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Der Trotzkopf

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Ilse wurde dunkelrot vor Ärger über die Ermahnung. Trotzig biß sie die Lippen aufeinander und unterdrückte eine Antwort.

»Geh nun zu Bett, mein Kind, und schlafe gut!«

Sie wollte Ilse einen Kuß auf die Stirn drücken, aber das Mädchen bog mit einer heftigen Bewegung den Kopf zurück. Fräulein Raimar wandte sich unwillig von dem Trotzkopf ab, ohne ein Wort zu sagen, und Ilse verließ das Zimmer.

Sie lief die Treppe hinauf und trat atemlos zu Nellie in das Zimmer. Sie warf die Tür heftig in das Schloß und schob auch noch den Riegel vor, was in der Pension streng untersagt war.

»Mach nicht den Riegel zu!« rief Nellie. »Wir dürfen das nicht tun. Wenn wir in die Bett liegen, kommt Fräulein Güssow bei uns nachsehen.«

Ilse rührte sich natürlich nicht, und Nellie mußte selbst den Riegel wieder öffnen. Ungestüm warf sich Ilse auf ihr Bett und brach in Tränen aus.

»Oh, was ist dich?« fragte Nellie erschrocken.

»Hier bleibe ich nicht! Ich reise morgen fort! Wenn das mein Papa wüßte, wie sie mich behandelt hat!« rief Ilse aufgeregt.

Durch viele Fragen erfuhr Nellie langsam in einzelnen abgerissenen Sätzen, was Fräulein Raimar gerügt hatte.

»Ich esse ungeschickt – ich nehme zu große Bissen – ich sei ein Nimmersatt! Zu Hause darf ich essen, wie und was ich will. Ich will wieder fort! Morgen reise ich!«

»Du mußt dir nicht so viel grämen um so kleine Sach‘!« bemerkte Nellie sanft und strich liebkosend über Ilses lockiges Haar. »Fräulein Raimar ist sehr gerecht; sie meint es gut und will dir nicht beleidigen. Mit uns alle macht sie es so. Wir sind doch jung und dumm und müssen noch lernen. – Nun komm, wir legen uns jetzt ins Bett, und später, wenn Fräulein Güssow bei uns eingesehen hat, stehen wir ganz leise wie die Mäuschen wieder auf und packen deiner kleine Koffer leer!«

Aber so leicht war Ilse nicht zu beruhigen. »Nein«, rief sie und sprang auf, »der kleine Koffer bleibt verschlossen! Ich reise wieder fort!«

Hastig zog sie sich aus, ließ ihre Kleidungsstücke liegen, wohin sie fielen, und legte sich schluchzend in ihr Bett. Schweigend ordnete Nellie die zerstreuten Sachen; sie hing das schöne Kleid, das zerknüllt auf einem Stuhl lag, über einen Bügel und legte alles übrige ordentlich zusammen. Dann ging auch sie zur Ruhe.

Bevor sie ihr Lager aufsuchte, kniete sie nieder, faltete die Hände und betete leise ein kurzes Gebet. »Gute Nacht, Ilse!« sagte sie dann und gab ihr einen Kuß. »Du mußt nun nicht mehr weinen – alle Anfang ist schwer.«

Am andern Morgen um sechs Uhr hieß es: Aufgestanden! Da galt kein langes Besinnen, und wenn die jungen Glieder noch so sehr vom Schlaf befangen waren, es gab keine Ausnahme. Ilse pflegte daheim bald früh, bald spät aufzustehen, wie es ihr gerade einfiel. Einer bestimmten Ordnung, wie sie die Mama so sehr wünschte, wollte sie sich niemals fügen.

Nellie stand schon da und wusch sich. Mit einem Sprung war sie Schlag sechs Uhr aus dem Bett gewesen. »Wach auf, Ilse!« sagte sie. »Um halb sieben trinken wir Kaffee.«

»Schon aufstehen?« antwortete die Verschlafene. »Aber ich bin noch so müde!«

»Tut nix, du darfst nicht mehr schläfrig sein!«

Aber Ilse zögerte noch. Nellie war schon fertig angezogen, und alles, was sie zur Nacht- und Morgentoilette benötigte, war beiseite geräumt, als Ilse sich langsam erhob.

»O Ilse, eile dir, du hast nur zehn Minuten Zeit. Schnell, schnell, ich will dich helfen! Wo ist dein Kamm?«

Ilse zeigte auf ein Papier, das im Fenster lag. »Dort liegen sie eingewickelt«, gab sie zur Antwort.

»Das ist nicht nett, das gefallt mir nicht«, meinte Nellie und rümpfte das Näschen. »Du mußt dich ein Taschen nähen von grauer Stoff und rote Band, sieh, wie dies da!« Nellie zeigte ihre Kammtasche. »Siehst du, so ist‘s fein!«

Ilse machte nicht viel Umstände mit ihrem Haar. Sie kämmte und bürstete es, damit war alles geschehen; die natürlichen Locken ringelten sich von selbst ohne weitere Bemühung. Nellie schlang ihr ein hellblaues Band durch und band es mit einer Schleife seitwärts zu.

»Nun noch die Schürze«, sagte sie, als Ilse soweit fertig war, »die darf nicht fehlen.« Sie lachte, als sich Ilse dagegen sträubte. »Du bist ein klein, albern Ding«, schalt sie und band ihr die Schürze vor, trotz Ilses heftigem Widerstand. »Gleich haltst du still! Ohn ein Schürzen gibt es kein Kaffee.«

Die lustige Nellie setzte es wirklich durch, daß Ilse sich ihrem Willen fügte. »So«, sagte sie, »nun bist du schön. Die blau gestickter Schürze ist sehr nett, und du bekommst ein süßer Kuß.«

Nellie und Ilse waren die letzten am Frühstückstisch. Fräulein Raimar war des Morgens niemals zugegen, nur Fräulein Güssow führte die Aufsicht. Ilse mußte sich zu ihr setzen. Als ihr der Kaffee gereicht wurde, nahm sie die Tasse ganz sittsam beim Henkel in die Hand, aß auch, wie es sich gehört, nicht mit großen Bissen wie am Abend zuvor; aber nun zeigte sich eine andere Unart, die ebenfalls zu tadeln war: Sie schlürfte den Kaffee so laut, daß sie allgemeine Heiterkeit erregte.

Ilse wußte nicht, daß das Gelächter ihr galt. Orla machte sie darauf aufmerksam. »Du führst ja ein wahres Konzert auf!« sagte sie. »Machst du das immer so? Schön hört sich diese Tafelmusik nicht an, das kann ich dir versichern!«

Ilse fühlte sich schwer beleidigt über diese Zurechtweisung. Hastig setzte sie die Tasse nieder, erhob sich und eilte hinaus.

»Du durftest sie nicht vor allen andern so beschämen, Orla!« tadelte Fräulein Güssow, indem sie ebenfalls aufstand, um Ilse zu folgen. »Das kränkt sehr.«

Ilse wollte in den Garten eilen, als die junge Lehrerin sie zurückrief. »Wo willst du hin, Ilse?« fragte sie. »Was fällt dir ein, mein Kind, einfach davonzulaufen! Es gehört sich nicht, eine Mahlzeit zu verlassen, bevor sie beendet ist. Komm gleich zurück und trinke deinen Kaffee.«

»Ich mag nicht mehr frühstücken«, entgegnete Ilse, »und ich gehe nicht wieder hinein! Es geht niemand etwas an, wie ich esse und trinke, ich mache es, wie ich will! Vorschriften lasse ich mir nicht machen, nein!«

»Ehe ich weiter mit dir spreche, bitte ich dich, erst ruhig und vernünftig zu sein, liebe Ilse. Ich kann nicht dulden, daß du in einem so unartigen Ton zu mir sprichst.« Fräulein Güssow sprach sehr ernst und nachdrücklich, aber durch die Strenge der Worte hindurch vernahm man deutlich den warmen Klang der Liebe. Ihre wohlklingende Stimme verfehlte selten den Weg zu den Herzen, das lernte auch Ilse in diesem Augenblick kennen. Sie blickte zu Boden, und etwas wie Beschämung stieg in ihr auf.

Die Lehrerin las in Ilses Zügen und wußte, was in ihr vorging. »Gib mir deine Hand, du kleiner Brausekopf«, sagte sie freundlich, »und versprich mir, nicht wieder so stürmisch zu sein und deiner augenblicklichen Laune zu folgen, selbst wenn du glaubst, im Recht zu sein! Heute warst du es nicht einmal, du hast wirklich unappetitlich getrunken. Orla hat es gut gemeint, als sie dich darauf aufmerksam machte; du darfst ihr darum nicht böse sein. Es ist doch besser, jetzt als Kind zurechtgewiesen zu werden als später, wenn aus den schlechten Gewohnheiten bereits Fehler geworden sind, die bei einem Erwachsenen nicht mehr entschuldigt werden können. Siehst du das ein, Ilse?«

Vielleicht tat sie es, aber sie würde ein Ja nicht über die Lippen gebracht haben. Fräulein Güssow begnügte sich mit ihrem Stillschweigen und nahm es für eine Zustimmung.

»Nun wollen wir zurück in den Speisesaal gehen«, sagte sie, und Ilse wagte keine Widerrede. Sie folgte der Lehrerin mit niedergeschlagenen Augen, aus Furcht vor den vielen peinlichen Blicken, die sich alle auf sie, richten würden.

Als sie eintraten, war das Zimmer leer und die Frühstückszeit vorüber. Niemand war froher als Ilse, die sich wie erlöst vorkam.

»Ich habe noch einen Auftrag für dich, Ilse«, sagte die Lehrerin. »Fräulein Raimar wünscht deine Arbeitshefte zu sehen, du sollst auch gleich mündlich geprüft werden. Finde dich in einer Stunde in dem Konferenzzimmer ein! Du wirst dort einige deiner zukünftigen Lehrer und Lehrerinnen kennenlernen.«

»Wollen sie mich alle prüfen?« fragte Ilse etwas besorgt.

»Nein«, entgegnete das Fräulein, »aber sie werden zuhören, wenn Fräulein Raimar dich prüft. Später wirst du dann erfahren, in welche Klasse du kommst, und morgen nimmst du zum erstenmal am Unterricht teil.«

Ilse ging in ihr Zimmer und suchte ihre Hefte zusammen. Sie waren nicht in der besten Verfassung. Das deutsche Aufsatzheft war mit Tintenflecken verziert, und sogar einige Fettflecke machten sich darauf breit. Das französische Heft wurde ganz beiseite gelegt. Sie versuchte einige Seiten, die gar zu verschmiert aussahen, herauszureißen, aber durch diesen Gewaltstreich lockerten sich alle andern Blätter.

Nellie, die gerade eine freie Stunde hatte, sah erstaunt Ilses Treiben zu. »Was tust du?« fragte sie. »Willst du deine Bücher so an Fräulein Raimar vorzeigen? Das darfst du nicht. Hat deiner Herr Pastor dir dies erlaubt? Gib schnell, ich will dich blaues Umschläge drum wickeln! Das ist nett, und man sieht die alte Flecken nicht.«

»Gib her!« rief Ilse gereizt. »Sie sind gut so! Es ist mir ganz einerlei, ob Fräulein Raimar die Flecken sieht oder nicht.«

»Nicht so zornig, Fräulein Ilse! Sie sind eine kleine, unordentliche junge Dame. Würde es dir vielleicht spaßig sein, wenn Fräulein Raimar deine Buch mit spitze Finger hochhielte und sie alle Lehrer zeigte? O nein, das wäre dich nicht einerlei und nicht spaßig. Besonders wenn Herr Doktor Althoff, unser deutscher Lehrer, mit seine bekannte, höhnische Lachen dir so von die Seiten ansieht und fragt: ›Wie alt sind Sie, mein Fräulein?‹«

Obwohl Ilse ungeduldig erklärte, es wäre höchst unnütz, so viele Umstände wegen der dummen Bücher zu machen, setzte Nellie ihren Willen durch. »So, nun kannst du gehen«, sagte sie, als auch das letzte Heft in einem blauen Kleid steckte. »Nun bedanke dich für meine Mühe!«

 

»Du bist sehr gut, Nellie!« meinte Ilse. »Wie ist es dir möglich, so sanft und geduldig zu sein? Ich kann das nicht.«

»Oh, du lernst schon, Kind! Wirst noch eine ganz zahme, kleine Vogel sein!« entgegnete Nellie.

Um elf Uhr ging Ilse in das Konferenzzimmer. Es waren mehrere Lehrer und einige Lehrerinnen anwesend. Sie saßen um einen Tisch, Fräulein Raimar machte mit einigen freundlichen Worten die neue Schülerin mit ihren zukünftigen Lehrern bekannt. Darauf ließ sie sich die Schreibhefte reichen. Das Aufsatzheft fiel ihr zuerst in die Hand. Sie blätterte und las darin, und einigemal schüttelte sie den Kopf »Oft recht gute und klare Gedanken«, bemerkte sie zu dem neben ihr sitzenden Lehrer der deutschen Sprache, Doktor Althoff, »und dabei diese oberflächliche, flüchtige Schrift. Sehen Sie einmal, ›uns‹ mit einem ›z‹ geschrieben – ›Land‹ mit einem ›t‹. Da werden wir viel Versäumtes nachzuholen haben. Wie schreibst du ›Land‹, Ilse? Buchstabiere einmal!«

Ilse fühlte sich durch diese Frage verhöhnt. War sie denn ein kleines Mädchen aus der Abc-Klasse? Sie zögerte mit der Antwort.

Die Vorsteherin war nicht gewöhnt zu scherzen, sie sah die schweigende Ilse erstaunt an. »Wie du Land schreibst, möchte ich von dir wissen«, wiederholte sie in einem Ton, der jeden Zweifel, ob er ernst gemeint sei, ausschloß.

Ilse kräuselte etwas unwillig die Stirn, zog die Lippe in die Höhe und buchstabierte so schnell, daß man ihr kaum folgen konnte: L-a-n-d. Den Blick wandte sie zum Fenster, um Fräulein Raimar nicht anzusehen.

»Also nur flüchtig; ich dachte es mir«, sagte die Vorsteherin. »Wenn du in Zukunft deine Aufsätze machst, wirst du sehr aufmerksam sein. Fehler, wie ich sie in deinen Aufgaben finde, kommen bei uns in der dritten Klasse nicht mehr vor.«

Es wurden Ilse nun Fragen in den verschiedensten Fächern vorgelegt. Manchmal fielen die Antworten überraschend gut aus, zuweilen geradezu einfältig.

Im Französischen bestand sie gut. Monsieur Michael, der französische Lehrer, ein älterer Herr mit weißem Haar, sprach sie sogleich französisch an, und sie antwortete richtig und fließend.

Bei Miß Lead, der englischen Lehrerin, die ebenfalls im Institut wohnte, war Ilse weniger erfolgreich; sie holperte sehr, als sie die Antwort gab.

»Nun kannst du uns verlassen, Kind«, sagte Fräulein Raimar. »Deine Prüfung ist zu Ende. Später werde ich dir mitteilen, welche Klasse du besuchen wirst.«

Nach einer eingehenden Beratung wurde von der Lehrerkonferenz der Beschluß gefaßt, Ilse in die zweite Klasse zu geben, im Französischen sollte sie die erste besuchen.

»Ich glaube, Ilse wird uns viel Sorgen machen«, äußerte die Vorsteherin besorgt. »Sie ist widerspenstig und trotzig, und sie kann nicht den geringsten Tadel vertragen.«

»Sie hat ein gutes Herz«, fiel Fräulein Güssow lebhaft ein. »Ich habe noch keine Beweise dafür, aber ich lese es in ihren Augen. Ich bin überzeugt, daß ich mich nicht täusche. Mir ist klar, mit Strenge werden wir wenig ausrichten, dagegen hoffe ich, mit Liebe und Bestimmtheit wird es gelingen, ihren Trotz zu zähmen.«

»Das ist ganz meine Ansicht«, stimmte Monsieur Michael bei. »Sie werden sehen, meine Damen und Herren, Mademoiselle Ilse wird eine Zierde des Pensionates sein. Mit welcher Eleganz spricht sie französisch, wie gewählt setzt sie die Worte! Ah, sie ist ein Genie!«

»Ich wünsche von Herzen, daß Sie recht haben mögen«, entgegnete Fräulein Raimar und erhob sich von ihrem Platz. »An Liebe und Nachsicht wollen wir es nicht fehlen lassen; vielleicht gelingt es uns, Ilse verständig und gefügig zu machen.«

Am Abend, als Fräulein Güssow bereits die Runde gemacht hatte, als das Licht gelöscht und alles still im Hause war, rief Nellie: »Wachst du, Ilse?«

»Ja, was soll ich?«

»Zieh dir leise an! Wir wollen deinen kleinen Koffer auspacken!«

»Es ist aber dunkel!« meinte Ilse.

»O laß nur, ich habe schon ein Licht!«

Leicht und unhörbar stieg Nellie aus dem Bett und ging auf Strümpfen an ihren Schrank. Sie zog die oberste Schublade vorsichtig heraus und entnahm ihr eine kleine Kerze. Sie zündete sie an und stellte ein Buch davor, um jeden verräterischen Lichtschimmer nach draußen abzublenden. »Ist doch fein, nicht?« fragte sie. »Nun eile dich aber!« trieb sie Ilse an, die sich flüchtig ankleidete. »Wo hast du der Schlüssel?«

»Hier habe ich ihn«, entgegnete Ilse und zog ihn unterm Kopfkissen hervor, »ich werde selbst aufschließen.«

Nellie leuchtete mit der Kerze, die sie mit der Hand abschirmte. Sie stand über dem Koffer gebeugt, in neugieriger Erwartung der Schätze, die sich vor ihren Augen auftun würden. Sie war enttäuscht, als Ilse anfing auszupacken. Die erwarteten Delikatessen – Nellie war eine kleine Naschkatze – kamen nicht zum Vorschein. »Oh, hast du keine Kuchen?« fragte sie, warf den Plunder heraus und durchsuchte den Koffer bis auf den Grund. »Au, au!« rief sie plötzlich und fuhr mit der Hand zurück. »Was ist dies? Ich habe mich gestochen.« Und richtig, ein roter Blutstropfen hing an dem kleinen Finger.

Ilse wußte nicht, woher die Verwundung kam, bis sie selbst in den Koffer griff und die Ursache entdeckte. O Schrecken! Das Glas mit dem Laubfrosch war zerbrochen, und Nellie hatte sich an einem Glassplitter geritzt.

»Wo nur der Frosch ist?« sagte sie ängstlich und räumte die Scherben fort.

»Was, ein Frosch? Eine lebendige Frosch. O je, hast du ihn verpackt? Wie kannst du so eine arme Tier in die Koffer tun! Ohne Luft muß er totgehen.«

Ilse fand den kleinen Laubfrosch, natürlich tot. Sie legte ihn auf die flache Hand und hauchte ihn an, vielleicht brachte sie ihn wieder zum Leben.

Nellie lachte sie aus. »Du hast die arm, klein Frosch gemordet«, sagte sie und nahm ihn in die Hand. »Oh, er ist kaputt! Er kriegt keine Leben wieder, niemals! Morgen früh wollen wir ihn unter die Linde vergraben.«

Ilse sah traurig auf den Frosch, und die Tränen traten ihr in die Augen. »Wie schlecht von mir, daß ich so dumm sein konnte!« klagte sie sich an. »Ich dachte gar nicht daran, daß er ersticken könnte, als ich ihn in den Koffer gab, es ging so schnell.« Die Aussicht auf das Begräbnis unter der Linde tröstete sie einigermaßen.

»Wir machen eine kleiner Hügel«, riet Nellie, »und pflanzen Blumen darauf. Und ein klein Holzkreuz stecken wir in die Erden und schreiben daran: Hier ruht Ilses Frosch. Er mußte sein junges Leben lassen, weil ihm die Luft ausging.«

Dieser Einfall trocknete Ilses Tränen, sie mußte sogar lächeln. – Der ausgestopfte Kanarienvogel hatte auch sehr gelitten. Das Köpfchen war ganz breitgedrückt, und der eine Flügel hing herunter.

Nellie gab ihm wieder einige Form. »Laß mir nur machen«, sagte sie, »ich werde ihm schon wieder in die Ordnung bringen! – Was ist denn das?« fragte sie plötzlich und hielt Ilses Blusenkleid in die Höhe. »Warum hast du dieses schmucklose Robe eingepackt – und die alte schmutzige Stiefel? Was soll damit?«

Warum? Das wußte Ilse selbst nicht, aber sie war ärgerlich, ihr Lieblingskostüm so verachtet zu sehen. »Du verstehst nichts davon!« sagte sie und nahm es Nellie fort. »Es ist mein liebster und schönster Anzug. Ich mag die andern Kleider gar nicht leiden, sie sitzen so fest und sehen so geziert aus.«

»Oh, laß mir ihn anprobieren!« bat Nellie. »Ich will ihn anziehen.«

Dagegen konnte Ilse nichts einwenden. Sie half Nellie ankleiden, und in wenigen Augenblicken stand diese in einem ganz merkwürdigen Aufzug da. Der Rock war ihr zu kurz, da sie etwas größer als Ilse war; darunter sah das lange, weiße Nachtgewand hervor. Die Bluse war stellenweise zerrissen. Nellie war statt durch den Ärmel durch ein großes Loch dicht daneben hinausgefahren, so daß der Ärmel auf dem Rücken hing. Nun schlang sie auch noch den schäbigen Ledergürtel um ihre zierliche Taille, und dann stand sie fertig da, bis auf die Stiefel, die sie nicht anziehen mochte, weil sie zu schmutzig waren. »Bequem ist diese Kostüm, das ist wahr«, sagte sie und fing an, allerhand lustige Sprünge auszuführen und sich im Kreis zu drehen. »Man ist so luftig, so leicht.«

Ilse brach plötzlich in ein so herzhaftes Gelächter aus, daß Nellie auf sie zueilte und ihr den Mund mit der Hand verschloß. »Du darfst nicht so toll lachen«, sagte sie, »du wirst uns verraten!«

»Ich kann nicht anders, du siehst zum Totlachen aus!«

Nellie trat mit der Wachskerze vor den kleinen Spiegel und betrachtete sich. »O wie abscheulich!« sagte sie und riß die Sachen herunter. »Wie kannst du so ein häßlicher Anzug schön finden!«

Ilse verschloß ihre Herrlichkeiten wieder in den Koffer, dann wurde das Licht gelöscht, und in wenigen Augenblicken schliefen die beiden Mädchen fest und tief.

Vierzehn Tage waren seit Ilses Aufnahme im Pensionat vergangen. Sie weinte in dieser kurzen Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, manche bittere Träne, und oft setzte sie die Feder an, um den Vater zu bitten, er möge sie zurückholen. Nur weil sie sich vor der Mutter scheute, tat sie es nicht. Sie antwortete auf die vielen und langen Briefe, die sie aus der Heimat erhielt, nur zweimal, nur kurz und mit der Entschuldigung, daß ihr die Zeit zu längeren Briefen fehle.

Endlich, eines Sonntagnachmittags, den fast alle Pensionärinnen zum Briefeschreiben benutzten, setzte sich auch Ilse dazu an ihren Tisch. Große Lust verspürte sie nicht zum Schreiben. Sie schlug die neue Schreibmappe auf, wählte nach langem Suchen einen rosa Bogen, tauchte die Feder in das Tintenfaß und malte allerhand Schnörkeleien auf ein Stückchen Papier. Endlich begann sie den Brief. Doch nach wenigen Zeilen hörte sie auf und legte das Geschriebene beiseite. Der Anfang gefiel ihr nicht. Es wurde ein neuer Bogen geopfert und noch einer. Der vierte endlich hatte mehr Glück. Sie beschrieb ihn von Anfang bis zum Ende, ja, sie nahm noch einen fünften Bogen dazu. Sie war nun einmal ins Plaudern gekommen, immer wieder fiel ihr etwas ein, das sie dem Papa mitteilen mußte. Als Ilse zu Ende war, las sie noch einmal ihre lange Epistel.

»Mein liebes Papachen!

Es ist heute Sonntag. Das Wetter ist so schön, und im Garten blühen die Rosen (da fällt mir eben ein, hat meine gelbe Rose, die Marschall Niel, die der Gärtner im Frühjahr verpflanzte, schon Knospen angesetzt? Bitte, vergiß nicht, mir Antwort zu geben!), und die Vögel singen so lustig – ach! und Deine arme Ilse sitzt im Zimmer und kann sich nicht im Freien umhertummeln. Mein liebes Papachen, das ist recht traurig, nicht wahr? Ich komme mir oft vor wie unser Mopsel, wenn er genascht hatte und zur Strafe dafür eingesperrt wurde. Ich möchte auch manchmal, wie er es tat, an der Tür kratzen und rufen, macht auf! Ich will hinaus! Es ist gar nicht hübsch, immer eingesperrt zu sein. Zu Haus konnte ich doch immer tun und treiben, was ich wollte; im Garten, auf dem Feld, in den Ställen, überall durfte ich sein, und meine guten Hunde liefen mir nach, wohin ich ging. Ach, das war zu himmlisch nett! Was macht Bob, Papachen, und Diana und Mopsel und die andern? Oh, wenn ich sie gleich hier hätte!

Es ist im Pensionat alles so furchtbar streng, man muß jede Sache nach Vorschrift tun. Aufstehen, Frühstücken, Lernen, Essen – immer zu bestimmten Stunden. Das ist gräßlich! Ich bin oft noch müde des Morgens, aber ich muß hinaus, wenn es sechs geschlagen hat. Ach, wie oft möchte ich in den Garten laufen und muß auf den abscheulichen Schulbänken sitzen! Die furchtbare Schule!

Ich lerne doch nichts, Herzenspachen, ich bin zu dumm. Nellie und die andern Mädchen wissen viel mehr, sie sind auch alle klüger als ich. Nellie zeichnet zu schön! Einen großen Hundekopf in Kreide hat sie jetzt fertig. Er sieht aus, als wenn er lebte. Und Klavier spielt sie, daß sie Konzerte geben könnte – und ich kann gar nichts!

Wenn ich doch lieber zu Hause geblieben wäre! Dann wüßte ich nicht, wie einfältig ich bin. Nellie tröstet mich oft und sagt: ›Es ist keiner Meister von der Himmel gefallen, fang nur an, du wirst schon lernen!‹ Aber ich habe angefangen und doch nichts gelernt. Ich weiß nur, daß ich sehr dumm bin.

Am fürchterlichsten sind die Mittwochnachmittage. Da sitzen wir alle von drei bis fünf Uhr im Speisesaal. Die Fenster nach dem Garten sind weit offen, und ich blicke sehnsüchtig hinaus. Es zuckt mir förmlich in Händen und Füßen, daß ich aufspringen möchte, um in den Garten zu eilen, aber ich darf es nicht, ganz still muß ich dasitzen und muß meine Sachen ausbessern. Fräulein Güssow war ganz erstaunt, daß ich nicht stricken konnte. Man kauft doch jetzt die Strümpfe, das ist viel einfacher. Warum muß ich mich unnütz quälen? Es wird mir so schwer, die Maschen abzustricken, und ich mache es auch sehr schlecht.

 

Melanie Schwarz – sie ist sehr hübsch, ziert sich aber und stößt mit der Zunge an, und dann sagt sie immer zu allem: ›Furchtbar nett, furchtbar reizend oder furchtbar scheußlich‹ – meinte neulich: ›Du strickst aber furchtbar scheußlich, Ilse!‹ Du siehst, Pachen, ich kann nichts!

In den Abendstunden wird einmal französisch, einmal englisch die Unterhaltung geführt. Französisch kann ich mich allenfalls verständlich machen, aber englisch geht es sehr schlecht, so schlecht, daß ich mich schäme, den Mund aufzutun. Nellie ist gut, sie hilft mir nach und will oft mit mir sprechen, wenn wir allein sind.

Du fragst mich, lieber Papa, ob ich schon Freundinnen habe. Nellie und noch sechs andere Mädchen sind meine Freundinnen, Nellie aber habe ich am liebsten. Wie sie alle heißen, will ich Dir das nächstemal schreiben, dann werde ich Dir auch erzählen, wie sie aussehen; heute kann ich mich nicht dabei aufhalten, sonst nimmt mein Brief kein Ende. Eine Schriftstellerin ist auch dabei, das muß ich dir noch mitteilen.

In die Kirche gehen wir jeden Sonntag, dort gefällt es mir aber gar nicht. Ich sitze zwischen soviel fremden Leuten, und der Pfarrer, ein ganz alter Mann, spricht so undeutlich, daß ich Mühe habe, ihn zu verstehen. In Moosdorf ist es viel, viel hübscher. Da sitzen wir eben in unsrem Kirchenstuhl, und wenn ich hinuntersehe, kenne ich alle Menschen. Und wenn unser Oberlehrer die Orgel spielt, die Mädchen so laut und kräftig anfangen zu singen und mein lieber Herr Pfarrer die Kanzel besteigt und so schön predigt, dann ist mir so feierlich zumute, so ganz anders als hier. Ach, und manchmal, wenn die Sonnenstrahlen durch das bunte Kirchenfenster fallen und schöne Farben auf den Fußboden malen, dann ist es herrlich, so herrlich, wie nirgendwo auf der ganzen Welt!«

Hier mußte Ilse mitten im Lesen innehalten und eine Pause machen. Der Gedanke an die Heimat und die Sehnsucht überwältigten sie dermaßen, daß sie zu weinen anfing. Erst als ihre Tränen wieder getrocknet waren, las sie zu Ende.

»Grüße nur alle, du einziger Herzenspapa, auch die Mama! Das Tagebuch, das sie mir eingepackt hat, kann ich nicht gebrauchen; ich habe keine Zeit, etwas hineinzuschreiben. Aber ich bedanke mich dafür. Nun leb wohl, mein lieber, süßer, furchtbar netter Papa! Ich küsse Dich tausendmal. Bitte, gib auch Bob einen Kuß und grüße Johann von

Deiner

Dich unbeschreiblich liebenden Tochter

Ilse

N.S. Ich will gern Zeichenunterricht nehmen bei dem Herrn Professor Schneider, ich darf doch? Morgen fange ich an.

N.S. Beinahe hätte ich vergessen, Dir zu schreiben, daß Du mir doch eine Kiste mit Kuchen und Wurst schickst. Nellie ist immer so hungrig, wenn wir abends im Bett liegen, und ich auch.

N.S. Lieber Papa, ich kriege immer soviel Schelte, daß ich so ungeschickt esse. Schreibe mir doch, ob das nicht sehr unrecht ist! Der Mama sage nichts davon! Deine Hand drauf! – Fräulein Güssow habe ich sehr lieb.«

Ilses Eltern saßen am Nachmittag mit dem Pfarrer zusammen auf der Veranda am Kaffeetisch, als ihr langer Brief eintraf. Der Gutsbesitzer las ihn vor und wurde bei einigen Stellen so gerührt, daß er kaum weiterzulesen vermochte. »Ich möchte das arme Kind zurückhaben«, sagte er, »es fühlt sich unglücklich, und ich sehe nicht ein, warum wir unsrer einzigen Tochter das Leben so verbittern sollen. – Was meinst du, Annchen, und Sie, lieber Wollert? Wäre es nicht besser?«

Der Pfarrer machte ein höchst zufriedenes Gesicht »Ich bin nicht Ihrer Meinung«, entgegnete er. »Ilse ist bereits auf dem Weg, einzusehen, daß sie noch vieles lernen muß; sie vergleicht sich mit den Freundinnen, erkennt ihre Fehler und die Lücken in ihrem Wissen Wir haben schon mehr erreicht in dieser kurzen Zeit, als ich zu hoffen wagte.«

»Das Heimweh ist natürlich!« fiel Frau Anne ein. »Bedenke nur, wie schwer es einem an die Freiheit gewöhnten Wesen werden muß, sich plötzlich in den Schulzwang zu fügen! Die Regelmäßigkeit des Instituts ist ihrer ungebändigten Natur zuwider; Ilse wird sich zu ihrem Vorteil fügen lernen, ihre Wildheit abstreifen und ein liebes, herziges Mädchen werden.«

Der Oberamtmann war verstimmt, daß man ihn nicht verstehen wollte. Weder der Pfarrer noch Frau Anne überzeugten ihn mit ihren Vernunftgründen. Er urteilte nur mit seinem weichen Herzen, und er litt sehr bei dem Gedanken an sein heimwehkrankes Kind.

Ilses Wünsche wurden erfüllt. Es mußte Kuchen gebacken und die schönste Wurst sowie ein Schinken aus der Rauchkammer geholt werden. Der Oberamtmann packte selbst die kleine Kiste und legte noch allerhand Leckereien hinein. »Not soll sie wenigstens nicht leiden«, sagte er zu seiner Frau, die ihm lächelnd zusah.

Es war an einem Mittwochnachmittag im Monat August. Die erwachsenen Mädchen des Pensionats saßen im Speisezimmer beisammen, stopfend, flickend oder mit anderen Arbeiten dieser Art beschäftigt.

Es war sehr heiß und gewitterschwül, selbst durch die geöffneten Fenster drang kein erfrischender Luftzug.

Ilse hielt ihren Strickstrumpf in der Hand und quälte sich, Masche um Masche abzuheben. Es machte ihr schwere Mühe mit den heißen, feuchten Fingern. Die Maschen saßen so fest auf den Nadeln, daß sie kaum zu schieben waren.

»Ich kann nicht«, sagte Ilse, »die Nadeln kleben so, ich vermag sie nicht mehr anzufassen.«

»Wasch dir die Hände«, rief Fräulein Güssow, »dann wird es besser gehen!«

»Das hilft nicht«, erwiderte Ilse unmutig und legte das Strickzeug vor sich hin.

Ehe noch Fräulein Güssow sie wegen ihres unpassenden Benehmens zurechtweisen konnte, trat Fräulein Raimar in das Zimmer. Sie ging von einer Schülerin zur andern und prüfte die Arbeiten; sie tat dies zuweilen, um Fortschritte zu loben oder auch zu tadeln, wenn es nötig war.

»Nun, wie steht es mit dir, Ilse?« fragte sie. »Hast du deinen Strumpf bald fertig? Zeig ihn einmal her!«

Ilse tat, als habe sie die Aufforderung nicht verstanden, sie schämte sich ihrer schlechten Arbeit.

»Ich will dein Strickzeug sehen, Ilse; hast du mich nicht verstanden?« Die Worte der Vorsteherin klangen streng und hart. Aufgebracht über Ilses Trotz, nahm Fräulein Raimar ihr den Strumpf unsanft aus der Hand. »Ich bin gewohnt, daß meine Schülerinnen mir gehorchen, und du wagst es, dich zu widersetzen? – Seht einmal, Kinder«, fuhr sie fort und hielt mit spitzen Fingern das Strickzeug in die Höhe, »was sagt ihr zu dieser Arbeit? Sieht sie wohl aus, als ob sie einem erwachsenen Mädchen gehörte? Schäme dich! Niemals wieder will ich ein so unsauberes Strickzeug sehen.«

Aller Augen waren auf Ilses Arbeit gerichtet, und einige Pensionärinnen glaubten sich durch die Frage der Vorsteherin berechtigt, ein Wort mitzureden. Die vorlaute Grete meinte, daß ihre kleine fünfjährige Schwester daheim weit besser und sauberer stricke.

Die ästhetische Flora verglich das formlose Ding mit einem Kaffeebeutel, ein Vergleich, der Annemie so zum Lachen brachte, daß sie sich gar nicht wieder beruhigen konnte.

Ilse sah sich von allen Seiten verlacht und verspottet und durfte sich nicht dagegen verteidigen. Ihre unbändige Natur bäumte sich mit aller Macht gegen die, wie sie glaubte, ihr öffentlich angetane Schmach auf. Blinde Wut stieg in ihr hoch wie nie zuvor, sie ballte die Hände und biß sich in die Finger, ihre Augen füllten sich mit heißen, trotzigen Tränen.

Fräulein Raimar hatte bereits das Zimmer verlassen, doch die Tür hinter ihr blieb offen. Die Vorsteherin hielt sich noch auf dem Gang auf. Welchen Aufruhr sie in Ilse heraufbeschworen hatte, ahnte sie nicht; sie würde ihn auch schwerlich begriffen haben, glaubte sie doch fest, durch eine öffentliche Beschämung Ilses Widerstand ein für allemal geheilt zu haben. Wie wenig verstand sie ein leidenschaftliches Gemüt! Gerade das Gegenteil war eingetreten. Ilses Trotz stand in lichterlohen Flammen.