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Der Trotzkopf

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»Ach!« seufzte Flora, und ein schwärmerischer Blick glitt seitwärts über den spiegelglatten Teich zu den schlittschuhlaufenden Gymnasiasten hinüber. »Ach, das ginge noch alles! Das Fürchterlichste ist doch, daß wir zwei volle Monate ohne Herren tanzen müssen.«

»Wie furchtbar öde!« rief Melanie entrüstet. »Man behandelt uns wahrhaftig mit puritanischer Strenge. Ohne Herren, es ist kaum zu glauben!«

»Ja, mit puritanischer Strenge«, wiederholte Flora, der dieses Wort außerordentlich gefiel. »Ich begreife nicht, warum uns der Umgang mit den Herren so lange vorenthalten wird. Man behandelt uns eben wie Kinder.«

Die »furchtbar öden« Monate gingen indessen auch zu Ende, und Fräulein Raimar schickte Einladungen an junge Herren aus, die das Gymnasium besuchten, und ersuchte sie, die letzten vier Wochen an dem Tanzunterricht teilzunehmen.

»Ihr werdet heute abend zum erstenmal mit Herren tanzen, Kinder«, kündigte Fräulein Raimar eines Mittwochs bei der Mittagstafel an. Als sie bemerkte, wie vergnügt die meisten diese Botschaft entgegennahmen, fügte sie hinzu: »Ich hoffe, daß ihr euch nicht zu lebhaft mit den jungen Leuten unterhalten werdet! Vergeßt nicht, daß sie nur des Tanzes wegen da sind!«

Annemie kamen diese Ermahnungen so komisch vor, daß sie zu kichern anfing. Ein strafender Blick traf sie dafür. »Besonders für dich sind meine Worte gesprochen, Annemie«, nahm die Vorsteherin wieder das Wort; »ich fürchte, du wirst durch dein albernes Lachen unliebsam auffallen. Hüte dich davor! Und dich, Grete, ermahne ich ernstlich, nicht so viel zu schwatzen. Überlege dir, was du sagen willst, damit kein Unsinn herauskommt!«

So und in ähnlicher Weise warnte und ermahnte sie ihre jungen Zöglinge, die in ihrer erwartungsvollen Aufregung heute nur mit halbem Ohr hörten, was ihnen so eindringlich vorgehalten wurde. Viel wichtiger erschien ihnen die Frage: »Was ziehen wir heute abend an? Womit werden wir uns schmücken?«

Nach dem Essen stürmten sie in Orlas und der Schwestern Zimmer, um eine große Beratung zu halten.

Melanie holte einen alten Pappkasten hervor und fing an, Blumen und Bänder herauszukramen. Sie stellte sich vor den Spiegel und hielt eine Rose in ihr schönes aschblondes Haar. »Wie findet ihr diese Rose?« fragte sie.

»Sie steht dir gut, Melanie«, antwortete Rosi, die eben erst eintrat und die letzten Worte hörte. »Das dunkle Rot in deinem blonden Haar sieht prächtig aus.«

»Du hast nicht viel Geschmack, liebste Rosi. Nimm mir nicht übel, daß ich es dir frei heraussage!« fertigte Melanie die Ärmste ab. »Orla, bitte, gib du dein Urteil ab!«

Die Russin galt als die Eleganteste, die stets am geschmackvollsten gekleidet war. Mit Kennermiene musterte sie denn auch Melanie. »Die dunkle Rose wirkt zu kräftig«, entschied sie, »für dein Haar paßt eine blaßrote besser. Übrigens, was willst du denn anziehen? Das ist doch am Ende die Hauptsache, und danach mußt du die Blumen wählen.«

»Mein blaues Batistkleid, denke ich.«

»Dein bestes Kleid?« rief die vorlaute Grete erstaunt. »Gut, dann ziehe ich mein geblumtes an!«

Gerade als die Verhandlungen am lautesten im Gange waren, öffnete sich die Tür, und Fräulein Güssow trat ein. »Fräulein Raimar läßt euch sagen, ihr möchtet heute abend eure Sonntagskleider anziehen«, verkündete sie.

»Oh!« Langgedehnt kam es über Melanies Lippen. »Oh, Fräulein Güssow, die alten, dunklen Kleider! Die hellen sind soviel besser.«

Aber es blieb bei den Wollkleidern. Bevor sie in den Tanzsaal hinuntergingen, fanden sich die Mädchen noch einmal bei Orla ein. Orla hielt als Modeberaterin erst eine allgemeine Musterung, änderte hier einen Gürtel, dort einen Kragen, und verstand es, durch eine Kleinigkeit dem einfachsten Kleid einen festlichen Anstrich zu geben.

Melanie hatte sich nach besten Kräften herausgeputzt. Ein weißes Spitzentuch schmiegte sich in weichen Falten um ihren Hals, und eine blaßrote Ansteckblume paßte gut dazu. Sie wirkte trotz des einfachen braunen Kleides elegant und hübsch.

An Gretes ungeschickter Figur war nicht viel zu ändern. Lange Arme, große Füße, schlechte Haltung und starke Taille, das waren Dinge, die leider nicht zu verbergen waren, auch trugen ihre ungraziösen Bewegungen durchaus nicht zur Verschönerung bei.

»Für dich ist die dunkle Kleidung ganz vorteilhaft«, meinte Orla. Sie nahm eine Korallenkette aus ihrem Schmuckkasten und schlang sie dem hocherfreuten Gretchen um den Hals. »So, die will ich dir leihen, damit du nicht zu einfach aussiehst.«

Flora unterwarf sich keiner Musterung; sie fand es unnütz, da ihr Geschmack ihrer Meinung nach weit eigenartiger war als der Orlas. Mit unendlicher Mühe hatte sie sich eine griechische Haartracht zurechtgemacht. Im Nacken trug sie ihr Haar im Knoten, mit einigen herausfallenden Locken, vorn war es mit einem schwarzen Samtband mit weißen Perlen dreimal abgebunden. In die Stirn fielen gekräuselte Fransen. Sie fand sich entzückend; diese Haartracht söhnte sie sogar mit dem grünen Wollkleid aus, in dem sie wie eine wirkliche Hopfenstange aussah.

Rosi erschien ohne besonderen Schmuck. Ihr schwarzes Kaschmirkleid war unverändert geblieben; es zeigte als einzigen Schmuck nur einen weißen Spitzenkragen, am Halsausschnitt von einer kleinen Schleife zusammengehalten, die einen silbernen Pfeil trug. So ging sie sonntags gekleidet, und Fräulein Raimars Vorschrift lautete, daß sie sich heute sonntäglich kleiden sollten.

»Aber, Rosi, wie hausbacken siehst du aus! Als ob du in die Kirche gehen wolltest, so ernst und feierlich!« rief Orla. »Hast du denn nicht ein farbiges Band anstatt der weißen Schleife?«

Sie besaß keins, und jetzt half Melanie aus. Bereitwillig lieh sie Rosi eine ganz neue hübsche Schleife und freute sich herzlich, wie gut sie Rosi stand. »Betrachte dich nur einmal!« sagte sie und hielt ihr den Handspiegel vor die Augen. »Nun, was meinst du dazu?«

»Die Schleife gefällt mir wohl gut«, meinte Rosi, »aber es ist mir peinlich, geliehene Sachen zu tragen.«

»O sancta simplicitas!« rief die großzügigere Flora. »Kind, du gehst in deiner Pedanterie wirklich zu weit! Unter Freundinnen kann von geliehenen Sachen keine Rede sein.« Und um dieses Wort gleichsam zur Tat zu machen, griff sie in Melanies offenstehenden Blumenkasten, nahm eine feuerfarbene Nelke heraus und befestigte sie an ihrem Gürtel. »Du erlaubst doch, Melanie?« fragte sie so nebenbei. »Die rote Farbe steht mir wirklich brillant.« Wohlgefällig betrachtete sie sich im Spiegel.

»Wo bleiben nur Nellie und Ilse?« fragte Orla.

Eben traten sie ein. Beide waren geschmackvoll gekleidet, Nellie im schottischen Kleid, an Hals und Ärmeln mit echten Spitzen verziert, sah anmutig und vorteilhaft aus, ebenso Ilse, die über ihrem blauen Kleid einen breiten Spitzenkragen und die neue Korallenkette trug, die auch Nellie schmückte.

Die Mädchen verließen das Zimmer und stiegen die Treppe hinunter.

»Orla ist doch die eleganteste von uns«, bemerkte Melanie nicht ohne einen Anflug von Neid zu Nellie und musterte Orla, die in der blauen Samtbluse und einem gleichfarbigen seidenen Rock besonders vornehm aussah. »In Samt und Seide kleiden mich meine Eltern freilich nicht.«

»Tut nix«, erwiderte Nellie, »man muß mit weniges auch zufrieden sein.«

»Bitte, bitte, wartet einen Augenblick!« rief es plötzlich hinter ihnen. Annemie war es, die in voller Eile allein nachgelaufen kam. »Ich bin noch nicht ganz fertig«, fuhr sie atemlos fort, »ich kann aber nichts dafür. Als ich mein Kleid anzog, riß irgendwo ein Band; nun hängt der eine Zipfel bis auf die Erde. Bitte, seht einmal nach!«

Alle waren stehengeblieben und betrachteten Annemie. Nellie, praktisch wie immer, untersuchte gleich, wo der Schaden saß. »Komm her«, sagte sie, »ich werde dir ausbessern! Aber ein Nadel und Faden muß ich haben, dann nähe ich dir gleich mit weniger Stich in Ordnung.«

»Sei nicht umständlich!« meinte Flora. »Hier hast du eine Stecknadel; damit wirst du es ebensogut machen können. Wie oft habe ich mir schon ein Band oder einen kleinen Riß schnell mit der Nadel gesteckt!«

Aber davon wollte die Engländerin nichts wissen. Sie nahm Annemie mit in ihr Zimmer und nähte die wenigen Stiche. Als sie fertig war, zupfte sie an Annemie hier und dort herum; nichts saß an der kleinen, runden Lachtaube, wie es sitzen sollte. Der Kragen saß schief, und an dem einen Schuh fehlte die Schnalle.

»Du bist aber ein sehr unordentlich Mädchen, liebes Lachtaube!« schalt Nellie. »Aber ich kann dir nicht helfen, du mußt mit deiner abgerissener Schnalle gehen. Es schlägt sechs, wir müssen pünktlich erscheinen.«

Die übrigen Mädchen warteten an der Treppe; nun gingen alle zusammen hinunter. An der Tür des Saales blieben sie stehen, keine brachte den Mut auf, hineinzugehen.

»Ich höre sprechen«, sagte Orla gedämpft, »ich glaube, die Herren sind schon da.« Sie legte das Ohr an die Tür und horchte. »Wirklich, sie sind da!« bestätigte sie.

»Laß mich durchs Schlüsselloch sehen, Orla!« bat die neugierige Flora und schob die Freundin leicht beiseite. Sie beugte den Kopf. Als sie das Auge an die Tür legen wollte, packte Grete der Übermut, sie gab Flora einen Stoß, und die Dichterin flog mit dem Kopf gegen die Tür. Das war ein Schreck! Wie der Wind flüchteten alle bis an das Ende des Vorsaals. Wenn Fräulein Raimar das Geräusch gehört hatte! »Dann sind wir einfach furchtbar blamiert«, erklärte Melanie und schalt Grete albern und ungezogen.

Annemie lachte, daß ihr die hellen Tränen über die Wangen liefen. »Sei mir nicht böse, daß ich dich auslache, Flora!« sagte sie. »Aber ich kann nicht anders. Du sahst zu komisch aus und machtest ein so entsetztes Gesicht, als du mit deinem griechisch frisierten Kopf gegen die Tür fielst.«

Fräulein Raimar hatte wirklich ein Klopfen vernommen, sie öffnete die Tür, und als sie die Mädchen draußen stehen sah, rief sie ihnen zu, sich zu beeilen.

 

»Du mußt vorangehen, Orla, du bist die Älteste«, flüsterte Ilse.

»Ich bin die Jüngste, ich komme zuletzt«, rief Grete, die sonst immer mit ihrem Mund die erste war.

»Laß mich die letzte sein, Grete!« bat Annemie. »Ich habe mich noch nicht ausgelacht.«

Rosi war die Verständigste, wie immer. »Komm, Orla«, sagte sie, »wir dürfen Fräulein Raimar nicht warten lassen! Wir benehmen uns überhaupt recht kindisch, finde ich. An allem ist Gretes Albernheit schuld.«

Das gute Beispiel der beiden Ältesten wirkte wohltuend auf die übrigen. Sie nahmen sich zusammen und gingen ruhig und ernst in den Saal.

»Meine Damen, erlauben Sie, daß ich Ihnen die Herren vorstelle«, mit diesen Worten empfing sie der Tanzlehrer. Es folgten Verbeugungen von beiden Seiten.

Flora strahlte vor Seligkeit; sie erkannte unter den Herren einen Primaner, für den sie bereits längst im Geheimen schwärmte. Er trat sogar in einem ihrer Gedichte als Apoll in Erscheinung.

Fräulein Güssow stand neben der Vorsteherin und hatte ihre Freude an den jungen Mädchen. An Ilse hing ihr Auge am zärtlichsten. Wie reizend begann sich ihr Liebling zu entfalten! Wo war der böse Trotz geblieben? Sie verglich Ilse mit den übrigen und fand, daß sie nicht nur die hübscheste, sondern auch weit natürlicher und unbefangener war als die meisten andern. Keine Spur von Koketterie äußerte sich in ihrem Wesen.

Melanies Züge waren regelmäßiger, aber längst nicht so unbewußt lieblich; man merkte dem hübschen Mädchen an, daß es schon gar zu oft den Spiegel um seine Meinung befragte.

Flora und Melanie standen beisammen und machten über die Gymnasiasten Bemerkungen, während sie verstohlen hinüberschielten. Sie gaben sich dabei den Anschein, als kümmerten sie sich nicht im geringsten um die Herrenwelt.

Orla war aufrichtiger. Sie setzte die Brille auf die Nase und betrachtete die Jünglinge ganz ungeniert. Später erhielt sie deswegen einen Tadel von der Vorsteherin.

Grete und Annemie saßen in einer Fensternische und kicherten und schwatzten das dümmste Zeug. Sogar Nellie war nicht ganz frei von einer harmlosen Gefallsucht. Sie wußte sich so zu setzen, daß ihr kleiner, schmaler Fuß im braunen Wildlederschuh nicht übersehen werden konnte. Rosi war natürlich weder gefallsüchtig, noch empfand sie die geringste Erregung. Ruhig und freundlich wie immer saß sie da und hielt sich so tadellos gerade, daß sie auch in der Tanzstunde das Musterkind für die andere war.

»Anfangen!« rief der Tanzlehrer und klatschte.

Die Musik, die aus einem Klavier und einer Geige bestand, begann eine bekannte Melodie im Dreivierteltakt zu spielen.

Wie herrlich klangen die Töne den jungen, unverwöhnten Ohren! Wie hinreißend fanden sie die Walzerklänge!

»Bitte die Herren, zum Tanz aufzufordern!« kommandierte der Tanzlehrer, und jeder der tanzlustigen Jünglinge stürzte auf die Dame zu, die er sich bereits im stillen als Ziel seiner Wünsche ausgesucht hatte.

Vor der herausgeputzten Melanie verbeugten sich drei Herren zugleich. Welch ein Triumph für ihr eitles Herz! Leider konnte sie nicht mit allen dreien auf einmal tanzen und mußte sich mit der Genugtuung begnügen, daß alle Anwesenden doch sicher diese Auszeichnung bemerkten. Alle wohl nicht, aber Flora und Grete sahen sie und mußten die schmerzliche Erfahrung machen, daß die Verschmähten zu ihnen kamen, um sie zu erlösen. Sie waren als einzige von all den jungen Damen übriggeblieben. Flora fühlte sich besonders tief gekränkt, und mit neidischen Blicken folgte sie Ilse, die eben mit »Apoll« vorüberwalzte.

Lebhaft war die Unterhaltung am ersten Herrenabend nicht. Die Gegenwart der Vorsteherin, ihre beobachtenden Blicke legten einigen Zwang auf. Nellie, die sich sehr bemühte, keinen Sprachfehler zu machen, war besonders schweigsam. Einigemal, als sie angeredet wurde und sich recht gewählt ausdrücken wollte, entstanden die drolligsten Gesprächswendungen.

Ein junger Mann erzählte ihr, daß er in einigen Jahren, wenn er fertigstudiert habe, nach England gehen werde. »Werden Sie dort verständig (beständig, meinte sie) sein?« fragte sie. – Ein andrer wollte wissen, ob sie gern in Deutschland weile. »O ja, ich bin ganz verliebt in der Deutsche!« gab sie zur Antwort.

Aber Nellie konnte nie mißverstanden werden. Ihre kindliche Art nahm sofort alle Herzen für sie ein. Die jungen Herren waren denn auch alle entzückt von der jungen Engländerin, und da sie obendrein sehr gut tanzte, wurde sie bald zum allgemeinen Liebling erkoren.

Grete wurde die schweigsame Zurückhaltung der Herren äußerst sauer; verschiedene Male fiel sie aus der Rolle. Einmal ertappte Orla, die gerade hinter ihr stand, Grete bei einer kleinen Taktlosigkeit. »Wie heißt die junge Dame mit den Locken?« wurde sie von ihrem Tänzer gefragt.

»Das ist Ilse Macket«, gab Grete schnell zur Antwort. Und nun begann sie ausführlich zu berichten. »Sie ist erst seit Juli hier«, fuhr sie fort, und der Mund ging ihr wie eine Plappermühle. »Ihr Vater brachte sie hierher. Sie ist nämlich weit her, aus Pommern. Denken Sie sich, sie brachte ihren Hund mit und wollte ihn durchaus mit in das Institut nehmen! Natürlich erlaubte es ihr Fräulein Raimar nicht. Ach, und ungeschickt war sie! Kein Mensch kann sich davon einen Begriff machen. Einmal hat sie einen ganzen Stoß Teller…«

»Grete«, unterbrach Orla ihren Redefluß, »du verlierst eine Nadel! Tritt einen Augenblick mit mir zur Seite, damit ich sie wieder befestige.«

»Wie ungezogen, wie abscheulich von dir!« schalt Orla, indem sie sich scheinbar an Gretes Kragen zu schaffen machte. »Warum stellst du Ilse so bloß? Du siehst den Herrn heute zum erstenmal und machst ihn sofort zum Mitwisser unserer Institutsgeheimnisse. Willst du denn die arme Ilse dem Spott preisgeben?«

Grete erschrak. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Ihre Schwatzhaftigkeit hatte ihr wieder einmal einen bösen Streich gespielt. Betrübt und niedergeschlagen trat sie wieder in die Reihe der Tanzenden. Sie faßte den festen Entschluß, in Zukunft vorsichtiger zu sein.

Fräulein Raimar hielt streng darauf, daß außerhalb der Tanzstunden keine Zusammenkünfte mit den jungen Herren stattfanden. In diesem Punkt kannte sie keine Nachsicht. Es war ihr durchaus nicht recht, daß die jungen Leute sich herausnahmen, auf ihren täglichen Spaziergängen die Zöglinge zu treffen und grüßend an ihnen vorüberzuschreiten. Es war ihr geradezu unbegreiflich, wie die Gymnasiasten es herausbrachten, welchen Weg sie wählte. Denn wenn sie ihre junge Schar heute durch den Park, morgen in dieses Tal, übermorgen über jenen Berg führte, immer konnte sie überzeugt sein, die roten Primanermützen auftauchen zu sehen; sie konnte ihnen nicht entgehen. Die Lösung dieses Rätsels war einfach genug, der Verrat wurde durch die Tagesschülerinnen ausgeführt. Sie waren die Vermittlerinnen zwischen ihren Brüdern, Vettern oder Bekannten und den Pensionärinnen. Sie schmuggelten Grüße, Gedichte, sogar Photographien ein, und Flora benutzte diesen Weg, ihr Album den Herren zuzusenden, mit der Bitte, ein selbstverfaßtes Gedicht hineinzuschreiben.

Die Tanzstunde nahte ihrem Ende. »Leider!« seufzte die Jugend. Fräulein Raimar indes atmete auf, denn wenn sie auch der Jugend gern fröhliche Stunden bereitete, so sehnte sie sich doch wieder Ruhe und Gleichmäßigkeit zurück. Ihrer Erfahrung nach litt der Ernst des Lernens doch stark unter der Zerstreuung.

Den Schluß und Glanzpunkt bildete alljährlich ein kleiner Ball, und morgen, am Sonnabend, sollte das Ereignis stattfinden.

Die Benennung »Ball« war vielleicht zu anspruchsvoll für das kleine Fest. Es wurden noch einige Gäste geladen, das Orchester schwang sich zu einer zweiten Geige auf, dem Tee nebst belegten Butterbroten folgte eine leichte Bowle mit Kuchen, und die jungen Mädchen zogen ihre besten Kleider an. Das war alles.

Der große Saal erhielt ein festliches Ansehen; dafür trug Fräulein Raimar Sorge. Sie liebte es, den Schönheitssinn ihrer jungen Zöglinge zu wecken und zu zeigen, wie man mit wenigen Mitteln auch dem einfachsten Fest einen geschmackvollen Rahmen geben konnte.

Soeben stand sie neben dem Gärtner und ordnete an, wie die frischen Tannen mit den blühenden Topfgewächsen in den Ecken zu stellen waren. Dann mußte er Vasen von rotem Ton zwischen verschiedenen Wandleuchtern befestigen. Üppige Schlingpflanzen wurden daraufgestellt und hingen anmutig herab. Am Abend, wenn die Kerzen brannten, bot der Saal mit dem Pflanzenschmuck einen heiteren und festlichen Anblick.

Die jungen Mädchen waren in großer Aufregung. Es war der erste Ball, der ihnen bevorstand, und dieses wichtige Ereignis nahm alle ihre Gedanken in Anspruch. Einige betrachteten immer wieder die duftigen Kleider, andere versuchten besondere Haartrachten, so Flora, die eine Schwäche dafür besaß; wieder andre probierten die Kleider an, der Sicherheit wegen, wie Nellie meinte, die soeben ebenso wie Ilse ihr neues Kleid von der Schneiderin bekommen hatte.

Als die beiden Mädchen vor dem Spiegel standen, kam Lilli laut jubelnd in das Zimmer. »Ich geh‘ mit auf euren Ball«, rief sie, »das Fräulein hat es mir erlaubt. Und mein neues weißes Kleiderl zieh‘ ich an, und die rote Schleife bind‘ ich um, und ich darf mittanzen. Ich freu‘ mich so sehr auf morgen!« und sie faßte mit beiden Händen ihre Schürze und tanzte durchs Zimmer.

Es war schon dunkel, und so konnte die Kleine zuerst nicht sehen, daß Ilse und Nellie so festlich gekleidet waren. Als Licht angezündet wurde, blieb Lilli überrascht stehen und sah erstaunt von einer zur andern. »Wie schön schaut ihr aus!« rief sie bewundernd, und mit gefalteten Händen, fast andächtig, sah sie die beiden Mädchen an.

Ilse nahm ihren Liebling zärtlich in die Arme und küßte ihn herzhaft. »Du bist ja so heiß, Lilli!« sagte sie und befühlte Stirn und Wange des Kindes. »Fehlt dir etwas?«

»Der Kopf tut mir halt a bisserl weh«, entgegnete Lilli. »Aber gar net viel, gewiß net!« beteuerte sie, als Ilse sie besorgt ansah. »Morgen tut er net mehr weh, morgen geh‘ ich ganz gewiß auf den Ball.«

Am andern Morgen lag Lilli heftig fiebernd in ihrem Bett. Der herbeigerufene Arzt machte ein ernstes Gesicht. »Sie hat starkes Fieber«, sagte er und verordnete Eisumschläge auf den Kopf, die jede halbe Stunde gewechselt werden mußten. Das lebhafte Kind lag still und teilnahmslos da.

Fräulein Güssow saß sorgenvoll an Lillis Bett, die eben eingeschlummert war. Die Vorsteherin beruhigte die junge Lehrerin und meinte, Lillis Krankheit werde wohl ein heftiges Schnupfenfieber sein, sie habe bei Kindern oftmals ähnliche Fälle erlebt.

Die junge Lehrerin schüttelte ungläubig den Kopf »Wenn nur der Ball heute abend nicht wäre!« sprach sie seufzend. »Der Lärm im Haus und das kranke Kind – es will mir nicht in den Kopf. Wenn wir die Veranstaltung hinausschieben würden, Fräulein Raimar?«

»Sie sehen zu schwarz, liebe Freundin«, entgegnete die Vorsteherin. »Der Lärm wird Lilli nicht stören. Wie sollte er aus dem Vorderhaus bis hierher in ihr stilles Zimmer dringen! Bedenken Sie, wie sehr sich die Kinder auf den heutigen Abend gefreut haben! Wie grausam wäre es, wollten wir ihre Freude zerstören! Noch sehe ich keine Gefahr, und wir können unbesorgt den Ball stattfinden lassen.«

»Ball!« wiederholte Lilli, die erwacht war und das Wort hörte. »Ich will tanzen! Zieh mich an, Fräulein! Bitt‘ schön, laß mich tanzen!«

Fräulein Güssow warf der Vorsteherin einen Blick zu. Sie mußte doch sehen, wie krank die Kleine war; sie phantasierte.

Aber Fräulein Raimar war nicht überzeugt und auch nicht erschrocken. Sie trat zu Lilli an das Bett und ergriff ihre Hand.

»Es ist noch heller Tag, Lilli«, sagte sie freundlich. »Siehst du nicht, wie die Sonne scheint? Heute abend sollst du tanzen, jetzt ist es noch viel zu früh. Leg dich nieder und schlaf noch eine Weile! Wenn du aufwachst, bist du gesund und ziehst dein gesticktes Kleid an.«

»Die Sonne scheint«, wiederholte das Kind, wie aus einem Traum erwacht, und sah mit offenen Augen zum Fenster hinaus. Dann legte sie die Hand gegen die Stirn und sagte leise: »Ach, Fräulein, mir tut der Kopf so weh!«

»Das wird sich geben, mein Herz. Nimm nur recht artig deine Medizin ein!«

Die Vorsteherin küßte Lilli und versicherte der geängstigten Lehrerin, das Phantasieren der kleinen Kranken habe nichts zu bedeuten; bei lebhaften Kindern stelle sich das bei einem harmlosen Schnupfenfieber ein. Mit diesem aufrichtig gemeinten Trost verließ sie das Zimmer.

Es schien, als sollte sie recht behalten. Gegen Mittag schlief Lilli ein. Das Fieber ließ nach, und Fräulein Güssow atmete erleichtert auf. Als Ilse kam und teilnehmend nach Lillis Befinden fragte, flüsterte sie ihr freudig zu: »Sie schläft, es scheint eine Besserung eingetreten zu sein.«

 

Lillis Besserung war leider nur trügerisch. Während sich die jungen Mädchen heiter und fröhlich zum Fest schmückten, lag die Kleine im heftigsten Fieber. Fräulein Güssow wich nicht von ihrem Bett und erklärte mit aller Bestimmtheit, daß sie diesen Platz nicht verlassen werde. Auf Fräulein Raimars Wunsch wurde die Verschlimmerung vorläufig geheimgehalten; sie mochte keinen Mißton in die unbefangene Freude ihrer Zöglinge bringen, mußte sie sich doch bei ruhiger Überlegung sagen, daß nichts damit gebessert werden konnte.

So blieb denn die junge Lehrerin allein im Krankenzimmer. Sie hörte das unruhige Getrappel im Vorderhaus; dann und wann schlug ein fröhliches Lachen an ihr Ohr, und endlich vernahm sie die gedämpften Töne der Polonaise.

»Ilse, komm!« rief Lilli plötzlich, und Fräulein Güssow fuhr erschreckt zusammen. »Ilse, bitt‘ schön, komm! Ich führ‘ dich in den Saal, komm!« Sie stellte sich im Bett auf und machte alle Anstrengungen, herauszuspringen.

Fräulein Güssow legte den Arm um das fiebernde Kind und versuchte es niederzulegen, aber Lilli stieß sie von sich. »Geh fort!« rief sie. »Du bist nicht meine Ilse, du hast kein schönes Kleiderl an. – Ilse! Ilse, komm!« Angstvoll stieß sie diese Worte heraus, und mit starren Augen blickte sie ihre Pflegerin an.

»Wenn du ruhig bist, wird Ilse kommen«, sagte Fräulein Güssow mit zitternder Stimme, die Angst schnürte ihr fast die Kehle zu. »Sei ruhig, mein Liebling! Lege dich nieder, ganz still! So.« Und sie bettete Lilli mit sanfter Gewalt in die Kissen.

»Ganz still!« wiederholte das Kind mechanisch. »Ilse, komm! – Ganz still!«

Fräulein Güssow zog an der Klingelschnur, und nach einiger Zeit erschien die Köchin. Sie war die einzige, welche die Glocke vernommen hatte; die beiden andern Hausgehilfinnen waren im Vorderhaus beschäftigt.

»Ruf sofort Fräulein Ilse«, gebot Fräulein Güssow mit halblauter Stimme, »und dann hole den Arzt! Das Kind ist sehr krank. Aber still und ohne Aufsehen, Barbara! Niemand darf es wissen.«

»Aber wenn mich Fräulein Raimar fragen sollte«, wandte die Köchin ein, »dann muß ich es ihr sagen, nicht?«

»Sie wird dich nicht fragen, wenn du deine Sache klug machst. Beeile dich nur, ich bitte dich!«

Der Zufall kam der Köchin zu Hilfe. Gerade als sie sich dem Saal näherte, traten Ilse und Nellie lachend und plaudernd, mit erhitzten Wangen, Arm in Arm aus der Tür.

Geheimnisvoll winkte ihnen die Köchin zu. »Fräulein Ilschen«, sagte sie, »Sie möchten gleich zu Fräulein Güssow kommen.«

»Es ist doch nichts geschehen, Barbara?« fragten beide Mädchen fast zugleich.

»O nein, passiert ist gerade nichts, aber das Kind ist kränker geworden; ich soll gleich den Doktor holen. Es soll aber niemand etwas wissen. Sie brauchen keine Angst zu haben, Fräuleinchens«, beruhigte sie, als sie die erschrockenen Gesichter vor sich sah, »so schnell geht es nicht mit so kleinen Kindern. Krank – gesund —, man weiß nicht, woher es kommt. Aber nun will ich laufen!«

»Ich gehe mit dich«, sagte Nellie, aber Ilse wehrte ab. »Du mußt in den Saal zurückkehren, Nellie«, erklärte sie entschieden, »es würde Aufsehen erregen, wenn wir beide fehlten. Ich gehe allein und gebe dir bald Bescheid.«

Traurig sah Nellie der Freundin nach, dann kehrte sie in den hell erleuchteten Saal zurück. Das Herz wurde ihr schwer, als sie ringsum nur glückliche, fröhliche Menschen sah, und unwillkürlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Aber ihr betrübtes Gesicht durfte niemand sehen, sie trat deshalb unauffällig hinter eine Tannengruppe.

Aber einer beachtete sie doch, und das war Doktor Althoff. Als er sie mit so ernstem Gesicht eintreten und gleich darauf verschwinden sah, näherte er sich ihr langsam. »Weshalb suchen Sie die Einsamkeit, Miß Nellie?« fragte er herzlich. »Haben Sie Kummer?«

»Oh, Herr Doktor, ich ängstige mir so um das Kind! Bärbchen hat Ilse gerufen und holt jetzt den Arzt.« Nellies sonst so fröhliche Augen blickten in Angst und Trauer den jungen Lehrer an.

Doktor Althoff war sie nie so lieblich erschienen wie in diesem Augenblick. Die schelmische, lustige Nellie in dem duftigen, hellblauen Kleid, mit dem goldblonden Haar gefiel ihm schon den ganzen Abend; die trauernde Nellie, die ein so warmes Mitgefühl verriet, entzückte ihn geradezu. »Beruhigen Sie sich!« tröstete er. »Ich werde sofort in das Krankenzimmer gehen und verspreche, Sie zu benachrichtigen, wie es dort steht.«

Als er nach leisem Anklopfen die Tür öffnete, bot sich ihm ein rührender Anblick dar. Ilse kniete an dem Bett, und ihr Kopf lag dicht neben Lillis Köpfchen, so daß ihre braunen Locken sich mit den lichtblonden des Kindes mischten.

Fräulein Güssow legte soeben einen neuen Eisumschlag auf die glühende Stirn der Kranken.

Doktor Althoff fragte nicht, ein Blick auf die kleine Kranke sagte ihm alles. Groß und fremd sah sie ihn an, ihre Händchen zuckten und griffen unruhig in die leere Luft. Als Ilse sich erheben wollte, klammerte sie sich fest an sie. »Du sollst net fortgehen!« stieß sie in abgerissenen Sätzen heraus. »Du bist die Schönste; tanz mit mir – komm!«

Plötzlich begann die Kleine zu phantasieren und sah Ilse für das Christkind an. »Du liebes Christkindl hast ein goldnes Kleiderl an – und ein Kronerl tragst auf dem Kopf – ah, wie das strahlt! Du willst mit mir spielen«, fuhr sie geheimnisvoll lächelnd fort. »Wart nur, ich komm‘ zu dir, zu den lieben Engelein! – Ich komm‘ – nimm mich mit!« Ermattet sank sie nach diesem Anfall in die Kissen zurück.

Ilse war wie gelähmt vor Schreck. Niemals zuvor war sie an dem Lager eines Schwerkranken gestanden, jetzt war sie fassungslos vor Kummer. Sie umklammerte Fräulein Güssow und wurde totenblaß.

»Kehren Sie in den Saal zurück, Ilse!« riet Doktor Althoff und ergriff ihre Hand. »Kommen Sie, ich werde Sie führen!«

Aber Ilse schüttelte den Kopf »Ich bleibe hier«, sagte sie.

Nach kurzer Zeit, die den Wartenden eine Ewigkeit dünkte, traf der Arzt ein. Sein Blick fiel auf das Kind, und er erschrak. Was war seit gestern aus dem blühenden lebensfrohen Wesen geworden! Die runden Wangen waren eingefallen, und die großen, schwarzen Augen starrten wie abwesend in die leere Luft. Er nahm ihre Hand und fühlte nach dem Puls. Lilli merkte nichts davon.

Der Arzt rührte ein Pulver in ein Glas Wasser und reichte es ihr. Fräulein Güssow bemühte sich vergeblich, der kleinen Kranken das Medikament einzuflößen, erst auf Ilses sanftes Zureden öffnete sie die Lippen. Nachdem sie getrunken hatte, wurde sie ruhiger und verfiel in einen Halbschlummer.

»Wo wohnen die Eltern der Kleinen?« wandte sich der Arzt an Fräulein Güssow. »Ich rate, sie unverzüglich von der Krankheit zu benachrichtigen. Wir haben es mit einer bösartigen Gehirnentzündung zu tun.«

»Nur die Mutter lebt«, nahm Doktor Althoff das Wort und erbot sich, sofort ein Telegramm abgehen zu lassen. Nach seiner Berechnung konnte sie schon am nächsten Abend eintreffen.

Bevor er das Haus verließ, kehrte er noch einmal in den Saal zurück, um die Vorsteherin von den Anordnungen des Arztes zu unterrichten. Nellie, die gerade tanzte und nicht aus der Reihe treten konnte, warf einen ängstlich fragenden Blick auf ihn; flüchtig nur streifte sie sein Blick, und doch erriet sie, daß er nichts Gutes zu melden habe. Oh, wäre nur der Tanz erst zu Ende, daß sie ihn fragen könnte! Aber er wartete nicht darauf; nach wenigen Minuten verließ er schon wieder den Saal und ließ Nellie in den ärgsten Zweifeln zurück. War es schlimmer geworden?

Das ruhige Gesicht der Vorsteherin gab ihr keine Antwort auf ihre Frage. Das gleiche verbindliche Lächeln wie zuvor umspielte ihren Mund; sie unterhielt sich mit einigen Gästen mit unveränderter Liebenswürdigkeit. Und doch war Fräulein Raimar bis ins Innerste erregt. Aber sie verstand die seltene Kunst, sich meisterhaft zu beherrschen. Warum sollte sie plötzlich Schreck und Aufregung in die Freude bringen? In einer Viertelstunde war der Tanz vorüber, dann sollten die jungen Mädchen zu Bett gehen, ohne zu erfahren, wie es mit der Kranken stand. Verschlimmerte sich Lillis Zustand, so erfuhren sie diese traurige Botschaft am Morgen noch früh genug.