In der Vertikale

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Ein Bilderbuchriss spaltet den Torre di Valgrande in zwei Teile und zieht wie eine Rakete gegen den Himmel.

3.

Werde, der du bist

CIVETTA-DOLOMITEN | TORRE DI VALGRANDE

Via Carlesso-Menti

VI+ A1 (VIII–) | 480 Meter

Berge üben auf mich eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Schon als Kind konnte ich mich nicht genug satt sehen am alpinen Panorama, das sich mir auf den Gipfeln meiner Lesachtaler Heimat bot. Da gab es steile Wände, luftige Grate und elegante Spitzen. In der Zwischenzeit habe ich noch viele andere bezaubernde Bergformen kennen gelernt. Nach wie vor am meisten aber faszinieren mich Berge, die sich einem Turm gleich gegen den Himmel recken. Dann habe ich das Gefühl, der Stein hat zu seiner eigentlichen Berufung gefunden. Welches andere Material wäre in der Lage, sich über Hunderte von Höhenmetern gegen die Schwerkraft zu behaupten? Unter allen alpinen Felsformen ist der Turm die kühnste und edelste. Dass wir das so empfinden, liegt vielleicht auch darin begründet, dass das Bild des Turmes tief in unserer Seele verankert ist und – wie die Psychologie sagt – zu den Archetypen unseres kollektiven Bewusstseins gehört.

Carl Gustav Jung, Schweizer Psychiater und Gründer der analytischen Psychologie, hat Zeit seines Lebens an einem Turm gebaut. Für ihn war das Bauen Ausdruck eines inneren Prozesses der Selbstwerdung. Dieser Prozess der Individuation, wie Jung ihn auch nennt, ist in jedem von uns angelegt und hat zum Ziel, die unverwechselbare Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen auszuprägen. Durch engagierte Auseinandersetzung mit den in unserer Psyche angelegten Kräften sollen wir uns möglichst umfassend verstehen, um zu der oder dem zu werden, die oder der wir von unserem ganzen Wesen her sind. Werde, der du bist!9 Mit diesen Worten ruft bereits der im fünften vorchristlichen Jahrhundert lebende griechische Dichter Pindar seine Leser zur Selbstfindung auf. Und auch das Delphische Orakel kennt kein wichtigeres Lebensziel, als sich mit der eigenen inneren Persönlichkeit auseinanderzusetzen, wie die Worte Erkenne dich selbst! (gnôthi seautón) über dem Eingang des Tempels von Delphi bezeugen. Die Gesetzmäßigkeit, nach welcher die Selbstwerdung des Menschen vonstattengeht, hat der deutsche Dichter Friedrich Rückert in einem Gedicht so beschrieben:

Vor jedem steht ein Bild des, das er werden soll;

Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.

Weitgespannt ist die Literatur zur Frage, welche denn nun genau jene Kräfte der Seele sind, die es im Prozess der menschlichen Selbstwerdung zu entwickeln gilt. Der deutsche Autor und Psychotherapeut Lutz Müller10 meint aufbauend auf der Lehre von C. G. Jung, dass sich die für die Individuation sinn- und orientierungsstiftenden Prinzipien auf fünf reduzieren lassen. Er bezeichnet sie mit griechischen Namen, deren Bedeutung sich einem jedoch leicht erschließen, weil uns die Begriffe aus der Alltagssprache geläufig sind. Die fünf Prinzipien der Lebenskunst lauten: BIOS, HEROS, EROS, LOGOS und MYSTOS. Während sich BIOS auf unsere vitalen Bedürfnisse, das Sinnliche und Körperliche, bezieht, nimmt HEROS die Aspekte unserer Aktivität in den Blick wie zielgerichtetes Handeln, Tatkraft, Mut und Stärke. EROS ist dazu das polare Gegen- und Ergänzungsprinzip, das verbindet und vereint. EROS steht für Beziehung, Einfühlung, Liebe, Schönheit, Freude und Harmonie. Das LOGOS-Prinzip bezeichnet die geistige Dimension. Dazu gehört alles, was sich auf Erkenntnis, Bewusstsein, Wahrheits- und Sinnfindung bezieht. Alle vier Prinzipien bilden ein umfassendes Ganzes. Dieses wird als MYSTOS (schöpferisches Geheimnis) bezeichnet. MYSTOS weist auf den verborgenen Mittelpunkt des Menschen wie auch des Lebens hin. Er ist das Mysterium der sich selbst organisierenden schöpferischen Einheit und Ganzheit des Seins, aus der sich die beschriebenen anderen Prinzipien in einem andauernden Wachstums- und Veränderungsprozess herausdifferenzieren bzw. hineinintegrieren.

Diese fünf Prinzipien können als eine Art Kompass für die Selbstverwirklichung verwendet werden. Sie können uns zeigen, wo wir uns möglicherweise zu sehr von unserer natürlichen Ganzheit entfernt haben, in die Sackgasse geraten sind und in welcher Richtung es für uns weitergehen könnte. Sie können unser Bewusstsein erweitern, indem sie uns auf Bereiche der Seele und des Lebens aufmerksam machen, die wir vielleicht verdrängt haben oder aus anderen Gründen nicht genügend würdigen. So lässt sich zum Beispiel mit ihrer Hilfe erkennen, dass in unserer heutigen westlichen Gesellschaft die Aspekte und Werte des HEROS und des LOGOS dominieren, während eine verantwortliche, konstruktive Beziehung zum BIOS, zu Natur und zum Leben, zum EROS, zur Liebe und Schönheit und auch zum MYSTOS, der die Welt als eine lebendige schöpferische göttliche Ganzheit auffasst, verloren gegangen scheint.

Wenn ich mit diesem einfachen, aber erstaunlich umfassenden Diagnoseinstrument auf das alpine Klettern blicke, so fällt mir auf, dass darin das Prinzip HEROS mit seiner vorwärts drängenden Energie, die uns Mut schenkt, Angst überwinden hilft und Grenzen überschreiten lässt, eine erstrangige Rolle spielt. Aber bei näherem Zusehen entdecke ich, dass auch die anderen Prinzipien aktiviert werden. Aufgrund des starken körperlichen Schwerpunktes im Klettern ist die gesamte Dimension des Sinnlichen und Vitalen (BIOS) sehr präsent, aber auch die Bereiche Beziehung, Einfühlung, Schönheit und Harmonie (EROS) spielen beim Klettern angesichts von Kletterpartnerschaft und Naturbegegnung eine große Rolle. Routenfindung und alpine Logistik fordern den Geist und stellen ihm vielfältige und umfassende Aufgaben, weshalb auch das Prinzip LOGOS sehr oft zum Zug kommt. Und schließlich stellt die Erfahrung des Kletterns im Gegenüber zur Mächtigkeit der Berge eine ständige Einladung dar, sich dem schöpferischen Geheimnis (MYSTOS) zu öffnen.

Werden wir gefragt, wozu das Klettern gut ist, müssen wir eingestehen, dass es eigentlich zu nichts dient. Es bringt keinen Nutzen. Wir betreiben es aus reiner Lust an der Sache. Und dennoch habe ich den Eindruck, dass mir das alpine Klettern auf dem Weg der Selbstverwirklichung irgendwie behilflich war. Vielleicht in der Weise, dass es mir – einem Exerzierfeld gleich – die Möglichkeit bot, mich in die oben genannten Prinzipien, welche für die Lebenskunst so entscheidend sind, einzuüben. Auf diese Weise ist es mir vielleicht auch gelungen, sie im beruflichen und zwischenmenschlichen Alltag besser und ausgeglichener zur Geltung zu bringen. Mag sein, dass dadurch mein eigener Turm, den durch mein Leben zu bauen ich vom Schöpfer berufen bin, die gegenwärtige Gestalt gewonnen hat. Jedenfalls blicke ich dankbar auf meine fünfzigjährige Kletterkarriere zurück, der ich nicht nur unvergessliche Erlebnisse, sondern zweifellos auch eine entscheidende Charakterformung verdanke. Und sehe ich irgendwo einmal einen schönen Felsturm, so muss ich an all das denken.


Beim Klettern gilt es wie im Leben so manchen Rucksack zu schultern.

In der Civetta steht eine solch faszinierende Felsgestalt, ein Turm von schwindelerregender Steilheit, der Torre di Valgrande. Niemand käme auf die Idee, in seine Südwestwand einzusteigen, gäbe es da nicht den Hoffnungsschimmer in Form eines feinen Risses, der das gewaltige Plattengefüge von unten bis oben durchzieht. Wenn eine Überwindung dieser gelben Wand möglich ist, dann nur entlang dieser Spur. In den Riss kann man seine Hände verkrallen, die Füße dagegenstemmen und so versuchen, sich in Gegendrucktechnik nach oben zu arbeiten. Ob wir uns dieser Herausforderung stellen sollen? Zum zweiten Mal bin ich mit Roland Pranter, meinem starken und talentierten Kletterfreund aus Kötschach-Mauthen, in der Civetta. Große Unternehmen wie die Via Cassin am Torre Trieste sind uns das letzte Mal geglückt. Erfolg bestärkt und beflügelt. Also wollen wir es wagen. Nachdem wir uns mit der Via Aste im Hinblick auf die Punta Civetta akklimatisiert haben, fühlen wir uns für die schwierige Tour bereit. Dem geübten Auge sticht die berühmte Tour aufgrund ihrer spektakulären Linienführung sofort ins Auge. Aber es bedurfte eines kühnen Felsakrobaten wie Raffaele Carlesso, damit sich erst einmal jemand in diese Steilheit wagte. Die erforderliche Kühnheit, um jener mächtigen gelben Wand entgegenzutreten, fand Ausdruck in der unglaublichen Leistung Raffaele Carlessos. Der aus Pordenone stammende Alpinist galt in den Dreißigerjahren als einer der verwegensten Dolomitenkletterer. Wie er selbst bekennt, zog er aus seiner Begegnung mit den Bergen auch reiche Lehren fürs Leben: Ich ging nicht nur wegen meinen Ambitionen in die Berge. Ich war ganz einfach von ihnen angezogen und wurde von ihnen erzogen: eine gute Schule fürs Leben. Er hatte die Route 1936 gemeinsam mit Mario Menti eröffnet, die erste Wiederholung ließ dann ganze dreizehn Jahre auf sich warten. Im Jahre 1949 erschienen die berühmten Scoiattoli aus Cortina, Luigi Ghedina und Lino Lacedelli. Letzterem sollte einige Jahre später mit dem Gipfelsieg am K2 ein Welterfolg beschieden sein. Doch in der Carlesso-Menti flog Lacedelli zuerst einmal in der berühmten Schlüsselstelle mit einem spektakulären Sturz aus der Wand, verletzte sich und musste den Versuch abbrechen, erst beim zweiten Versuch glückte ihm der Durchstieg. Unter den weiteren Kandidaten, die diese erlesene Tour ins Auge fassten, finden wir lauter berühmte Namen: Jean Couzy, Erich Abram, Toni Hiebeler, Cesare Maestri, Mario Stenico, Andrea Oggioni, Toni Egger, Claude Barbier.

 

Noch etwas schlaftrunken queren wir im Morgengrauen die Schotterhalden am Wandfuß des Torre d’Alleghe auf der Suche nach dem Einstieg in unsere Tour. Zustieg und Einstieg sind in einer alpinen Route nicht bezeichnet, man muss sie selbst finden. Eine kleine Unachtsamkeit kann zeitraubende Folgen haben. Und die passiert uns heute. Wir geraten am Fuß unseres Turms in den falschen Kamin und müssen, als wir den ärgerlichen Irrtum bemerken, alles wieder abklettern. Jetzt passen wir aber auf. Wir finden den richtigen Kamin, queren an seinem Ende über ein Felsband nach rechts hinaus und stehen bald am Einstieg. Beim ersten Blick nach oben bleiben wir beide wie angewurzelt stehen. Ein Bilderbuchriss spaltet den Berg und zieht wie eine Rakete gegen den Himmel. Doch jählings wird der nach oben schweifende Blick durch ein Hindernis gestoppt. In etwa hundert Meter Höhe klafft ein schwarzes Loch und lässt ein gewaltiges Dach sichtbar werden. Das muss wohl die Schlüsselstelle sein, in der sich Raffaele Carlesso seinerzeit in gewagter Kletterei einen Durchstieg erkämpft hat und Lino Lacedelli geflogen ist. Ich bin schon gespannt, wie es uns dabei ergehen wird.

Die ersten beiden Seillängen im oberen fünften Grad kommen uns da gerade recht, um unseren Körper auf die nötige Betriebstemperatur zu bringen. Dann stehen wir am ruhmvollen Schauplatz und mustern die uns verbleibenden Möglichkeiten. Roland fällt die nächste Seillänge zu. Ich lehne meinen Rucksack vorerst einmal an die Höhlenwand und mache mich bereit Roland zu sichern. Er klettert im hinteren Grund der Grotte nach oben, bis er an der Decke ansteht. Von dort muss er über das Dach hinaus an die Kante gelangen. Zentimeter für Zentimeter gebe ich ihm das nötige Seil heraus, während er weit ausspreizend versucht weiterzukommen. Geschickt nützt er alle Raffinessen der Doppelseiltechnik, hängt da und dort ein und achtet darauf, dass sich die Seilreibung in Grenzen hält. Roland ist ein starker Partner, trotzdem treibt es ihm den Schweiß aus den Poren. Das Dach entlässt ihn nicht so schnell aus seinem Würgegriff. Ich höre seinen schnellen Atem, spüre die Spannung, unter der er steht, und versuche ihn möglichst gut zu sichern. Jetzt hat er den Rand des Daches erreicht, hängt dort noch einmal das Seil in einen Haken, zieht sich hinauf und entschwindet meinen Blicken. Dann stockt der Seilfluss, offensichtlich gönnt sich Roland eine Verschnaufpause. Die hat er jetzt, da das Ärgste vorbei ist, redlich verdient. Aber nicht lange rastet er, dann beginnt das Seil wieder regelmäßig aus meinen Händen zu gleiten und ich weiß, der Kamerad ist gut unterwegs.


Mit Roland stelle ich mich am Torre di Valgrande einer großen Herausforderung.

Als ich von ihm das Signalwort Stand! höre, sind meine Gedanken nur mehr auf das Dach fokussiert. Ich hatte ja alle Zeit der Welt, mir zu überlegen wie ich es angehen sollte, und bin jetzt gespannt, ob meine Strategie auch aufgeht. So sehr bin ich von meinem Vorhaben gefesselt, dass ich ganz auf meinen Rucksack vergesse, der verlassen an der Rückwand der Höhle lagert. Ich sehe nur noch das Dach und sage mir: Eine schwierige Situation bewältigt man am besten, wenn man sie entschieden anpackt. So werfe ich mich in die Schlacht und arbeite mich durch die Schwierigkeiten. Bei Roland angekommen, übernehme ich die Führung der nächsten Seillänge. Der Riss zieht nun wieder kerzengerade nach oben. In Piaz-Technik arbeite ich mich höher, genieße die irre Position inmitten der senkrechten Platten und erreiche den nächsten Stand. Unbändiger Durst überfällt mich. Ich will nach meiner Wasserflasche greifen und stelle mit Schrecken fest, dass mein Rucksack fehlt. Wo ist er denn geblieben? Nervös recherchiere ich in meiner Erinnerung und komme zum Ergebnis, dass ich ihn unten in der Höhle zurückgelassen habe. O Schreck, o Graus, was mach ich denn jetzt?, schießt es mir durch den Kopf. Ohne Rucksack können wir die Tour vergessen. Zu viele notwendige Utensilien enthält er. Auf Jause und Getränke könnte ich ja notfalls noch verzichten, nicht aber auf meine Schuhe. Mit den engen Kletterpatschen schaffe ich den Abstieg bis zur Coldai-Hütte nie. Da kann ich gleich barfuß gehen. Ich wage gar nicht Roland mein Missgeschick zu gestehen. Vor allem auch deshalb nicht, da mir in den letzten Tagen bereits einige Peinlichkeiten passiert sind. Eines Abends beispielsweise – es war schon längst Hüttenruhe am Rifugio Coldai – war ich noch einmal vor die Hüttentür getreten, mit der Absicht, dort meine Dehnübungen ungestört verrichten zu können. Durch einen Luftzug fiel die Tür ins Schloss. Nun saß ich ausgesperrt im Freien. Ich hatte zwar mein Handy dabei, aber Roland hatte, wie ich merkte, das Seinige bereits auf stumm geschaltet. So konnte ich ihn nicht erreichen. Ich suchte nach einem Schlupfloch, um ins Haus zu gelangen. Ich wollte doch nicht vor der Hütte biwakieren. Doch so sehr ich mich auch abmühte, ich fand kein offenes Fenster, um ins Innere zu kommen. So musste ich notgedrungen Lärm schlagen und den Wirt wecken. Dieser war natürlich alles andere als begeistert. Er fragte mich wütend, wie alt ich denn wäre und ob man mir denn noch eigens sagen müsste, dass die Nacht zum Schlafen da wäre?

Das Problem aber, das ich heute habe, ist ein noch viel größeres. Wie soll ich denn Roland die Situation, in die wir jetzt aufgrund meiner Gedankenlosigkeit geraten sind, erklären? Und welche Lösung des Problems soll ich ihm denn nun vorschlagen, außer die Tour abzubrechen? Immerhin, so sagte ich mir, habe ich noch einige Minuten Zeit, bis er bei mir angelangt ist. Dann aber, wenn er vor mir steht, schlägt die Stunde der Wahrheit. Die verbleibende Galgenfrist muss ich bestmöglich nutzen. Während ich ihn sichere und das Seil einhole, suche ich fieberhaft nach einer Lösung. Ich muss, so sage ich mir, mein Geständnis möglichst in eine Kurzformel kleiden und Roland mit einem plausiblen Vorschlag überraschen, noch bevor er seinem Ärger Luft machen kann. Schon sehe ich Rolands gelben Helm unter meinen Füßen blinken, da habe ich das Paket geschnürt. Roland, sage ich, als er vor mir steht, du musst mich jetzt noch einmal zur Höhle ablassen. Ich habe dort meinen Rucksack vergessen. Roland ist sprachlos. Er, der perfekte Organisator, bei dem zu Hause, in der Firma und im Bergrettungsdienst immer alles klappt und wie am Schnürchen läuft, kann es sich nicht vorstellen, dass jemand nicht in der Lage ist, auf seine sieben Zwetschgen aufzupassen. Er schüttelt nur den Kopf. Dann gibt zu bedenken, dass unsere Seile nicht reichen werden. Doch, erwidere ich und versuche selbstsicher zu wirken: Ich habe schon alles berechnet. Es geht sich aus.


Wenn der Verschluss meines Helms einrastet, weiß mein Körper, dass es losgeht.

Noch bevor Roland mir etwas entgegnen kann, reiche ich ihm mein Abseilgerät und bereite mich zum Ablassen vor. Bald schon hänge ich in den Seilen, die Roland nur widerwillig bedient. Meter für Meter gleite ich in die Tiefe, der Höhle entgegen. Mein einziger Gedanke: Hoffentlich reichen die Seile. Ich brauche laut Topo volle fünfzig Meter. Die stehen mir aber nicht zur Verfügung, weil Roland einen letzten Rest noch zurückbehalten muss und auch mein Anseilknopf einiges an Seil verbraucht. Bleibt nur zu hoffen, dass ich mit meinen zweiundsiebzig Kilo Lebendgewicht jene Seildehnung verursache, die diesen Verlust wettmacht. Mit solchen Überlegungen im Kopf nähere ich mich dem Entscheidungsort. Dort angekommen, stelle ich fest, dass ich Glück und Unglück zugleich habe. Die Seile reichen zwar knapp hin, doch habe ich in der Zwischenzeit jeglichen Kontakt zum Felsen verloren. Wegen des herausspringenden Daches über der Höhle hänge ich weit draußen in der Luft, ohne jede Verbindung zur Wand. So sehr ich mich auch strecke, der Fels verbleibt außerhalb meiner Reichweite. Schon liege ich horizontal in den Seilen und noch immer greifen meine Fingerspitzen ins Leere. Was soll ich nun tun? Der Pranter, so sage ich mir, wird meine Aktion bald als eine absolute Schnapsidee brandmarken, wenn ich nicht rasch eine Lösung finde. Da kommt mir ein Gedanke: Mein Klemmkeilentferner! Mit dem könnte ich meine Reichweite um entscheidende dreißig Zentimeter verlängern! Ich hole ihn vom Gurt, nehme ihn zwischen die Fingerspitzen, und finde tatsächlich Kontakt zum Felsen. Dann bringe ich meinen Körper in eine Pendelbewegung, die ich immer mehr steigere und erreiche so die Höhle. Ein Stein fällt mir vom Herzen. Rasch schultere ich meinen Rucksack und mache mich zum zweiten Mal an die Schlüsselstelle. Obwohl ich nach ihrer Überwindung völlig außer Atem bin, gönne ich mir keine Pause, sondern stürme den senkrechten Riss eilfertig hinauf. Roland soll merken, dass ich Buße tue und mich bemühe, den Zeitverlust auszugleichen.

Am Stand angekommen, mache ich mich sofort bereit Roland zu sichern, da er die nächste Seillänge in Angriff nimmt. Wie selten zuvor motiviere ich ihn mit aufbauenden Worten, drückt mich doch arg das Gewissen. Aber der Pranter ist ein Gentleman, der sich nichts mehr anmerken lässt. So finde ich bald wieder zu meinem seelischen Gleichgewicht zurück und kann mich dem atemberaubenden Abenteuer hingeben. Die Kletterei in diesem Bilderbuchriss gehört ja zum Spektakulärsten, was ich je erlebt habe. Es wäre jammerschade, könnte ich sie nicht genießen, weil meine Gedanken noch woanders festhängen. Daher hake ich ab, was gewesen ist, und widme mich nur mehr dem außerordentlichen Genuss, im senkrechten Fels höher steigen zu können. Nach hundert Metern ändert sich das Ambiente. Die Wand lehnt sich zurück, der Fels nimmt eine graue Färbung an und die Verschneidung verbreitert sich zu einem Kamin. Dieser Umstand beschleunigt unsere Kletterei. Zu beiden Seiten mit Händen und Füßen spreizend, arbeiten wir uns jetzt flott dem Ende der Tour entgegen. Noch ein letzter Aufschwung und wir entsteigen der eindrucksvollen Kerbe, die dem Torre di Valgrande sein unverwechselbares Gepräge gibt und uns kerzengerade in einer einzigen Linie vom Wandfuß auf den Gipfel geführt hat.

Noch einmal tritt das Bild vom Turm vor mein geistiges Auge und lenkt meinen Blick auf das Wort Jesu im Lukasevangelium: Wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich nicht zuerst hin und rechnet, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? (Lk 14,28). Vertraut mit den archetypischen Bildern unserer Seele, ruft Jesus den Menschen auf, seinen je eigenen Turm zu bauen. Ich soll nicht auf die Türme der anderen sehen, um sie zu erreichen, sondern meinen ganz persönlichen Turm bauen, der nur für mich passt und mein Wesen ausdrückt, das einmalige Bild, das Gott sich nur von mir gemacht hat. Um diesen Turm bauen zu können, muss ich erst einmal die Mittel anschauen, die Gott mir zur Verfügung stellt, sagt uns Jesus mit seinem Bild vom Turm. Die Mittel, das ist meine Lebensgeschichte, das sind nicht nur meine Stärken, sondern auch meine Schwächen, nicht nur meine Fähigkeiten und Talente, sondern auch meine Verletzungen und Kränkungen, die mir das Leben geschlagen hat. Meine Geschichte ist das Material, mit dem ich bauen kann. Aus jedem Material kann ich einen schönen Turm bauen. Ich muss mich nur damit aussöhnen, dass mir eben gerade dieses Material zur Verfügung steht.

Oft klagen Menschen, dass sie wegen ihrer schlechten Startbedingungen in der Kindheit keine brauchbaren Lebenschancen hätten. Doch ihre Geschichte ist das Kapital, mit dem sie arbeiten könnten. Gerade wenn meine Geschichte schwer war, steht mir ganz viel Kapital zur Verfügung. Denn das macht mich sensibel für andere, das gibt mir Lebenserfahrung, die fruchtbar werden kann für meine Mitmenschen. Doch nicht nur das Klagen über schlechte Startbedingungen kann unser Bauen am eigenen Turm im Leben behindern. Manch eine oder einer baut sich in seiner Fantasie Luftschlösser. Er hat zu hohe Vorstellungen, überzogene Idealbilder von sich. Er meint, er müsse etwas Fantastisches bauen, das jeder bewundern werde, etwas Außergewöhnliches leisten, das beeindruckt, vielleicht sogar Gott selbst beeindruckt. Aber wenn er dann ans Bauen geht, reichen die Mittel nicht. Er kommt nicht über das Fundament des aufgeblasenen Lebenshauses hinaus. Er hat seinen Turm zu groß gedacht.

 

Es gibt aber auch Menschen, die ihren Turm zu klein konzipieren. Sie trauen sich nicht, die eigene Größe zuzulassen und entwerten sich selbst. So verstecken sie lieber ihren Turm und entschuldigen sich fast auf der Welt zu sein. Manche halten sich vor Gott immer für unwürdig und zweifeln an seiner Barmherzigkeit. Unser Turm ist auch dann zu klein konzipiert, wenn wir die Möglichkeiten der Hingabe, die in unseren Anlagen vorhanden sind, Gott vorenthalten und so seinem Ruf nicht nachkommen. Mit seinem anschaulichen Bild will uns Jesus ermutigen: Bau deinen eigenen Turm! Nimm dein Lebensmaterial aus Gottes Händen entgegen! Füg alle Steine ein, die dir als dein Lebensschicksal gegeben sind! Lass keinen aus, denn jeder Stein deiner Lebensgeschichte hat seine Bedeutung! Dann wird aus der Gestalt deines Turmes auch das einzigartige Bild strahlen, das Gott sich von dir gemacht hat, und du verwirklichst, wozu bereits antike Weisheit dich aufruft, wenn sie sagt: Werde, der du bist!

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