Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie

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Man möge aus den angeführten Stellen, die nur Proben sind, entnehmen, wie eng die Inhalte «Leiden» und «schöpferische, ekstatische Liebesleidenschaft» aneinander rücken; die immer wiederkehrenden Motive ebrietas spiritus, suave vulnus charitatis, gladius amoris, pax in Christi sanguine, surgere ad passionem, calix quem bibisti amabilis usw. einzeln zu besprechen, würde eine eigene Abhandlung erfordern. Die Neigung zur Passionsmystik wird in den folgenden Jahrhunderten noch stärker. In der gleichsam klassischen MystikMystik Bernhards erscheint die Passion fast stets in Verbindung mit anderen Liebesmotiven, je nach Anlaß und Zusammenhang, sei es mit dem früheren Leben Christi, sei es mit der Auferstehung, sei es, unter dem Gesichtspunkt der Liebeszeugenschaft, mit der Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Auch wahrt die Ausmalung und körperliche Vergegenwärtigung der Leidensstationen und der durch sie bewirkten Ekstase des Meditierenden stets ein gewisses Maß.12 In der folgenden Epoche hat sich, wohl nicht zuletzt unter dem Einfluß des Stigmatisierungswunders an Franz von AssisiFranz v. Assisi, eine weit stärkere und konkretere Heraushebung der Passion und der Passionsmystik durchgesetzt, deren Träger die Franziskaner und wohl überhaupt die BettelordenBettelorden gewesen zu sein scheinen. Mir stehen hier nur wenige Texte zur Verfügung, fast nichts außer der oben zitierten Ausgabe der Werke Bonaventuras; und etwa die Schriften der Franziskaner-Spiritualen sind mir überhaupt nicht erreichbar. Doch selbst an einer so gemäßigten Persönlichkeit wie BonaventuraBonaventura ist die Entwicklung deutlich zu erkennen, und die Belegstellen sind so häufig und umfangreich, daß ich sie nicht hierhersetzen, sondern nur auf die wichtigsten verweisen kann; in Breviloquium pars IV caput IX, in der Schrift Diaeta salutis Tit. VII, cap. VII, im Itinerarium das 7. Kapitel (De excessu mentali et mystico), das Vorwort der Schrift Lignum vitae, das 6. Kapitel der Schrift De perfectione vitae, das Kapitel de specialibus orationibus (II, 23) in der wohl unechten Schrift De profectu religiosorum, das Vorwort und die sexta Feria der Meditationes Vitae Christi, und die ersten Seiten des Stimulus Amoris seines Schülers Jacob von MailandJacob v. Mailand. Zweifellos ist mir noch vieles entgangen.13 Überall wird dem Leser die starke Herausarbeitung der Passion und die innige Nähe der Inhalte «Leiden» und «Leidenschaft», passio und fervorfervor entgegentreten. Christus homo hunc (ignem charitatis) accendit in fervore suae ardentissimae passionis – devotionis fervor per frequentem passionis Christi memoriam nutritur – transfige, dolcissime Domine Jesu, medullas animae meae soavissimo ac saluberrimo vulnere amoris tui animam (Mariae) passionis gladius pertransivit – in passione et cruce Domini gloriari desidero – curre, curre, Domine Jesu, curre et me vulnera – das sind nur einige herausgegriffene Sätze, und vieles Einschlägige kann so kurz nicht zitiert werden, da es nur im Zusammenhang verständlich ist. Natürlich steht vielfach für passio nicht nur crux, vulnera, gladius usw., sondern auch eines der unzähligen Bilder, die die allegorische oder figurale BibeldeutungFiguraldeutung dem mittelalterlichen Theologen an die Hand gaben, und für fervorfervor steht oft ardorardor, amoramor, ebrietasebrietas, dulcedodulcedo, suavitassuavitas, excessusexcessus usw. Für die aus der Bibelinterpretation erwachsende Bildersprache will ich noch ein Beispiel geben, aus dem 6. Kapitel de perfectione vitae ad sorores; BonaventuraBonaventura, eine Schwester anredend, paraphrasiert Jes. XII, 3 (Haurietis aquas in gaudio de fontibus salvatoris): Quicumque desiderat aquas gratiarum, aquas lacrymarum, iste hauriat de fontibus Salvatoris, id est de vulneribus Jesu Christi. Accede ergo tu, o famula, pedibus affectionum tuarum ad Jesum vulneratum, ad Jesum spinis coronatum, ad Jesum patibulo crucis affixum, et cum beato Thoma apostolo non solum intuere in manibus eius figuras clarovum, non solum mitte manum tuam in latus eius, sed totaliter per ostium lateris eius ingredere usque ad cor ipsius Jesu; ubique ardentissimo amore crucifixi in Christum transformata, clavis divini timoris affixa, lancea praecordialis dilectionis transfixa, gladio intimae compassionis transverberata, nihil aliud quaeras, nihil aliud desideres, et nullo alio velis consolari, quam ut cum Christo tu possis mori in cruce; et tunc cum apostolo Paulo (Gal. 2, 19/20) exclames, dicens: Christo confixus sum cruci; vivo iam non ego, vivit vero in me Christus.14

Es ist nicht allein die Annäherung von «Leiden» und «Leidenschaft», von passio und fervorfervor, die uns in diesen mystischen TextenMystik bedeutend scheint, sondern vor allem auch das Streben nach beidem, desiderium et gloria passionis.15 Ganz im Gegensatz zu allen antiken, vor allem aber zu den stoischenStoa Vorstellungen, wird die passio gepriesen und herbeigesehnt; das Leben und die Stigmatisierung des heiligen Franz von AssisiFranz v. Assisi verwirklichen konkret die Vereinigung von Leidenschaft und Leiden, das mystische Überspringen des einen zum anderen. Leidenschaft der Liebe führt leidend zum excessus mentis und zur Vereinigung mit Christus; wer ohne passio ist, ist auch ohne Gnade; wer sich nicht mitleidend der passio des Erlösers hingibt, lebt in der Verhärtung des Herzens, obduratio cordis, und häufig findet man in den mystischen Traktaten Anweisungen, wie dieser Zustand zu überwinden sei. Dabei darf das in vieler Hinsicht wichtige und entscheidende Kriterium LerchsLerch, E., die Aktivierung der passio, nicht unvorsichtig übertrieben werden. Die Haltung der Seele ist eher eine dynamisch-potentielle als eine eigentlich tätige; sie ist eher empfangsbereit und sehnsuchtsvoll als eigentlich aktiv; sie ist ausgesprochen bräutlich. Zu welch stürmischer Liebesglut, zu welch glühender Hingabe die Seele auch gelangen mag, es ist immer Christus oder die Gnade, von deren Gewalt sie überwunden wird, und von denen also die Aktivität ausgeht. Die Liebeswunden, der fervor spiritus, die unio passionalis sind ein Geschenk der Gnade; man kann sich wohl dafür empfangsbereit machen, man kann es herbeiwünschen und darum beten, ja es kann hierbei eine solche Gewalt der Sehnsucht statthaben, daß die Erfüllung herbeigezwungen wird – so wie Jakob den Engel besiegte. Aber dann ist eben die Gnade schon in dem Betenden gewesen:

Regnum coelorum violenza pate

Da caldo amore e da viva speranza

Che vince la divina volontate;

Non a guisa che l’uom all’uom sobranza,

Ma vince lei perchè vuol esser vinta,

E vinta vince con sua beninanza. (DanteDante Par. 20, 94ff.)

Und in diesem Sinne sind und bleiben die passiones etwas, was die Seele leidet und wovon sie befallen wird – in diesem Sinne bleiben die Stammesbedeutung und die aristotelischeAristoteles Tradition erhalten. Das Neue und gewissermaßen Aktive der christlichen Vorstellung besteht darin, daß die Spontaneität und schöpferische Liebeskraft durch die passio entzündet wird (im Grunde ist auch dies noch aristotelisch); doch immer kommt sie aus den Höhen oder Tiefen der übermenschlichen Gewalten und wird empfangen und erlitten als ein herrliches oder schreckliches Geschenk.

Auch der Gesichtspunkt der «positiven Wertung» der passio in der mystischenMystik Liebesekstase bedarf vorsichtiger Einschränkung. Alles christliche Denken, insbesondere alle mystischen Vorstellungen bewegen sich in der Polarität des Gegensätzlichen. Auch die Gottesliebe ist Liebesqual, auch wenn sie erhört wird; denn Gott ist zu stark für die Seele; nähme er sie ans Herz, «sie verginge von seinem stärkeren Dasein»; sie stürbe den Liebestod in echter Qual und echter Entrückung zugleich. Zur Erläuterung will ich einige Verse von Jacopone da TodiJacopone da Todi zitieren, aus dem Cantico dell’amor superardente: Amor di caritate, / Perchè m’hai si ferito? / Lo cor tutto partito, / Et che arde per amore? // Arde et intende, e nullo trova loco; / Non può fugir però ched è ligato; / Sì si consuma come cera a foco;/ Vivendo mor, languisce stemperato:/ Dimanda di poter fugir un poco, / et in fornace trovasi locato. / Oimè do’son menato / A sì forte languire? / Vivendo si è morire, / Tanto monta l’ardore.// Nante che io il provassi dimandava / Amar Jesu, credendo ciò dolzura. / E’n pace di dolcezza star pensava, / Fuor d’ogni pena possedendo altura: / Provo tormento qual io non stimava, / Chel cor si mi fendesse per calura. / Non posso dar figura, / Di che veggio sembianza; / Che moio in delettanza, / e vivo senza core.

All diese Motive finden sich nun, wie man weiß, auch in der profanen Liebespoesie wieder – zuweilen so stark, daß man zweifeln kann, ob man es überhaupt mit profaner Dichtung zu tun hat. Ohne Liebe zu sein, ist eines edlen Herzens unwürdig; Liebe ist der Weg zu aller Tugend und Erkenntnis; und doch ist Liebe ebensowohl Entzücken wie Qual; Leiden und Leidenschaft sind eines; nicht nur aus Sehnsucht leidet der Liebende, sondern auch die Nähe der Geliebten, ihr Gruß und ihr Wort erschüttern ihn dergestalt, daß er zu vergehen meint. Das alles sind bekannte Motive der Liebespoesie, die, wenn auch sich allmählich verweltlichend und vielfach verflachend, von den ProvenzalenTroubadourdichtung über DanteDante und PetrarcaPetrarca, F. bis tief in die neuere Zeit sich nachweisen lassen, und überall, wo eine starke mystische Bewegung sich geltend macht, energisch und ursprünglich wiedererwachen. Auch die Bildersprache der MystikMystik, die Bilder vom Verbrennen, Verwunden, Durchbohren, von Trunkenheit, Gefangenschaft, Martyrium usw., wenngleich sie vielfach schon älteren Ursprungs sind, finden sich überall in der spezifisch mystischen Tönung; Fra Francesco Tresatti da LugnanoTresatti da Lugnano, F., der die mir vorliegende Jacopone-Ausgabe von Anfang des 17. Jahrhunderts besorgt hat, kann überall zu den Versen seines Autors Parallelstellen späterer Profandichter (PetrarcaPetrarca, F., BemboBembo, P. usw.) anführen.

 

Ich glaube nun, und der Leser wird diesen meinen Gedanken schon aus den bisherigen Ausführungen entnommen haben, daß die Passionsmystik mit ihrer Annäherung von passio und Ekstase auch auf die Entwicklung von passio-Leidenschaft von Einfluß gewesen ist; daß sie passio für den modernen Inhalt «Leidenschaft» aufnahmebereiter machte und ihm in dieser Hinsicht vor dem konkurrierenden Ausdruck affectus einen Vorsprung verlieh. Dasjenige, was nach meiner Meinung passio-Leidenschaft aus der Passionsmystik schöpfte, ist die Vertiefung des Inhalts «Leiden» in einem polaren Sinne, in dem es zugleich Entzücken und Entrückung bedeuten kann – also dasjenige, was EckhartMeister Eckhart (s. o. Anm. 6) «inhitzige minne» nennt. Dem Inhalt nach ist dieser Einfluß auch ganz unbestreitbar; es bildet sich in enger Anlehnung an die MystikMystik der polar-dialektische Inhalt «Leidenschaft» auch in der profanen Liebesdichtung, die ihre Erfahrungen als martiri, tormenti, dolci furori usw. beschreibt. Jedoch ist die Einwirkung auf den profanen Gebrauch des Wortes passio selbst zunächst sehr schwach. Zwar bezeichnet DanteDante in der Kanzone E’m’incresce di me sì duramente sein Erlebnis an dem Tage, da seine Herrin in der Welt erschien und das er unverkennbar mit der Entrückung Pauli Actus Ap. 9 in Beziehung setzt, als eine passion nova,16 die zum mystischen Liebestod führt; zwar nennt er zu Beginn des Convivio sein mystisches Jugendwerk, die Vita Nova, mit einer aus den mystischen Texten wohlbekannten Wortverbindung fervida e passionata; zwar läßt sich aus einem seiner lateinischen Briefe (Exulti Pistoriensi, Testo critico, p. 417) wohl schließen, daß passio mindestens in der Umgangssprache bestimmter Kreise für «Liebesleidenschaft» gebräuchlich war; zwar braucht schließlich auch BoccaccioBoccaccio, G. passione und passionato für Liebesleiden und -leidenschaft, und gelegentlich spricht er von der piacevolissima passione d’amore (suavissima passio amoris) – aber damit sind unsere Beispiele für Trecento und Quattrocento auch erschöpft.17 DanteDante selbst braucht passio in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle aristotelischAristoteles, gegen actioactio, allenfalls mit stoischemStoa Unterton, gegen ratioratio; und ebenso verhalten sich die übrigen theoretischen Autoren des späten Mittelalters; passio heißt bei ihnen Leiden (ohne dialektischen Nebensinn), Gefühl, Erfahrung, und manchmal Leidenschaft in rein peiorativ-stoischem Verstande; das aristotelische Element überwiegt weitaus, das stoische ist schwach, und das mystischeMystik fehlt. Passio war damals ein nach Schule schmeckendes Fachwort, und eben deshalb braucht es die Liebesdichtung überhaupt nicht; sagt doch selbst JacoponeJacopone da Todi stets croce, nie passione. DanteDante, dessen Vorstellung vom hohen Stil die Philosophie der Schulen miteinbegriff, hat keinen dauernden Einfluß gehabt, da unmittelbar nach ihm eine frühhumanistisch-gegenscholastischeScholastik Strömung die Oberhand bekam; PetrarcaPetrarca, F., der im Canzoniere sehr viele Bilder mystischer Herkunft verwendet, braucht niemals passio. Im hohen Stil und in der Bedeutung Leidenschaft konnte sich dies Wort erst durchsetzen, als der Einfluß der aristotelischen Schultradition zurückging. Weniger eng an die Schultradition gebunden war passionatuspassionatus, aber auch dies heißt damals «leidenschaftlich» nur im peiorativ-stoischen Sinne – immerhin mit einer neuen Abwandlung: es bedeutet «parteiisch», «voreingenommen». So braucht es schon DanteDante, der sogar passionare verwendet (Mon. I, II): bene repellentur, qui iudicem passionare conantur. Andere Stellen finden sich in einem Bericht über das Kardinalskonzil zu Pisa (1409), den DucangeDucange, Seigneur zitiert (concilium … fuit ex personis … passionatis contra iustitiam Suae Sanctitatis), in der Imitatio Christi und in mehreren italienischen Texten, die bei TommaseoTommaseo-BelliniBellini, G. angeführt werden.18

Im 16. Jahrhundert, als die Macht der thomistischThomismus-aristotelischen Schulen zurückging und als sowohl stoischeStoa wie auch erneut mystische Strömungen literarisch wirksam wurden, beginnt passio in der modernen Bedeutung «Leidenschaft» sich zu festigen, und zwar geschieht dies auf dem schon angedeuteten Wege über Liebesleiden und -leidenschaft. Doch hat es noch lange gedauert, bis diese Bedeutung eindeutig und ausschließlich gesichert war. Passio-Leidenschaft, aus mystischen und stoischen Quellen gespeist, hatte gleichsam einen Zweifrontenkrieg zu führen: gegen seine eigene aristotelischeAristoteles Bedeutung (als Erfahrung, Gefühl oder völlig leidenschaftsfreies Leiden) und gegen die Konkurrenz von affectusaffectus, affectioaffectio. Die verschiedenen aristotelischen Nuancen finden sich zum Beispiel noch bei Montaigne,19 Th. de BèzeBèze, Th. de,20 GarnierGarnier, R.;21 LecoqLecoq, Monsieur,22 überdies haben sie noch in den psychologischen Schulsystemen des 17. und 18. Jahrhunderts nachgewirkt. Die italienischen bzw. französischen Entsprechungen von affectusaffectus finden sich in Konkurrenz mit passio-Leidenschaft in den Liebestraktaten der Italiener; und bei zwei so verschiedenen Schriftstellern wie Alexandre HardyHardy, A. und Honoré d’UrféUrfé, H. d’ habe ich feuxfeux, flammesflammes, blessuresblessures, vor allem affections, aber, soweit ich ihre Werke kenne, niemals passion getroffen. Andererseits findet sich passio als Leidenschaft, besonders Liebesleidenschaft, in Italien etwa seit BoiardoBoiardo, M.23 und Lorenzo de’MediciMedici, Lorenzo de’24 (dagegen erinnere ich mich keiner Stelle bei AriostAriost, L. oder TassoTasso, T.), und in Frankreich vor allem bei Marguerite de NavarreMarguerite de Navarre.25 Sie verwendet neben passion auch affection, feux, flammes; passion läßt fast überall, wo es auftritt, die Vorstellung des Leidens mitanklingen, zuweilen macht sich auch eine tadelnde Betonung bemerkbar – aber überall heißt es doch unzweifelhaft «Liebesleidenschaft», und der Tadel gerät oft in Vergessenheit; Teilnahme und Bewunderung für die großen Bewegungen des Herzens mischen sich ein. Seither ist passion in dieser Rolle nicht wieder verschwunden,26 indes die älteren Bedeutungen sich allmählich verlieren. Das Wort tritt im französischen 17. Jahrhundert aus der gelehrten in die gebildet-literarische Sphäre; hier heißt es eindeutig und ausschließlich «Leidenschaft» im modernen Sinne, meist Liebesleidenschaft – daneben auch jene leidenschaftliche und herrschsüchtige Selbstliebe und Selbstbehauptung, die man mit ambitionambition und später noch charakteristischer mit gloiregloire bezeichnete. Die cartesianische Psychologie, die zumindest in ihrer Terminologie noch von der aristotelischen ScholastikScholastik abhängt, nennt freilich alle Gemütsbewegungen, auch die Gefühle und Empfindungen, passions; aber das wurde, trotz DescartesDescartes, R.’ bedeutender Wirkung auf die gebildete Gesellschaft, von ihr als Fachsprache empfunden und blieb ohne jeden Einfluß auf ihren Sprachgebrauch – weder Selbstzufriedenheit, Feigheit und Spottsucht, noch gar Krankheit, Hunger und Frost werden damals spontan praktisch als passion bezeichnet. Passion und souffrancesouffrance, passion und sentimentsentiment treten auseinander; wo Th. de Bèze noch sagte retirez-vous, humaines passions (s. Anm. 20), da findet sich bei RacineRacine, J. étouffant tout sentiment humain (Iph. 4, 6). Überhaupt werden passion und sentiment im wesentlichen schon ebenso unterschieden wie im 18. und 19. Jahrhundert27 – ganz fest kann die Grenze niemals bestimmt werden, da manche Gefühle, sobald sie sehr heftig sind, zu Begierden und damit zu Leidenschaften werden. Doch schon in dem für unsere Ohren noch etwas seltsam klingenden CorneilleversCorneille, P. – J’ai tendresse pour toi, j’ai passion pour elle (Nicomède 4, 3) – liegt eine klare Steigerung: passion soll ein heftiges, leidenschaftliches Gefühl der Liebe ausdrücken, gegenüber dem natürlichen, nicht mit Begierde verbundenen väterlichen Empfinden. Später findet man nicht selten ausdrückliche Scheidung von passion und sentimentsentiment, zum Beispiel in der bekannten Andromaque-Kritik von Saint-EvremondSaint-Evremond, Ch. de.28 Was das Kriterium LerchsLerch, E., die Aktivität, betrifft, so wird das Verhältnis der Leidenschaften zur Tätigkeit von PascalPascal, B. in einer Weise zum Ausdruck gebracht, die ganz in der Tradition ruht und doch auch dem heutigen Empfinden entspricht: L’homme est né pour penser; aussi n’est-il pas un moment sans le faire; mais les pensées pures, qui le rendraient heureux s’il pouvait toujours les soutenir, le fatiguent et l’abattent. C’est une vie unie à laquelle il ne peut s’accommoder ; il lui faut du remuement et de l’action, c’est-à-dire qu’il est nécessaire qu’il soit quelquefois agité des passions, dont il sent dans son cœur des sources si vives et si profondes.29

Die passions sind im französischen 17. Jahrhundert die großen menschlichen Begierden, und das Eigentümliche daran ist die deutliche Neigung, sie als tragisch, heroisch, erhaben und bewunderungswürdig anzusehen. Im Anfang des Jahrhunderts klingt die stoischStoa-peiorative Wertung noch sehr häufig an, doch wandelt sie sich bald in eine polare, in der das Schreckliche und das Herrliche sich zum Erhabenen vereinen. Das ist schon bei CorneilleCorneille, P. und PascalPascal, B., vielleicht schon bei DescartesDescartes, R. zu spüren, und es erreicht seinen Höhepunkt in der Tragödie RacinesRacine, J., deren Ziel es ist, die Leidenschaften zu erregen und zu verherrlichen. Nun gibt es les belles passions und les passions généreuses, und die Kritik beurteilt eine Tragödie nach der Echtheit, Tiefe und Schönheit der dargestellten Leidenschaften; für den fühlenden Zuschauer wird die Qual und das Entzücken der Leidenschaft zur höchsten Lebensform. Ce n’est point une nécessité, sagt RacineRacine, J. in der Préface zu Bérénice, qu’il y ait du sang et des morts dans une tragédie : il suffit que l’action en soit grande, que les acteurs en soient héroïques, que les passions y soient excitées, et que tout s’y ressente de cette tristesse majestueuse qui fait tout le plaisir de la tragédie. Eine Mischung von Scheu, Heuchelei, beginnender Einsicht und beginnender Reue hat ihn später, im Vorwort zu Phèdre, veranlaßt, sich ganz anders auszudrücken; aber es ist offenbar sophistisch, wenn er dort sagt: les passions n’y sont présentées que pour montrer tout le désordre dont elles sont cause – denn die Zuhörer bewunderten, ja beneideten Phèdre trotz allen Entsetzens, das ihr Schicksal hervorruft. Gegen die Verherrlichung der Leidenschaften erhebt sich nun eine nicht mehr stoischeStoa, sondern kirchliche Polemik (NicoleNicole, P., BossuetBossuet, J. B.), die die Lage sehr viel klarer erkannt hat als die Mehrzahl der übrigen Kritiker. Sie hat auch erkannt, daß die eigentlichsten, erhabensten und darum von ihrem Standpunkt gefährlichsten Leidenschaften amouramour und ambitionambition sind. PascalPascal, B. sagt ambition, spätere sagen, mit einer für die Epoche überaus bezeichnenden Wendung, gloiregloire. Dites-moi, sagt Bossuet,30 que veut un Corneille dans son Cid, sinon qu’on aime Chimène, qu’on l’adore avec Rodrigue, qu’on tremble avec lui lorsqu’il est dans la crainte de la perdre, et qu’avec lui on s’estime heureux lorsqu’il espère de la posséder? Le premier principe sur lequel agissent les poètes tragiques et comiques, c’est qu’il faut intéresser le spectateur ; et si l’auteur ou l’acteur d’une tragédie ne le sait pas émouvoir et le transporter de la passion qu’il veut exprimer, où tombe-t-il, si ce n’est dans le froid, dans l’ennuyeux, dans le ridicule … ? Ainsi, tout le dessin d’un poète, toute la fin de son travail, c’est qu’on soit, commes ses héros, épris des belles personnes, qu’on les serve comme des divinités; en un mot, qu’on leur sacrifie tout, si ce n’est peut-être la gloire, dont l’amour est plus dangereux que celui de la beauté même. … On se voit soi-même dans ceux qui nous paraissent comme transportés par de semblables objets: on devient bientôt un acteur secret dans la tragédie; on y joue sa propre passion; et la fiction au dehors est froide et sans agrément si elle ne trouve au dedans une vérité qui lui réponde. Für die geistliche Gesinnung war die Auffassung der Leidenschaften in der Tragödie des 17. Jahrhunderts ein gefährlicher Feind; Leidenschaft war nicht nur eine gewöhnliche «Unordnung», wie sie das irdische Leben zu jeder Zeit mit sich bringt, sondern selbst eine Art Religion, eine vermeintliche Erhöhung der menschlichen Existenz, die erstrebenswert schien und an der sich Größe und Edelmut des Herzens erwies. Ich habe über diesen Gegenstand schon früher gehandelt;31 und ich sage nichts ganz Neues, wenn ich meine, daß die erhabene Auffassung der Leidenschaften in ihrer polaren Dialektik eine verweltlichte, widerchristliche Wendung der PassionsmystikMystik darstellt; denn dieser Gedanke klingt häufig in der modernen RacineRacine, J.-Kritik an, wenn auch wohl nicht mit ausdrücklicher historischer Begründung. Er müßte auch den Schlüssel für einen Vergleich RacinesRacine, J. mit seinen antiken Vorbildern liefern.

 

Jedenfalls aber ist der moderne Inhalt «Leidenschaft» schon im französischen 17. Jahrhundert voll aktualisiert – und zwar nicht nur in bildlichen Umschreibungen wie feu und flamme, sondern auch in dem Wort passion. Ich zweifle sogar daran, ob die von Lerch hervorgehobene Entfaltung des Inhalts «Gefühl» im 18. Jahrhundert zu einer klareren Scheidung zwischen Gefühl und Leidenschaft viel beigetragen hat; wenigstens gilt das allgemein nur für die wissenschaftliche Psychologie. Es gab auch Strömungen, vom PietismusPietismus zur RomantikRomantik, die die Gefühle dermaßen anschwellen ließen, daß sie sich den Leidenschaften wieder annäherten und sich schließlich nur noch durch Unschärfe und Unbestimmtheit des Gegenstands der Wünsche von ihnen unterschieden. SenancourSenancour, E. P. de nennt es einmal passion universelle. Im vierten Brief von Obermann, nach einer Nacht melancholischer Versenkung am See von Neuchâtel, schreibt er: Indicible sensibilité, charme et tourment de nos vaines années; vaste conscience d’une nature partout accablante et partout impénétrable, passion universelle, sagesse avancée, voluptueux abandon; tout ce qu’un cœur mortel peut contenir de besoins et d’ennuis profonds, j’ai tout senti, tout éprouvé dans cette nuit mémorable. J’ai fait un pas sinistre vers l’âge d’ affaiblissement; j’ai dévoré dix années de ma vie. Heureux l’homme simple dont le cœr est toujours jeune.

P.S. Zu den Einwänden, die LerchLerch, E. S. 326ff. gegen Einzelheitenmeiner «Remarques sur le mot passion» (Neuphil. Mitt. XXXVIII, 218) erhebt, möchte ich noch folgendes bemerken: 1. Über das Fortleben von passio im VulgärlateinVulgärlatein denke ich ebenso wie er, nämlich, daß es als gelehrtes und kirchliches Wort, mit der Bedeutung Krankheit bzw. Leiden Christi dort fortlebte. Das habe ich auch geschrieben und der kirchlichen Verwendung weit größere Bedeutung beigemessen. Übrigens zitiert GodefroyGodefroy, F. auch volkstümliche Formen. 2. Meine Erklärung des Verschwindens von passion «Krankheit» im 17. Jahrhundert als niedere Bedeutung eines nunmehr in die hohe Sprache der Gebildeten eingegangenen Wortes halte ich aufrecht. LerchLerch, E. hat mich offenbar mißverstanden. Ich behaupte nicht, daß «Leiden» wegen «Leidenschaft» verschwinden mußte; sondern niedere, körperliche Krankheit vor den erhabenen Seelenbewegungen. Seine eigene Erklärung, passio-Krankheit habe als Fachwort weichen müssen, widerspricht der meinen nicht, sondern ergänzt sie. 3. Dagegen hat Lerch gegen FuretièreFuretière, A. und mich recht, wenn er in der Redensart souffrir mort et passion eine Erinnerung an die Passion Christi sieht. Sie erscheint schon in Kreuzzugsliedern: so in dem Lied Chevalier mult estes guariz bei BédierBédier, J.-AubryAubry, G. J., Les Chansons de croisade, Paris 1909, und provenzalisch bei Raimbaut de VaqueirasRaimbaut de Vaqueiras, in BartschsBartsch, K. Chrestomathie, 6e ed., 139, 10.

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