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Der Trotzkopf

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Ilse errötete, nahm schnell eine Feder und machte aus dem s ein z.

»Ein andermal sehen Sie sich besser vor. Solche Verwechslungen können höchst komisch wirken. Auch mit den Kommas, Punkten usw. rate ich Ihnen, weniger verschwenderisch umzugehen; oder haben Sie die Absicht, es wie jene junge Dame zu machen, die, sobald sie eine Seite zu Ende geschrieben hatte, ganz willkürlich die Zeichen hinsetzte, etwa zehn Kommas, sieben Ausrufungszeichen, fünf Fragezeichen und neun Punkte, wie es ihr gerade einfiel, manchmal mehr, manchmal weniger. Das gab dann zuweilen einen tollen Sinn, wie Sie sich denken können.«

Die Mädchen lachten und Ilse mit. Sie nahm jede Rüge dieses Lehrers ohne Empfindlichkeit auf, da er es verstand, stets den richtigen Ton zu treffen.

Wie schwärmten daher auch seine Schülerinnen für ihn! »Er ist furchtbar reizend!« beteuerte Melanie und schlug den Blick schwärmerisch gen Himmel. »Das bezaubernde Lächeln um seinen Mund, das blitzende, geistvolle Auge, das schmale, vornehme Gesicht, das dunkle, lockige Haar! Wirklich der netteste Lehrer!«

Die neugierige Grete entdeckte sogar, daß Schwester Melanie in einem Medaillon ein Stückchen Papier mit seinem Namen trug. Es war eine Unterschrift von seiner Hand, die von einem früheren Aufsatz stammte.

Flora Hopfstange besang den Gegenstand ihrer Verehrung in den überschwenglichsten Gedichten, auch war er der Held aller ihrer Novellen und Romane. Wie zufällig verlor sie zuweilen eines ihrer schwärmerischen Gedichte, natürlich nur in der Literaturstunde, aber leider vergeblich. Doktor Althoff fand niemals eine ihrer kostbaren Dichterblüten.

Selbst Orla teilte diese allgemeine Schwäche, obwohl sie vor den anderen darüber spottete. Sie verriet sich aber eines Tages selbst, und das kam so: Doktor Althoff trug eine Nelke in der Hand, als er die Klasse betrat, und ließ sie auf dem Katheder liegen. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, als fast alle Schülerinnen auf die rote Blume zustürzten, um sie für sich zu gewinnen. Orla eroberte sie glücklich. Hoch hielt sie ihre Siegestrophäe in die Luft und eilte damit auf ihr Zimmer. Sie ließ sich von einem Juwelier ein Medaillon mit einer eingravierten Inschrift anfertigen. Grete brachte das bald genug heraus, aber leider stand sie vor einem unlösbaren Rätsel, denn Orla würde ihr niemals anvertrauen, daß die beiden Worte ins Deutsche übertragen lauteten: »Vom Angebeteten«. – Orla trug die Nelke in dieser kostbaren goldenen Hülle immer bei sich.

Nellie trieb es am schlimmsten. Eines Abends, als sie mit Ilse allein auf ihrem Zimmer war, nahm sie ein Federmesser und ritzte damit den Anfangsbuchstaben seines Vornamens in ihren Oberarm. Mit spartanischem Mut ertrug sie die schmerzhafte Operation.

»Aber Nellie, wie albern bist du!« rief Ilse. »Warum machst du diesen Unsinn? Wenn Herr Doktor Althoff eure Dummheiten erfährt, müßt ihr euch doch schämen!«

»Schweig«, gebot Nellie scherzhaft. »Du bist noch ein klein grüner Schnabel. Du verstehst nix von heimliche Anbetung. Komm erst in der Jahre und lerne begreifen! Dein Herz läuft noch in der Kinderschuhe.«

Ilse lachte herzlich. Ihrem gesunden, natürlichen Wesen lagen dergleichen Dinge fern. »Ach, Nellie«, rief sie fröhlich, »du sprichst so weise wie eine alte Großmama und bist doch nur zwei Jahre älter als ich.«

Nellie war aber keineswegs wie eine Großmama; oft sogar konnte sie recht kindlich denken und handeln, wenn es darauf ankam, ein Ziel zu erreichen.

Eines Sonntags, es war gegen Abend, stand sie am offenen Fenster in ihrem Zimmer und blickte sehnsüchtig auf den Apfelbaum. Die Früchte lachten goldgelb und rotwangig und sehr verlockend zwischen dem dunklen Laub hindurch. »Die schöne Äpfel!« rief sie aus. »Oh, ich möchte doch gleich einer davon! Er ist reif, Ilse, ich weiß, ich kenne dieser Baum genau. Ich habe jetzt so groß Lust, Apfel zu speisen, und darf ihn doch nur ansehen! Sehen und nicht essen – es ist hart!«

Ilse trat zu der Freundin. »Ja, die sind reif«, sagte sie und betrachtete die Äpfel mit Kennermiene; »wir haben dieselbe Sorte daheim, das sind Augustäpfel. In Moosdorf wäre ich gleich auf den Baum gestiegen, um welche herunterzuholen. Aber hier – ach!«

Nellie horchte auf und blickte Ilse an, die mit wehmütigem Verlangen hinauf in die Krone sah. Plötzlich kam ihr ein guter Gedanke. »Du bist in den Baum gestiegen?« fragte sie. »Oh, Ilse, ich hab‘ ein netter Einfall! Du steigst in den Baum und holst uns von der Äpfel.«

Ilses braune Augen leuchteten auf. »Wie gern würde ich das tun! Aber ich darf nicht. Denk nur, Nellie, wenn mich irgend jemand sieht!«

»Laß mich nur machen!« meinte Nellie und machte ein höchst listiges Gesicht. »Heut abend, wenn Fräulein Raimar und alles andre auf seines Ohr liegt, dann erheben wir uns wieder von unserem Lager, und die mutige Ilse wird wie eine Katz‘ leise aus die Fenster steigen und in der Baum klettern. Der liebe Mond steckt sein Latern dazu an und leuchtet sie, daß sie die besten und großesten Äpfel finden kann. Und ich geb‘ acht, daß nix kommt; ich werde eine gute Spion sein.«

Ilse strahlte vor Wonne. »Das ist zu himmlisch!« rief sie so laut, daß Nellie ihr die Finger auf den Mund legte. »Ich ziehe meine Bluse und den blauen Rock dazu an und steige hinauf in das grüne Blätterdach. Es ist himmlisch, Nellie!« Und sie ergriff die Freundin am Arm und tanzte mit ihr durch das Zimmer.

»Oh, du bist einer Engel, du kluge Ilse! Wenn wir nur erst Nacht hätten!«

Ilse stand schon wieder am Fenster und warf prüfende Blicke in den Baum. »Siehst du, auf diesen Zweig steige ich zuerst«, sagte sie aufgeregt, »und dann auf den dort – es hängen drei herrliche Äpfel daran – die pflücke ich und werfe sie dir zu. Von dort geht es höher hinauf bis an Melanies und Orlas Stubenfenster – sie lassen es immer offenstehen des Nachts – dann stecke ich den Kopf hinein und rufe: Gute Nacht!«

»Ilse«, rief Nellie entsetzt, »du darfst der Unsinn nicht tun! Gib dein Hand darauf!«

»Es war nur Scherz«, entgegnete Ilse. »Sei ohne Sorge, Nellie, ich werde ganz artig und still sein, niemand soll von unserem lustigen Abenteuer erfahren.«

Die Zeit verging den beiden Mädchen wie mit Schneckenpost. Ilse, die sich nicht verstellen konnte, war während des Abendessens besonders lustig und angeregt.

»Du siehst so unternehmend und fröhlich aus«, bemerkte Fräulein Güssow, »hast du eine gute Nachricht von daheim erhalten?«

Ilse wurde rot und fühlte sich wie ertappt. Zum Glück für sie schöpfte die Lehrerin keinen Verdacht und beachtete sie nicht weiter, sonst wäre ihr vielleicht doch die verräterische Röte aufgefallen.

Endlich war alles still im Haus. Die Runde durch sämtliche Schlafgemächer war gemacht, und Fräulein Güssow hatte sich bereits in ihr Zimmer zurückgezogen.

»Jetzt ist der große Augenblick gekommen«, wandte sich Nellie mit feierlicher Gebärde an Ilse und streckte die Hand aus. »Erheben Sie sich, mein Fräulein, und gehen Sie an das große Werk.«

Ilse war so aufgeregt, daß sie gar nicht bemerkte, wie komisch Nellie aussah, als sie in ihrem langen Nachtgewand, den Arm weit ausgestreckt, vor ihr stand. Eilig erhob sie sich und begann sich anzukleiden. Das war bald geschehen, da das Blusenkleid und was sie sonst noch benötigte, schon bereitlag.

Gegen die Stiefel erhob Nellie Einspruch. »Sie sind zu unschicklich, zu plump; du machst eine so laute Schritt, daß alles aufwacht.«

Ilse achtete nicht auf die Warnung. Sie zog die Stiefel an und schlich auf den Zehen zum Fenster hin. »Gib mir das Körbchen!« bat sie.

Nellie hängte ihr einen kleinen Bastkorb um den Hals. »So, nun bist du reisefertig, mach dein Sach‘ brav, mein Kind!« flüsterte sie und küßte Ilse auf die Wange.

Ilse hörte nichts mehr. Mit einem Sprung schwang sie sich auf das Fensterbrett, und von dort stieg sie in den Baum.

Ängstlich blickte ihr Nellie nach. Aber sie brauchte nicht besorgt zu sein. Ilse kletterte gewandt wie ein Eichkätzchen trotz ihrer schweren Stiefel.

Als sie die drei bewußten Äpfel erreichen konnte, brach sie die leuchtenden Früchte ab und warf sie Nellie zu. »Da hast du eine Probe«, rief sie übermütig, »damit dir die Zeit nicht lang wird, bis ich wiederkomme!«

Die Früchte kollerten zu Nellies Entsetzen bis an das Ende des Zimmers.

»Oh, was tust du!« flüsterte sie und erhob drohend die Finger. »Die Köchin schläft unter diesem Zimmer; soll sie von der Lärm aufwachen?«

»Barbara schläft fest, ich höre sie draußen schnarchen«, gab Ilse zurück. »Wir können ganz ohne Sorge sein, alles schläft, alles ist still und dunkel. Nun lebe wohl, Nellie, jetzt trete ich meine Reise an! Ach, es ist köstlich hier!«

Nellie wurde plötzlich ängstlich. »Ich zittere für dir«, sprach sie mit bebenden Lippen, »komm wieder her, es könnte ein Unglück sein.«

Ilse lachte in sich hinein und stieg keck höher und höher. Sie war so recht in ihrem Element, und frei wie der Vogel in der Luft regte sie ihre Schwingen.

Bald erreichte sie ein Astende. Der Mond schien voll und klar und zeigte ihr jeden Tritt, den sie tun mußte. Als sie in gleicher Höhe mit Orlas und der Schwestern Schlafzimmer war, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, einen Blick in das Fenster zu tun. Vorsichtig und behende balancierte sie auf dem Ast und sah hinein.

Einen Augenblick regte sich der Übermut in Ilse. Ob sie den schlafenden Mädchen einen Schabernack spielen sollte? »Nur einmal gegen die Fensterscheibe klopfen«, dachte sie. Schon streckte sie den Finger dazu aus, da bewegte sich Orla im Schlaf. Unwillkürlich fuhr Ilse zurück, und ihr toller Einfall blieb unausgeführt. Es hingen so viele schöne Äpfel rechts und links und überall; mit geringer Mühe konnte sie in wenigen Augenblicken ihr Körbchen füllen. Aber dazu verspürte sie keine Lust, immer höher hinauf strebte ihr Verlangen; sie hatte nun einmal die Freiheit gekostet und wollte sie so schnell nicht wieder aufgeben. Die Krone des Baumes war ihr Ziel, wohl eine beschwerliche Kletterei, aber sie schreckte nicht davor zurück.

 

Nellie wurde auf ihrem Lauscherposten recht ängstlich, es dünkte ihr eine Ewigkeit, seit Ilse sie verlassen hatte. »Ilse!« rief sie leise.

Es erfolgte keine Antwort. Ihr Ruf konnte Ilse nicht mehr erreichen, die hoch oben in der Krone des Baumes stand und die erfrischende Nachtluft mit vollen Zügen einsog. Wie fühlte sie sich glückselig, wie frei, wie heimatlich wurde es ihr zumute! Der Garten gehörte dem Vater, der Baum stand vor seinem Fenster; es war der alte Nußbaum, in dessen grünem Laubwerk sie so manchmal mit Papa Verstecken gespielt hatte. Und wenn der gute Vater seine Ilse bereits überall vergeblich gesucht hatte, antwortete sie ihm plötzlich mit einem kräftigen »Juchhe« aus ihrer luftigen Höhe.

»Juchhe!« brach es plötzlich laut aus ihrer Kehle, daß es weithin durch den Garten schallte.

Im selben Augenblick erwachte sie aus ihrem Traum und fuhr erschrocken mit der Hand nach dem Mund. Was hatte sie getan! Aber die Reue kam zu spät. Vor allem mußte sie an den schnellsten Rückzug denken, denn ihr unüberlegter Ruf war im Hause vernommen worden.

Melanie war erwacht und richtete sich entsetzt im Bett auf »Grete«, rief sie mit bebenden Lippen, »hast du gehört?«

»Ja«, tönte es gedämpft zurück. »Melanie, ich fürchte mich so!« Grete zog sich die Decke über den Kopf und erwartete mit zitternder Angst ihr Schicksal.

Auch Orla erwachte. »Was war das?« fragte sie. »Woher kam der laute Schrei? Mir war es, als ertönte er dicht vor meinem Bett.«

»Allmächtiger Gott!« schrie Melanie aus. »Siehst du nichts? Oh, ich habe etwas furchtbar Schreckliches gesehen! Eben dort, dicht an dem Fenster, flog es vorüber. Ein Gespenst war es, mit fliegenden Haaren und großen, glühenden Augen. Hu, wie es mich ansah, als ob es mich verschlingen wollte! O Orla, ein Gespenst, ein Gespenst!«

Sie klapperte mit den Zähnen vor Furcht und Schrecken, und Orla, die nichts sah, sondern nur ein lautes Knacken im Baum vernahm, sprang mutig aus ihrem Bett, schlug die Steppdecke über die Schultern und blickte zum Fenster hinaus.

Ilse kehrte eben von ihrem tollen Ausflug zurück. In rasender Hast und Angst war sie von der Höhe des Baumes vor ihrem Zimmerfenster angelangt. Nellie nahm Ilse, die am ganzen Körper zitterte, schnell das Körbchen aus den blutig geritzten Händen und warf die wenigen Äpfel, die nicht herausgefallen waren, in ihr Bett. Das Körbchen stellte sie in größter Eile hinter den Schrank und legte sich nieder.

Ilse sprang, ohne sich zu entkleiden, mit Stiefeln und Blusenkleid in ihr Bett und deckte sich bis an das Kinn zu. Sie schloß die Augen in angstvoller Erwartung eines furchtbaren Strafgerichtes.

Bei dem trügerischen Licht des Mondes konnte Orla nicht genau erkennen, was geschah. Sie sah wohl eine Gestalt, sah ein Paar weiße Arme, die ihr unheimlich lang erschienen, aber nur einen flüchtigen Augenblick, dann war die ganze Erscheinung lautlos und still wie im Nebel verschwunden. Sie lauschte noch einige Augenblicke atemlos, aber der Spuk war vorbei, nichts rührte sich. Trotz ihres Mutes war es ihr recht unheimlich.

»Nun«, fragte Melanie, »sahst du etwas?«

»Ja«, entgegnete Orla, »ich sah deutlich eine Gestalt, und ich könnte darauf schwören, daß sie von zwei langen, weißen Armen in Nellies Zimmer gezogen wurde.«

»Liebe, liebe Orla«, bat Melanie inständig und mit gerungenen Händen, »wecke die Leute! Wenn das Gespenst noch einmal erscheint, sterbe ich vor Angst.«

Orla ergriff die Klingelschnur, die sich dicht neben ihrem Bett befand, und läutete. Laut und schrill wie eine Sturmglocke tönte es durch die Stille der Nacht.

Nellie und Ilse zitterten, als hörten sie ihr Sterbeglöcklein.

Wie mit einem Zauberschlag wurde es im Hause lebendig. Die Fenster, die eben noch dunkel und wie träumend in den Garten geblickt hatten, erhellten sich. Türen wurden geöffnet, Stimmen ertönten.

Die Vorsteherin trat im Schlafrock aus ihrem Zimmer. Fast gleichzeitig erschien Fräulein Güssow.

Als beide über den Gang eilten, schoß Miß Lead aus ihrer Zimmertür; ängstlich fragend blickte sie die Damen an. Sie war keine Heldin, die gute Miß Lead; der Glockenschall war ihr in alle Glieder gefahren. In nervöser Hast hatte sie einen schottischen Plaid ergriffen und ihn wie einen Mantel um ihre Gestalt drapiert. Ihr spärliches Haar, das sie jeden Abend eine gute Viertelstunde kämmte und bürstete, hing gelöst auf ihre Schultern herab.

Sie bot in diesem abenteuerlichen Aufzug einen recht komischen Anblick, und die Vorsteherin riet ihr ernstlich, sich niederzulegen. Aber Miß Lead wies dieses Ansinnen lebhaft zurück. »Nein, nein!« Und sie hing sich so fest an Fräulein Güssows Arm, als suche sie bei ihr Schutz und Beistand.

Auch mehrere Schülerinnen waren von dem ungewohnten Lärm erwacht und aufgestanden. Angstvoll stürzten sie aus ihren Zimmern und folgten den Lehrerinnen dicht auf dem Fuß.

Orla hörte Stimmen im Flur und öffnete die Tür.

»Ist dir oder den Schwestern etwas geschehen?« fragte Fräulein Raimar, schnell in das Zimmer tretend.

Statt Orla antwortete Melanie. »Etwas furchtbar Schreckliches haben wir erlebt!« rief sie. »Ein furchtbares Gespenst haben wir gesehen!«

»Du hast geträumt«, sagte die Vorsteherin, »es gibt keine Gespenster.«

»Ich sah es mit offenen Augen, Fräulein Raimar«, entgegnete Melanie mit voller Überzeugung. »Erst erwachten wir alle drei von einem furchtbar lauten Schrei, nicht wahr, Orla? Gleich darauf sauste das Gespenst hier ganz dicht am Fenster vorüber.«

»Es war vielleicht ein Spitzbube, der sich Äpfel holen wollte«, beruhigte die Vorsteherin. »Hast du auch etwas gesehen, Orla?«

»Ja«, sagte Orla. »Ich sah zum Fenster hinaus, und da schien es mir, als ob etwas in Nellies Zimmer verschwand.«

Die Pensionärinnen, sogar Miß Lead, drängten sich im dichten Knäuel ängstlich um Fräulein Raimar. Gespenster – Spitzbuben! Das war ja fürchterlich. So schauerliche Dinge hatte man noch niemals im Pensionat erlebt. Flora zitterte vor Furcht und Erregung; aber sie fand dieses Erlebnis höchst romantisch. Sie nahm sich vor, es in ihrem nächsten Roman zu verwerten.

Kaum hörte Fräulein Güssow, daß der Spuk in Nellies Zimmer verschwunden sein sollte, als sie still die Treppe hinunterstieg und sich zu den beiden Mädchen begab. Sie öffnete die Tür und leuchtete in das Zimmer. Ihr prüfender Blick konnte nichts Verdächtiges entdecken. Die Fenster waren geschlossen, und Ilse schien fest zu schlafen.

Nellie richtete sich im Bett auf und schien bei dem Anblick der Lehrerin sehr erstaunt. »Oh, was gibt es?« fragte sie. »Warum ist der Glocke gezogen? Ich habe mir so erschreckt!«

»Es soll bei euch jemand in das Fenster gestiegen sein«, antwortete Fräulein Raimar, die mit den übrigen Fräulein Güssow gefolgt war.

Nellie stockte der Atem vor Angst. Was solle sie beginnen? Die Wahrheit gestehen? Unmöglich! Es wäre zugleich Ilses und ihre Entlassung aus dem Institut gewesen. Und lügen? Dazu war sie nicht imstande. Entsetzt blickte sie die Vorsteherin an und gab keine Antwort.

Fräulein Raimar deutete Nellies stummes Entsetzen anders und sah es als eine Folge des plötzlichen Schreckens an. »Nun, nun«, beruhigte sie, »du darfst dich nicht weiter ängstigen. Orla und die Schwestern wollen durchaus einen lauten Schrei gehört haben, und Orla behauptet fest, es sei ein Gespenst vor ihrem Zimmer vorbeigeflogen und hier bei euch verschwunden.«

»Oh, ein Gespenst! Wie furchtbar!« wiederholten Nellies zitternde Lippen, und ihr blasses Gesicht, die Angst, die sich in ihren Augen malte, erweckten Mitleid in Fräulein Raimars Herzen.

»Beruhige dich!« sagte sie. »Die Mädchen haben geträumt und mit ihren Einbildungen das ganze Haus in Aufruhr gebracht. – Ich denke, wir legen uns wieder nieder«, wandte sie sich zu Fräulein Güssow; »es ist das beste Mittel, die erregten Gemüter zur Ruhe zu bringen.«

Die Lehrerin wandte sich zur Tür, als ihr Blick auf die fest schlafende Ilse fiel. Sie trat an das Bett und beugte sich leicht darüber. »Ist Ilse von dem Lärm nicht erwacht?« fragte sie erstaunt.

Mit zitternder Spannung verfolgte Nellie jede Bewegung der Vorsteherin. Wenn sie sich ein wenig zur Seite wandte, wenn ihr Blick das Fußende des Bettes streifte, dann waren sie verloren. Unter der Bettdecke – o Entsetzen! – sah eine Spitze von Ilses fürchterlichem Stiefel vor.

»Sie hat immer so ein festen Schlaf«, brachte Nellie mühsam hervor, und plötzlich, im Augenblick der höchsten Not, kehrte ihre Geistesgegenwart zurück. »Bitte, bitte, Fräulein Güssow«, sagte sie und erhob flehend die Hände, »sehen Sie unter meines Bett, ob kein Gespenst daliegt!«

Sofort lenkte sie die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf Nellie, und die Angeredete nahm wirklich das Licht und leuchtete unter das Bett.

Fräulein Raimar schüttelte unwillig den Kopf. »Sei nicht kindisch, Nellie!« tadelte sie. »Du wirst in deinem Alter doch wahrlich nicht mehr an Spukgeschichten glauben!« Und Miß Lead, die mit den Pensionärinnen vor der Tür stand, trat zu ihrer Landsmännin und schalt sie wegen ihrer Furchtsamkeit.

Kaum erblickte Nellie die sonderbar gekleidete Gestalt, als sie in lautes Gelächter ausbrach. »Oh, Miß Lead«, rief sie, »Sie haben das Aussehen wie eine Räuberhauptmann! Seien Sie nicht böse, aber ich muß lachen!« Die übrigen Mädchen stimmten fröhlich in das Gelächter ein. Bis jetzt hatte niemand auf die englische Lehrerin geachtet.

Miß Lead wurde hochrot vor Ärger, und die Vorsteherin gab Nellie einen ernsten Verweis über ihr unartiges Benehmen. Man vergaß darüber die Gespenstergeschichte, und Ilse wurde nicht weiter beachtet.

Oder doch? Fräulein Güssow entfernte sich, mit dem Licht in der Hand, sehr schnell aus der Tür; hatte sie vielleicht die unselige Stiefelspitze entdeckt? »Wir wollen Ilses Ruhe nicht stören«, sagte sie. »Warum soll die Ärmste auch noch geweckt werden?«

»Sie haben recht, wir wollen sie nicht stören. Ihr Schlaf ist wirklich bewundernswert. Melanies Gespenst war sicherlich nichts weiter als eine Katze, die im Baum einem Vogel nachjagte. Ihr könnt ganz ohne Sorge sein, zum zweitenmal wird es nicht wiederkehren.«

Damit erreichte der nächtliche Spuk sein Ende. In kurzer Zeit lag alles wieder in tiefstem Schlaf. Melanie ließ die Lampe brennen; um keinen Preis wäre sie im Dunkeln geblieben.

Als sich Nellie überzeugt hatte, daß alles wieder still im Hause war, kehrte mit dem Gefühl der Sicherheit die frohe Laune wieder. Sie suchte die Äpfel unter der Bettdecke hervor und fing an, gemütlich zu essen, als ob nichts vorgefallen wäre.

»Was machst du denn?« fragte Ilse, als sie das knirschende Geräusch hörte. Sie wagte es noch immer nicht, sich zu rühren, und lag in Schweiß gebadet.

»Ich speise Äpfel«, entgegnete Nellie sorglos.

»Aber Nellie, wie kannst du das nur!« rief Ilse entrüstet. »Ich zittere noch an allen Gliedern, mein Herz schlägt wie ein Hammer – und du kannst essen! Wirf die Äpfel fort! Sie gehören nicht uns! Ach Nellie, ich ärgere mich über meinen dummen Streich!«

»O was«, sagte Nellie, ruhig weiteressend, »man muß tun, als ob man zu Hause ist! Gräm dir nicht mit unnütze Gedanke! Zieh dir lieber aus und pack deine Sache fort in deine Koffer! Du kannst ruhig schlafen, mein Darling, morgen weiß kein Seel‘ von unser lustiges Abenteuer, und du wirst sehr klug sein, liebe Ilschen, und schweigen.«

Die Tage wurden kürzer. Der Oktoberwind fuhr sausend durch die Bäume und trieb sein lustiges Spiel mit den trockenen gelben Blättern. Der Garten des Instituts lag öde und verlassen, die Mädchen waren nun auch in ihrer Freizeit auf ihre Zimmer angewiesen.

Flora saß an einem Sonntagnachmittag bei Ilse und Nellie und wollte ihnen ihre neueste Novelle vorlesen, da wurde sie durch Melanies hastiges Eintreten unterbrochen. »Kinder«, rief Melanie aufgeregt, »es ist etwas furchtbar Interessantes geschehen! Denkt euch, eben ist eine sehr elegante Dame mit einem reizenden kleinen Mädchen vorgefahren. Fräulein Raimar empfing sie schon an der Tür, und Orla hörte deutlich, wie sie sagte: ›Sie bringen das Kind selbst, gnädige Frau?‹ – Es bleibt also hier im Pensionat, und wir haben nichts davon gewußt. Warum wird nur die ganze Geschichte so furchtbar geheimnisvoll gemacht? Wir haben doch stets gewußt, wenn eine neue Pensionärin ankam!«

Die Mädchen horchten erstaunt auf. Welch eine Bewandtnis hatte es mit dem kleinen Mädchen, das so plötzlich hereingeschneit kam?

»Oh, welch eine klassische Geschichte!« rief Nellie. »Kommt, wir wollen gleich die fremde Frau mit ihres Kind uns ansehen!«

 

Alle eilten die Treppe hinunter, Nellie den andern immer voran; sie mußte die erste sein, die die Angekommenen in Augenschein nahm.

Es war aber gar nichts zu sehen, denn vorläufig blieben die Fremden in Fräulein Raimars Zimmer. Doch hielt der Wagen noch auf der Straße, und Nellie schloß daraus, daß die Dame sich nicht allzulange aufhalten werde. »Sehen müssen wir ihr!« sagte Nellie. »Kommt, wir stellen uns an der großen Glastür am Speisesaal und warten, bis sie kommt!«

Als sie dort eintrafen, fanden sie bereits die Tür belagert. Es gab noch andere Neugierige im Mädchenpensionat.

Die Geduld der Mädchen wurde auf eine harte Probe gestellt; wohl eine gute halbe Stunde mußten sie noch warten, ehe der Besuch erschien. Langsam und lebhaft sprechend ging die fremde Dame mit der Vorsteherin an den Lauschenden vorüber. Zum Glück war es bereits dämmrig, und die beiden waren so sehr in ihre Unterhaltung vertieft, daß sie nicht auf die vielen Mädchenköpfe hinter der Glastür achteten.

»Oh, wie sie hübsch ist!« bemerkte Nellie halblaut.

»Sei doch still, Nellie!« gebot Orla, die das Ohr dicht an die Tür hielt, um einige Worte zu erlauschen.

»Was sagt sie?« fragte Flora. »Ich glaube, sie spricht französisch.«

»Nein. Italienisch«, behauptete Melanie, die seit einigen Tagen italienische Stunden nahm.

»Sie spricht deutsch«, erklärte Grete. »Eben sagte sie: ›Meine kleine Lilli‹.«

»Was du nur gehört hast!« ereiferte sich Orla. »Sie spricht englisch.«

»Oh, eine Landsmann von mir!« rief Nellie erfreut.

In diesem Augenblick kam von der andern Seite des Ganges Rosi Möller. Erstaunt sah sie auf die Belagerung der Glastür. Die Mädchen mußten zurücktreten, um sie einzulassen. »Wie könnt ihr euch nur so kindisch benehmen!« rügte sie sanft und vorwurfsvoll. »Ich begreife eure Neugierde nicht.«

»Du bist auch unsere ›Artige‹!« meinte Grete.

Rosi überhörte diese vorlaute Bemerkung. »Kommt, setzen wir uns an die Tafel mit unserer Handarbeit!« fuhr sie fort, als das Licht angezündet war. »Wir haben die Erzählung von Gottfried Keller noch nicht zu Ende gehört. Willst du heute vorlesen, Orla?«

Aber es kam nicht dazu. Gerade als sich Orla zum Vorlesen zurechtsetzte, trat Fräulein Güssow mit der kleinen Lilli an der Hand ein.

Sofort sprangen die Mädchen von ihren Plätzen auf und umringten sie.

»Sieh, Lilli«, sagte die junge Lehrerin, »nun kannst du gleich deine zukünftigen Freundinnen kennenlernen!«

Die Kleine schüttelte den Kopf »Die Madel sind schon so groß«, antwortete sie unbefangen in ihrem Wiener Dialekt, »die können doch net meine Freundinnen sein!«

Nellie fand gleich einen Ausweg, sie kniete neben dem kleinen Mädchen nieder und sagte: »Jetzt bin ich ein klein Madel wie du und kannst mit mich spielen.«

Lilli lachte. »Nein, du bist groß«, sagte sie, »aber du gefallst mir. – Und auch du«, wandte sie sich zu Ilse, die neben Nellie stand. »Du hast so schöne Lockerln wie ich. Weißt, du sollst meine Freundin sein, mit dir will ich spielen.« Sie ergriff Ilses Hand und sah sie treuherzig an.

Ilse, gerührt von der Zutraulichkeit des anmutigen Kindes, kniete neben ihm nieder und schloß es in die Arme.

Die Mädchen waren ohne Ausnahme von der Kleinen bezaubert. Lange blonde Locken fielen ihr über die Schultern herab und bildeten einen sonderbaren Gegensatz zu den schwarzen Augen mit den feingeschnittenen, dunklen Augenbrauen. Sie trug ein sehr hübsches, weißes Kleidchen, das Hals und Arme freiließ.

Fräulein Raimar war unbemerkt hereingekommen. Nun trat sie in den Kreis und nahm Lilli bei der Hand. »Komm«, sagte sie, »du sollst erst umgekleidet werden! Du könntest dich in dem leichten Kleid erkälten.«

»Bitt‘ schön, laß mich hier, Fräulein!« bat das Kind. »Ich hab‘ gar net kalt. Schau, ich geh‘ immer so! Die Mädel sind so lieb; es gefallt mir hier.«

Fräulein Raimar ließ sich nicht erweichen. »Komm nur, Kind!« sagte sie freundlich. »Du wirst die Mädchen alle beim Abendessen wiedersehen.«

Die abgeschlagene Bitte verstimmte Lilli nicht. »Laß Ilse mit mir gehen, Fräulein!« bat sie.

Dieser Wunsch wurde ihr erfüllt, und Ilse verließ mit dem Kind das Zimmer. Die Vorsteherin wandte sich ernst und mahnend an ihre Zöglinge. »Ich bitte euch, Lilli nicht zu viele Schmeicheleien zu sagen. Wollt ihr sie eitel und oberflächlich machen? Sie ist ein sehr schönes Kind und wird bereits manche Äußerung hierüber gehört haben; es gibt ja unvernünftige Leute genug. Wir wollen nicht in diesen Fehler verfallen. – Lilli bleibt bei uns. Ich erwähnte bisher nichts darüber, weil ihr Eintritt in unser Pensionat noch nicht fest beschlossen war.«

»Wo wohnen Lillis Eltern?« fragte Flora.

»In Wien«, entgegnete das Fräulein. »Der Vater ist tot und die Mutter eine gefeierte Burgtheater-Schauspielerin. Sie kann sich in ihrem Beruf wenig um die Erziehung ihres Kindes kümmern, und daher kommt die kleine Lilli zu uns.«

Lilli erhielt ihren Tischplatz zwischen der Vorsteherin und Ilse. Während der Mahlzeit belustigte sie die ganze Tischrunde. Sie plauderte unbefangen und war weder schüchtern noch ängstlich. »Das macht«, bemerkte Flora, »weil sie unter Künstlern groß geworden ist.«

»Du, Fräulein, gib mir noch a Kipferl, bitt‘ schön! Ich hab‘ so großen Hunger«, rief Lilli unbefangen. Und als Fräulein Güssow fragte, welches ihre Lieblingsgerichte seien, meinte sie: »Wiener Würstel«.

»Aber eine Mehlspeis‘ wirst du wohl lieber essen?«

»O nein, Mehlspeis‘ ess‘ i gar net gern! Aber a großes Stückerl Rindfleisch mit Gemüs‘, das mag i.«

Alles lachte. Selbst die Vorsteherin stimmte mit ein. Wer wollte auch nicht mit Vergnügen dem Geplauder der Kleinen zuhören!

Mit Lilli war ein anderes Leben in die Pension gekommen. Alles drehte sich um sie, jeder wollte ihr Freude machen. Die Mädchen vermieden, ihr Schmeicheleien zu sagen, aber alle umwarben und umsorgten sie zärtlich. Flora geriet jedesmal in Verzückung, wenn ihnen Lilli ein kleines Volkslied vortrug, prophezeite ihr eine große Zukunft und schwur darauf, daß sie einst mit ihrer vollen, weichen Stimme ein Stern am Theaterhimmel sein würde.

Voll und weich war die Stimme zwar nicht, Flora blickte wieder einmal durch ihre romantische Brille.

»Sie ist furchtbar süß!« lispelte Melanie, als Lilli zum erstenmal »Kommt a Vogerl geflogen« vortrug. »Sieh nur, Flora, wie melancholisch sie die Augen in die Ferne richtet!«

»Ja, melancholisch«, wiederholte Flora langsam und feierlich, »du hast recht. Weißt du, Melanie, es liegt so etwas Geheimnisvolles, Traumverlorenes, in ihren samtnen dunklen Mignonaugen, so etwas, das sagen möchte: ›Du häßliche Welt, ich passe nicht für dich!‹«

»Denn es kümmert sich ka Katzerl – ka Hunderl um mi«, schloß ihr Liedchen.

»O wie reizend!« rief Nellie und klatschte in die Hände.

»Wie kann man diese Worte reizend finden!« rief Flora entrüstet. »Traurig – düster, das ist der rechte Ausdruck dafür. Ein einsames, verlassenes Herz hat sie empfunden; welche Folterqualen mag es dabei erlitten haben!«

Weihnachten rückte heran, und fleißig rührten sich alle Hände.

Es wurde genäht, gestickt, gezeichnet; Klavierstücke wurden eingeübt, um Eltern und Angehörige liebevoll zu überraschen.

»Was willst du deinen Eltern geben?« fragte Nellie, die eifrig dabei war, mit viel Talent eine Kreidezeichnung zu vollenden. Sie sollte ein Geschenk für den Onkel in London werden, der sie im Institut ausbilden ließ.

»Ich habe noch nicht darüber nachgedacht«, entgegnete Ilse. »Meinst du, Nellie«, fügte sie nach einigem Nachdenken hinzu, »daß die Blumen, die ich jetzt zeichne, Papa Freude machen würden?«

»Oh, sicher! Aber du mußt sehr fleißig sein, mein klein Ilschen, sonst wird die liebe Christfest kommen und du bist noch lange nicht fertig. – Und was willst du deiner Mutter geben?« fragte Nellie.

»Meiner Mama?« Ilse dehnte ihre Frage in die Länge. »Ich werde ihr etwas kaufen«, sagte sie dann obenhin.