menschen, der vorüberging … Er erinnerte sich an Berlin. Ein Sommerabend 1934 – das Haus der Gestapo; Blut; ein kahles Zimmer ohne Fenster; das blendende Licht nackter elektrischer Birnen; ein Tisch mit roten Flecken und Riemen zum Festschnallen; Schmerz, Qual, das fassungslose Gesicht Sybils; ein paar Männer in Uniform, die sie hielten – und eine Stimme und ein lächelndes Gesicht, das freundlich erklärte, was mit der Frau geschehen würde. Sybil wurde drei Tage später tod gefunden. ..

Der Kellner erschien und stellte das Glas auf den Tisch. «Dies ist eine andere Sorte, mein Herr. Von Didier aus Caën. Älter.»

«Gut, gut. Danke.»

Ravic trank das Glas aus. Er holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, zog eine heraus und zündete sie an. Seine Hände waren noch immer nicht ruhig. Er warf das Streichholz auf den Boden und bestellte einen anderen Calvados. Das Gesicht, dieses lächelnde Gesicht, das er vor ein paar Minuten gesehen hatte – es mußte ein Irrtum sein! Es war unmöglich, daß Haake in Paris war. Unmöglich! Er schüttelte die Erinnerungen ab. Es hatte keinen Zweck, sich damit kaputtzumachen, solange man nichts tun konnte. Er rief den Kellner und zahlte.

Er saß mit Morosow in der Katakombe.

«Du glaubst nicht, daß er es war?» fragte Morosow.

«Nein. Aber er sah so aus. Irgendeine verdammte Ähnlichkeit. Oder mein Gedächtnis, das nicht mehr sicher ist.»

«Pech, daß du im Bistro warst.»

«Gespenster», sagte Ravic. «Dachte, ich wäre drüber weg.»

«Das ist man nie. Ich habe das auch gehabt. Im Anfang hauptsächlich. In den ersten fünf, sechs Jahren. Ich warte noch auf drei in Rußland. Es waren sieben. Vier sind gestorben. Zwei davon erschossen von der eigenen Partei. Ich warte jetzt schon seit über zwanzig Jahren. Seit 1917. Einer von den dreien, die noch leben, ist jetzt an siebzig. Die anderen beiden um vierzig, fünfzig herum. Die werde ich hoffentlich noch kriegen. Es sind die für meinen Vater.»

Ravic sah Boris an. Er war ein Riese, aber über sechzig. «Du wirst sie kriegen», sagte er.

«Ja.»Darauf warte ich. Lebe deshalb vorsichtiger. Trinke nicht mehr so oft . Vielleicht dauert es noch eine Zeit. Ich muß kräftig sein dann. Ich will nicht schießen und nicht stechen.»

«Ich auch nicht.»

Sie saßen eine Zeitlang. «Wollen wir eine Partie Schach spielen?» fragte Morosow.

«Ja»

Sie machten zwei Spiele. Dann stand Morosow auf. «Ich muß gehen, Türen öffnen. Warum schaust du eigentlich nie mehr bei uns herein?»

«Ich weiß nicht.»

«Wie ist es mit morgen abend?»

«Morgen abend kann ich nicht. Da gehe ich essen. Ins Maxime.»

Morosow grinste. «Für einen illegalen Flüchtling treibst du dich eigentlich ziemlich frech in den elegantesten Lokalen von Paris herum.»

«Das sind die einzigen, in denen man völlig sicher ist, Boris. Wer sich wie ein Flühtlinge benimmt , wird bald erwischt»

«Stimmt. Mit wem gehst du denn?»

«Mit Kate Hegström.»

Morosow tat einen Pfiff . «Kate Hegström», sagte er. «Ist sie zurück?»

«Sie kommt morgen früh. Von Wien.»

«Gut. Dann sehe ich dich also doch später bei uns.»

«Vielleicht auch nicht.»

Morosow winkte ab. «Unmöglich! Die Scheherazade ist Kate Hegströms Hauptquartier, wenn sie in Paris ist.»

«Diesmal ist es anders. Sie kommt, um in die Klinik zu gehen. Wird in den nächsten Tagen operiert.» «Dann wird sie gerade kommen. Du verstehst nichts von Frauen.Oder willst du nicht, daß sie kommt?»

«Warum nicht?»

«Mir fällt gerade ein, daß du nicht bei uns warst, seit du mir damals die Frau geschickt hast. Joan Madou. Scheint mir doch kein reiner Zufall zu sein.»

«Unsinn. Ich weiß nicht einmal, daß sie noch bei euch ist. Konntet ihr sie gebrauchen?»

«Ja. Sie war zuerst im Chor. Jetzt hat sie eine kleine Solonummer. Zwei oder drei Lieder.»

«Hat sie sich inzwischen einigermaßen gewöhnt?»

«Natürlich. Warum nicht?»

«Sie war verdammt verzweifelt.»

«Was?» fragte Morosow und lächelte. «Ravic», erwiderte er väterlich mit einem Gesicht, in dem plötzlich alle Erfahrung der Welt waren. «Rede keinen Unsinn. Das ist ein ziemlich großes Luder.»

«Was?» sagte Ravic.

«Ein Luder. Keine Hure[2]. Ein Luder. Wenn du ein Russe wärest, würdest du das verstehen.»

Ravic lachte. «Dann muß sie sich sehr geändert haben. Servus, Boris! »

7

«Wann muß ich in der Klinik sein, Ravic?» fragte Kate Hegström.

«Wann Sie wollen. Morgen, übermorgen, irgendwann. Es kommt auf einen Tag nicht an.»

Sie stand vor ihm, schmal, selbstsicher, hübsch und nicht mehr ganz jung.

Ravic hatte ihr vor zwei Jahren den Blinddarm herausgenommen. Es war seine erste Operation in Paris gewesen. Sie hatte ihm Glück gebracht. Er hatte seitdem gearbeitet und keine Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt. Sie war für ihn eine Art Glücksbringer.

«Diesmal habe ich Angst», sagte sie. «Ich weiß nicht, warum. Aber ich habe Angst.»

«Das brauchen Sie nicht. Es ist eine Routinesache.»

Sie ging zum Fenster und sah hinaus. Draußen lag der Hof des Hotels Lancaster. Eine mächtige alte Kastanie reckte ihre alten Arme aufwärts zum nassen Himmel. «Dieser Regen», sagte sie. «Ich bin in Wien weggefahren, und es regnete. Ich bin in Zürich aufgewacht, und es regnete. Und jetzt hier …» Sie schob die Vorhänge zurück. «Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich glaube, ich werde alt.»

«Das glaubt man immer, wenn man es nicht ist.»

«Ich sollte anders sein. Ich bin vor zwei Wochen geschieden worden. Ich sollte froh sein. Aber ich bin müde.

Der scharmante Faulenzer, den ich vor zwei Jahren geheiratet hatte, wurde plötzlich ein brüllender Sturmführer, der den alten Professor Bernstein Straßen waschen ließ und dabeistand und lachte. Bernstein, der ihn ein Jahr vorher von einer Nierenentzündung geheilt hatte. Angeblich, weil das Honorar zu hoch gewesen war.

«Das Honorar, das ich bezahlt hatte, nicht er.»

«Seien Sie froh, daß Sie ihn los sind.»

«Er verlangte zweihundertfünfzigtausend Schilling für die Scheidung.»

«Billig», sagte Ravic. «Alles, was man mit Geld abmachen kann, ist billig.»

«Er hat nichts bekommen.Ich habe ihm gesagt, was ich über ihn, seine Partei und seinen Führer denke – und daß ich das von nun an öffentlich tun würde. Er drohte mir mit Gestapo und Konzentrationslager. Ich habe ihn ausgelacht. Ich sei immer noch Amerikanerin und unter dem Schutz der Gesandtschaft . Mir würde nichts geschehen, aber ihm, weil er mit mir verheiratet sei.»

Sie lachte. «Daran hatte er nicht gedacht. Er machte von da an keine Schwierigkeiten mehr.»

Gesandtschaft, Schutz, Protektion, dachte Ravic. Das war wie von einem anderen Planeten. «Mich wundert, daß Bernstein noch praktizieren darf», sagte er.

«Er darf nicht mehr. Er hat mich heimlich untersucht, als ich die erste Blutung hatte. Gut, daß ich kein Kind bekommen darf. Ein Kind von einem Nazi …»

Sie schüttelte sich.

Ravic stand auf. «Ich muß jetzt gehen. Veber wird Sie nachmittags noch einmal untersuchen. Nur der Form wegen.»

 

«Ich weiß. Trotzdem – ich habe Angst diesmal.»

«Aber Kate – es ist doch nicht das erstemal. Einfacher als der Blinddarm, den ich Ihnen vor zwei Jahren herausgenommen habe.» Ravic nahm sie leicht um die Schultern. «Sie waren meine erste Operation, als ich nach Paris kam. Das ist etwas wie eine erste Liebe. Ich werde schon aufpassen. Außerdem haben mir Glück gebracht. Das sollen Sie auch weiter.»

«Ja», sagte sie und sah ihn an.

«Gut. Adieu, Kate. Ich hole Sie abends um acht Uhr ab.»

«Adieu, Ravic. Ich gehe jetzt, mir ein Abendkleid bei Mainbocher kaufen. Ich muß diese Müdigkeit loswerden. Und das Gefühl, in einem Spinngewebe zu sitzen. Dieses Wien», sagte sie mit einem bitteren Lächeln, «die Stadt der Träume …»

Ravic fuhr mit dem Aufzug herunter und ging an der Bar vorbei durch die Halle. Im zweiten Stock des «International» war großer Betrieb. Einige Zimmer stand offen, das Mädchen und der Valet rannten hin und her und die Besitzerin dirigierte alles vom Korridor her. Ravic kam die Treppe herauf. «Was ist los?» fragte er.

Die Besitzerin war eine kräftige Frau mit mächtigem Busen und einem zu kleinen Kopf mit kurzen, schwarzen Locken. «Die Spanier sind doch fort», sagte sie.

«Das weiß ich. Aber wozu räumen Sie so spät die Zimmer noch auf?»

«Wir brauchen sie morgen früh.»

«Neue deutsche Emigranten?»

«Nein, spanische.»

«Spanische?» fragte Ravic, der einen Augenblick nicht verstand, was sie meinte. « Als Spanien dann republikanisch wurde, gingen sie zurück, und die Monarchisten und Faschisten kamen her. Jetzt gehen die letzten davon zurück, und die Republikaner kommen wieder. Die, die noch übrig sind.»

Boris stand in seiner Uniform vor der Scheherazade und öffnete die Tür des Taxis. Ravic stieg aus. Morosow lächelte an. «Ich dachte, du wolltest nicht kommen?» «Das wollte ich auch nicht.»

«Ich habe ihn gezwungen, Boris.» Kate Hegström umarmte Morosow. «Gottlob, daß ich wieder zurück bin bei euch!»

«Sie haben eine russische Seele, Katja. Der Himmel weiß, warum Sie in Boston geboren werden mußten. Komm, Ravic.» Morosow stieß die Tür zum Eingang auf. «Der Mensch ist groß in seinen Vorsätzen, aber schwach in der Ausführung[3]. Darin liegt unser Elend und unser Scharm.»

Die Scheherazade war wie ein kaukasisches Zelt eingerichtet. Die Kellner waren Russen in roten Tscherkessenuniformen. Das Orchester bestand aus russischen und rumänischen Zigeunern. Man saß an kleinen Tischen, die vor einer Bankette standen, die an der Wand entlanglief. Der Raum war dunkel und ziemlich besetzt.

«Was wollen Sie trinken, Kate?» fragte Ravic.

«Wodka. Und die Zigeuner sollen spielen. Ich habe genug vom ›Wiener Wald‹ im Parademarsch.» Sie zog zog die Füße ohne Schuhe auf die Bankette. «Ich bin jetzt nicht mehr müde, Ravic», sagte sie. «Ein paar Stunden Paris haben mich schon verändert. Aber mir ist immer noch, als wäre ich aus einem Konzentrationslager entkommen. Können Sie sich das vorstellen?»

Ravic sah sie an. «So ungefähr», sagte er.

Der Tscherkesse brachte eine kleine Flasche Wodka und die Gläser. Ravic füllte sie und gab eines an Kate Hegström. Sie trank es rasch und durstig und stellte es zurück. Dann sah sie sich um. Das weiche Licht unter der Tischplatte erleuchtete ihr Gesicht. «Warum, Ravic? Nachts wird alles farbiger. Nichts erscheint einem mehr schwer, man glaubt, alles zu können, und was man nicht erreichen kann, füllt man mit Träumen aus. Warum?»

Er lächelte. «Wir haben unsere Träume, weil wir ohne sie die Wahrheit nicht ertragen könnten.»

Das Orchester begann zu stimmen. «Sie sehen nicht so aus, als ob Sie sich mit Träumen betrügen würden», sagte Kate.

«Man kann sich auch mit der Wahrheit betrügen. Das ist ein noch gefährlicherer Traum.»

Das Orchester fing an zu spielen. Der Zigeuner kam an den Tisch.

Kate Hegström fühlte die Melodie auf ihrer Haut. Der Zigeuner verbeugte sich. Ravic schob ihm unter dem Tisch einen Schein in die Hand. Kate Hegström rührte sich in ihrer Ecke. «Waren Sie einmal glücklich, Ravic?»

«Oft.»

«Das meine ich nicht. Ich meine richtig glücklich. Atemlos, besinnungslos, mit allem, was Sie haben.»

«Oft , Kate», sagte er und meinte etwas ganz anderes und wußte, auch das war es nicht.

«Sie wollen mich nicht verstehen. Oder nicht darüber sprechen. Wer singt da jetzt mit dem Orchester?»

«Ich weiß es nicht. Ich war lange nicht hier.»

«Man kann die Frau von hier nicht sehen. Sie ist nicht mit den Zigeunern. Sie muß irgendwo an einem Tisch sitzen.»

«Dann ist es wahrscheinlich ein Gast. Das passiert hier oft .»

«Eine sonderbare Stimme», sagte Kate Hegström. «Traurig und rebellisch in einem.»

«Das sind die Lieder.»

«Oder ich bin es. Verstehen Sie, was sie singt?»

«Ja wass loubill» – «ich habe dich geliebt. Ein Lied von Puschkin.»

«Können Sie Russisch?»

«Nur so viel, wie Morosow mir beigebracht hat. Meistens Schimpfwörter. Russisch ist eine hervorragende Sprache für Schimpfwörter»

«Sie sprechen nicht gern über sich?»

«Ich denke sogar nicht gern über mich nach.»

Sie saß eine Weile und schwieg.

«Das ist aber nicht mehr russisch», sagte sie dann und horchte zu der Musik hinüber.

«Nein. Das ist italienisch. Santa Lucia Luntana.»

Der Scheinwerfer wanderte vom Geiger zu einem Tisch neben dem Orchester hinüber. Ravic sah die Frau jetzt, die sang. Es war Joan Madou. Sie saß allein an dem Tisch, einen Arm aufgestützt, und blickte vor sich hin, als wäre sie in Gedanken und außer ihr niemand da. Ihr Gesicht war sehr bleich in dem weißen Licht. Es hatte nichts mehr von dem verwischten Ausdruck, den er kannte. Es war plötzlich von einer aufregenden, verlorenen Schönheit. Er erinnerte sich, er hatte sie einmal schon so gesehen– nachts in ihrem Zimmer . Jetzt war es ganz da, und es war noch mehr da.

«Was ist los, Ravic?» fragte Kate Hegström.

Er wandte sich um. «Nichts. Ich kenne nur das Lied. »

«Erinnerungen.»

«Nein. Ich habe keine Erinnerungen.»

Er sagte es heftiger, als er wollte. Kate Hegström sah ihn an. «Manchmal möchte ich wissen, was mit Ihnen los ist, Ravic.»

«Nicht mehr als mit jedem anderen. Hier ist ein neuer Wodka für Sie, Kate. »

Das Orchester begann einen Blues zu spielen. Es spielte Tanzmusik ziemlich schlecht. Ein paar Gäste begannen zu tanzen. Joan Madou stand auf und ging dem Ausgang zu. Sie ging, als wäre das Lokal leer. Ravic fiel plötzlich ein, was Morosow über sie gesagt hatte. Sie kam ziemlich nahe an seinem Tisch vorbei. Es schien ihm, als hätte sie ihn gesehen; aber ihr Blick glitt gleich darauf gleichgültig über ihn hinweg, und sie verließ den Raum.

«Kennen Sie die Frau?» fragte Kate Hegström, die ihn beobachtet hatte.

«Nein.»

22 Ein Luder. Keine Hure. – Стерва. Не потаскуха.
33 Велик человек в своих намерениях, да слаб в их осуществлении.