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Die Ströme des Namenlos

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»O, Kind,« sagte sie, »ich glaube, Sie sind ein kleiner Dichter und Schwärmer, und Ihnen ist nicht zu helfen; solche Leute macht man nimmer anders!«

Dann nahm sie ihren Leuchter und nickte mir zu. »Gute Nacht! Und schlafen Sie gleich, ich will es auch so machen!« – Ich lief wie im Traum die Treppe hinauf, legte mich ins Bett und schlief wundervoll fest. Und am Morgen war ich noch im gleichen Traum befangen; immer meinte ich, Gunhild's Hand auf meinem Kopf zu spüren und sah in einem seltsamen Geflimmer ihr schönes, lächelndes Gesicht deutlich und nahe.

Drei oder vier köstliche Tage ging ich in dem seligen Rausch und Halbschlaf, bis ich jäh und traurig davon erwachte. Es war an einem Abend; ich saß mit Urschel unter dem Kammerfenster, träumte vor mich hin und hörte dabei vergnüglich mit halbem Ohr auf ihre munteren Schnurren hin, bis sie auf einmal, über den Fluß hinüberdeutend, sagte:

»Guck einmal, da kommt deine Schneegans – Schneekönigin wollte ich sagen.« –

Da drüben ging Frau Gunhild unter den Kastanien, es war nahe und noch hell genug, um ihr blasses, vornehmes Gesicht zu erkennen, das mir nie so kühl und fremd und abweisend schien wie in diesem Augenblick. Sie trug ein reiches, weißes Kleid, und wie sie so allein mit ihrem sonderbar langsamen Gang durch die abendliche Allee schritt, hatte sie etwas unheimlich Gestorbenes, fast Gespensterhaftes an sich.

Ich weiß nun nicht, was es war: Urschel's blöder Witz oder der Fluß, der so dunkel und tief und trennend zwischen mir und der geliebten Frau war oder ihr verändertes Wesen – mit einemmal zerstob der schöne Traum von dem Lächeln, es wurde mir unnennbar beklommen und jammervoll elend zu Mut, ich stöhnte und lief aufheulend aus der Kammer.

Plötzlich begriff ich, daß ich dieser Frau niemals nahekommen konnte; sie würde mir nie, nie von Herzen zugetan sein, so wie es mein brennender Wunsch war; und ich liebte sie doch so zäh und unablässig und leidenschaftlich, so – wie es nur ein Kind meines Vaters tun kann.

Ich lag ein paar Stunden in einem Winkel unter dem Dach, ganz verstört und zerschlagen, mein Liebesjammer schüttelte mich wie ein körperlicher Schmerz, dazwischen stöhnte ich und schrie leise ihren Namen, bis ich endlich erschöpft und still und todestraurig zu Bette ging.

– Ich mochte vielleicht eine Viertelstunde gelegen sein, als leise meine Tür aufging und Urschel hereinkam. Sie setzte sich stillschweigend zu mir aufs Bett und fing an, ganz sanft und tröstend einschläfernd auf ihrer Mundharmonika zu spielen.

Ich mußte in all meiner Betrübnis lächeln. Der Tollpatsch konnte doch rührend lieb sein! Ich ließ sie eine Weile spielen; das Dunkel der Nacht, die warme Nähe eines Menschen, der mich zu trösten versuchte und die sanfte Musik gingen mir streichelnd über die erregte Seele, bis ich langsam ruhiger wurde.

Als sie aufhörte, zog ich sie neben mich aufs Kissen und erzählte ihr leise meine ganze Liebe zu Gunhild, vom ersten Blick an bis dahin, wo sie zu mir sagte, ich sei ein Dichter und gehöre somit zu einem Menschenschlag, bei dem eben in Gottesnamen das Schwärmen und Spinnen und Sinnieren zum Handwerk gehöre und nichts dagegen zu tun sei. Da unterbrach sie mich.

– »Die Gunhild ist ein Ladstock! Bilde dir nur ja nicht ein, du seist etwas Besonderes oder gar etwas Rechtes. Du bist so ein kreuzfades Gestell, daß du einem bloß leidtun kannst. Ich kann's jetzt nimmer länger mit ansehen, du wirst ja krank dabei. Von jetzt ab gehst du alle Sonntage mit mir in den Wald, – abends will ich dich tanzen lehren und morgen früh wecke ich dich um fünf Uhr zum Nachenfahren und Baden, daß deine Grillen versaufen, und im Winter laufen wir Schlittschuh und fahren die Steige hinunter, bis dir der Dusel vergeht. Kannst du schwimmen? Ja? – Ach, das ist dein erster gescheiter Gedanke!« – – –

Am Morgen gingen wir in einer tauigen, kühlen Frühe vor die Stadt hinaus, Urschel pfiff durch die stillen Gassen, daß hie und da ein verschlafener Kopf spähend an den Scheiben erschien. Hinter einem Weidenbusch zogen wir uns aus; mit einem hellen Juchzer warf sich Urschel in das Wasser und war mit ein paar Zügen mitten im Fluß, indes ich noch langsam vom Ufer abstieß. Ein herbes Lüftlein wehte vom Wald herunter, der blauschwarz zu Seiten des heiteren Tales stand; die erste Sonne lag wundervoll in glänzenden, wogenden Lichtern auf dem Fluß, die Tropfen glitzerten und Urschel kam vom anderen Ufer herübergerudert mit einem gestohlenen Nachen, frisch und lachend wie der junge Tag.

Da lief mir das Herz über von einer lang verhaltenen Fröhlichkeit, meine ganze zurückgedämmte Jugend schoß mir wie ein toller Uebermut in alle Glieder; ich kletterte zu Urschel ins Boot und sang mit Macht ein Schifferlied in den wonnigen Morgen hinaus. Wir schnellten über das Boot hinunter wie die Fische, daß das Wasser hoch über uns zusammenschlug, wir pusteten in die Höhe, strampelten springende Tropfen gegen die Sonne, spazierten über das Wehr, wo uns das Wasser reißend über die Füße lief, und als die Sonne kräftiger wurde, lagen wir faul im Boot, ließen uns sachte stromabwärts treiben und sahen helle Wolken über den Himmel gehen.

Auf dem Heimweg stiegen wir über einen Gartenzaun, stahlen zwei taufrische Rosen und steckten sie uns an die Blusen. Wir machten uns über die Weckensäcklein lustig, die an den verschlossenen Haustüren hingen, sahen den Briefträger die Postkarten lesen, ehe er sie in den Kasten warf; wir schellten Sturm an fremden Glockenzügen und verschwanden ungesehen in verschwiegenen Gassen.

Und am Abend trugen wir das Licht auf die Bühne hinauf, Urschel fing an zu pfeifen, einen Walzer nach dem andern, tanzte großartig und riß mich in einen prachtvollen Schwung hinein.

Als ich an jenem Abend endlich im Bette lag und mir das Herz noch klopfte von Tanz und Leichtsinn, als ich noch einmal den ganzen köstlichen Tag überdachte von dem morgensonnigen Wasser an bis zu dem nächtigen Freudenfeste, da war es mir, als sei ich der Welt urplötzlich nahe gekommen und liege dem lieben, reichen, warmen Leben selig an der Brust.

Und ich konnte mein Gefühl nicht anders unterbringen, als in einer großen Dankbarkeit gegen Urschel, der ich von dem Tage an nachlief wie ein Hündlein.

Es gab nichts kurzweiligeres und unterhaltenderes als ihre Stube. Sie war größer als meine und hatte zwei Fenster, die auf die Dachrinne hinausliefen, wo Urschel in alten Milchhäfen, Schnittlauchkisten, an Schnüren und Stäbchen einen unglaublich üppigen Blumenflor zog. Die Wände waren von oben bis unten mit Bildern, Photographien, Zeichnungen und Postkarten tapeziert, was dem Raum ein ungemein reiches, buntes Aussehen gab. Die Bilder waren meist Ausschnitte aus Zeitschriften: südliche Landschaften, Vögel, Blumen, Schmetterlinge, die mit mehr Vorliebe für prächtige Farben als mit gutem Geschmack ausgewählt waren. Ueber dem Bett hingen in verblüffender Zusammenstellung die drei erklärten Auserwählten Urschel's: Kopernikus, Schiller und – Zeppelin. Woher sie den Kopernikus hatte, weiß ich nicht; es war ein schöner, alter Kupferstich und ihren Andeutungen nach vermute ich, daß sie ihn einer früheren Herrschaft, bei der er unbeachtet in einer Bühnenkammer lag, gestohlen hatte. Die drei Herren sahen urkomisch aus, wie sie so einträchtig über dem Mägdebett hingen; Kopernikus in der Halskrause, Schiller im offenen Kragen, Zeppelin modern geschnigelt. Ihn verehrte sie wohl am heißesten; sie interessierte sich glühend für Flugtechnik und zeigte mir verschämt in einem verborgenen Schächtelchen den Grundstock zu einer Luftschiffreise, die zu ihren glänzendsten Zukunftsplänen gehörte. Es waren, glaube ich, damals sieben Mark und zweiundzwanzig Pfennige. Auch hing an einem Faden von der Decke herab ein kleines Flugzeugmodell, wie es Knaben zum Spielen haben und sie strich oft zärtlich versunken über die Räder und Propeller. Auf ihrem Tisch lag stets aufgeschlagen der große, schöne Atlas, der mit dem Globus zusammen wohl ihr wertvollstes Besitztum bildete. Auch hatte sie eine Masse loser Landkarten und eine Sternkarte, die ihr aber später einmal, als sie nachts bei einer astronomischen Betrachtung unter dem Fenster saß, entfiel, im Fluß versank und durch keine andere ersetzt wurde.

Vom ersten Frühjahr bis in den Winter hinein hatte sie das ganze Zimmer voller Blumensträuße stehen, deren Pflege und Erneuerung ihr viel Arbeit machte, da sie nie einen welken duldete. Daneben versorgte sie noch eine Schildkröte, einen Raupenkasten und einen Stieglitz, der zwischen den Fenstern in einem grünen Käfig hing; und weil ihr die Stube immer noch nicht voll und belebt genug war, hatte sie ihre volkstümlichen Musikinstrumente fein malerisch auf Tischen und Stühlen ausgebreitet: Laute, Zither, Ziehharmonika und ein Piston mit schauerlichem Ton, das sie aus Pietät für ihren Großvater, der es geblasen hatte, als einziges Andenken von zu Hause mitgebracht hatte.

Am kuriosesten waren ihre Bücher, auf drei, vier Kistenbrettern stand da, neben Schillers schön gebundenen Werken, eine zerfetzte, dreckige Indianergeschichte: der letzte Mohikaner oder Rosa, die Prärieblume; neben Tacitus' Germania ein modernes Experimentierbuch für Knaben, sowie die Sagen des klassischen Altertums und ein naives, schwäbisches Liederbüchlein mit derartigem Inhalt:

 
»Was nützet mir mei' neus Paar Stiefel,
Wenn's andere drin spazieren gehn!
Und treten's mir die Absätz' ab –
Vallera, vallera!«
 

Geschichtliche Erzählungen las sie am liebsten; sie konnte oft ihren ganzen Monatslohn ausgeben, um neue zu kaufen, wie denn überhaupt Geschichte ihre gründlichste und ernsteste Liebhaberei war. Ich lieh ihr einmal ein Buch, das ich mir um zwei Mark gekauft hatte: ein süßlich modernes, äußerst heikles Werkchen eines anerkannten Schriftstellers, das mir sehr gefiel und schon halb in Fleisch und Blut übergegangen war.

 

Sie brachte es mir mit verächtlicher Miene zurück. »Blech!« sagte sie, »weißt du – das war früher doch noch eine andere Schreiberei als jetzt. Da schrieb man Geschichten und Schicksale der Völker und Stämme und allein Helden und Könige wurden es gewürdigt, einzeln hervorgehoben und beschrieben zu werden. Und heutzutage befaßt sich so ein Kerl da seitenlang mit den Gefühlen eines Kindes im Mutterleib! Ach, ich kann das gar nicht leiden!«

Und in der hellen Teufelei warf sie das Buch zum Fenster hinaus in den Fluß, rief feierlich: »fahr wohl!« nach und rannte lachend zur Tür hinaus.

Das war mir zu bunt, ich rief ihr zornige, empörte Worte nach; ich kaufte mir meine Bücher, weiß Gott, auch nicht gerade zum ins Wasser schmeißen; sie nahm mir's übel, und wir bekamen bittere Händel; bis sie nach ein paar Tagen, wie es so ihre Art war, mitten in der Nacht halb angekleidet plötzlich vor meinem Bett erschien, mich umarmte, küßte, streichelte und mit einer Nelke, die sie an langem Stiel zwischen den Fingern hielt, halb tot kitzelte.

»Filzläusle, Herrgottskäferle, Schweinebrätle!« sagte sie zärtlich, »bockst du immer noch?« – und dann küßte sie mich aufs neue.

»Agnes, ach Agnesle, mög' mich doch wieder! Ich will's nimmer tun. Komm, ich will dir eine Geschichte erzählen: In Stuttgart war einmal einer Soldat, der hatte fünf Schätze; eine Köchin, eine Kellnerin, eine Zimmerjungfer, die ihm seine Wäsche wusch, eine Näherin, die sie ihm flickte, und eine Nette, Kleine – zum Gernhaben. Getreulich alle fünf Sonntage besuchte er wieder die gleiche und entschuldigte sich mit Wache und Stubendienst. Als nun seine zwei Jahre herum waren, kam er in eine große Verlegenheit und hätte sie gern alle wieder losgehabt. Da bestellte er sie am letzten Sonntag alle miteinander auf den Alten Postplatz vor die Kaserne an das ganz gleiche Plätzchen.

Erst stehen sie wohlwollend beieinander und fragen einander nach ihrem Schatz; – da kommt die ganze Geschichte heraus, sie fahren einander in die Haare, und zornwütig schieben sie ab, die eine die Rotebühlstraße hinauf und die andere hinunter, eine die Poststraße hinunter und eine die Calwerstraße hinüber, die fünfte aber die Gartenstraße hinauf, dieweil nämlich der Alte Postplatz in Stuttgart, just wie dafür geschaffen, fünf Ausgänge hat. Der ungetreue Schatz aber sah es von der Kaserne aus und lachte sich die Haut voll.

Magst du mich jetzt wieder? Immer noch nicht? – Ich will dir noch etwas erzählen. Wir haben zu Haus einen Tisch, bei dem das eine Paar Füß' kürzer ist als das andere. Mein Großvater wollte partout immer am kurzen Ende sitzen und endlich gestand er uns den Grund. »Wisset ihr, Kinder,« sagte er, »wenn's Welschkornbrei gibt, lauft alle Schmälze auf meine Seit'!«

Was, du lachst? Wart, es ist mir noch etwas eingefallen! In der Kochschule seinerzeit hatten wir eine Lehrerin, die hochdeutsch sprechen wollte und es nicht konnte. Etwa so: »Urschula, hannen Sie den Spatzenteig jetzet fertig? – Urschula, es ischt Ihnen ebbes nagefallen! – Urschula, mit Ihnen muß man sich z'tot ärgren!«

Einmal sollte beim Nachtessen eine Wurst übrig bleiben, wurde aber aus Versehen scheint's mitgegessen. Da schnaufte sie wütig an den Tischen auf und ab: »Wer hat zwei Wurschten gegessen? Es muß ebber zwei Wurschten gegessen han!« Das schlimmste aber war, daß wir's ihr nachmachten und zwar so arg, daß wir bald nimmer anders konnten und uns die Fräulein-Schneider-Sprache herausfuhr, wo wir besser anders gesprochen hätten! Es hat mich nämlich einmal ein Herr um den Weg gefragt, und ich sagte, ohne etwas dabei zu denken: »Gangen Sie nur selle Stafflen dort na!«

Dabei kitzelte sie und zwickte sie mich fortwährend und fuhr mir mit der Nelke im Gesicht herum, daß ich fast erstickte vor Lachen.

»Hast du mich jetzt wieder lieb, Agnesle?« fragte sie sanft und hielt mir die Nase zu. »Ja,« schnappte ich, und sie ließ sogleich fahren, küßte mich herzlich auf den Mund und rannte fort, ihre Ziehharmonika zu holen, auf der sie mir dann noch bis spät in der Nacht Volkslieder vorspielte und mit ihrer weichen, schönen Stimme dazu sang. Sie saß auf meinem Bettrand und ihre bloßen Füße wippten den Takt dazu.

– Wir gingen an den hellen Sommerabenden oft noch hinauf in die Wiesen und Felder, brachen Sträuße von Kornblumen und lagen an rot versonnten Hängen, lachten, sprachen, sangen oder waren still und sahen die Sonne untergehen. Dann liefen wir in der lauen Dämmerung ins Städtlein hinunter, bummelten durch die Gassen und Alleen, standen oft lange auf der Brücke und träumten den ziehenden Wellen nach oder fuhren still im Nachen noch ein Stück weit den Strom hinunter, bis die Nacht gesunken war. Daheim in Urschels bunter Stube begann dann erst das rechte Leben; wir misteten den Tieren, besorgten die Blumen, sprangen in der Stube herum, rauften wie die Buben und seiltänzerten in der Dachrinne, und wir tanzten, sangen und musizierten, erzählten einander Geschichten und schauten in den weiten gestirnten Himmel hinaus.

Wir saßen halbe Nächte lang über dem Atlas, dachten uns die Herrlichkeiten der südlichen Länder aus und litten ungebärdige Sehnsüchte darnach; wir lasen mit glühenden Gesichtern Reisebeschreibungen, Weltgeschichte und populäre Schriften über Technik und Chemie. Unermeßliche Gründe taten sich auf vor unsern Augen, Völker erstanden und zerfielen wieder, Schicksale brausten wie Stürme durch die Länder, und die Zukunft lag vor uns wie ein unendliches, schimmerndes Meer, das uns voll Größe und Ungestüm entgegenbrandete. Tausend Himmel und Welten erschlossen sich uns, von Wundern und Schönheit und gewaltigem Leben erfüllt, daß wir zitternd und scheu davor standen, und doch in der überquellenden Lust unserer jungen Jugend uns dazu berufen glaubten, alle diese Welten zu erfassen und alle Schönheit des Lebens zu besitzen, und wir spürten den Drang und die mächtige Kraft dazu in uns.

– Dieses weite, reiche Leben, das ich wie einen köstlichen Vorgeschmack meiner Zukunft genoß, zog mich so in seinen Bann und erfüllte mein ganzes Herz, daß meine unselige Schwärmerei für die schöne Gunhild bald verblaßte und ich wieder unbefangen mit ihr reden und verkehren konnte; es blieb nur eine dankbare, leise Wohligkeit zurück, die ich jedesmal empfand, wenn ich ihr nahe war oder wenn sie mich ansah. – – –

So gegen den Herbst und Winter hin wurde Urschel immer lebendiger und toller, es schäumte in ihr wie ein brausender, junger Most, und es kribbelte ihr in allen Fingerspitzen von Streichen und Teufeleien. Sie kaufte sich Feuerwerk und Frösche, die sie zu nachtschlafender Zeit in fremder Leute Gärten losließ, sie ließ mit den Buben Drachen steigen und spielte eine halbe Nacht lang unter des Dekans Schlafzimmerfenster auf ihrer Mundharmonika die gleiche Schauermelodie wohl fünfzig Mal hintereinander, um den frommen Herrn aus der Fassung zu bringen. Auf Staatsbeamte überhaupt hatte sie einen unerklärlichen Pick, in diesem Punkt war sie vollkommen Zigeunerin.

Da sie aufs Luftschiffahren vorderhand verzichten mußte, mietete sie sich ein Fahrrad und übte abends vor dem Haus mit großem Geschick. Dabei kam sie einmal zu Fall und verstauchte den Fuß. Sie schämte sich, es mir zu sagen, hinkte in ihr Bett und versuchte, sich allein zu kurieren. Als ich morgens nach ihr sah, fand ich den Fuß bös geschwollen und mit einer unheimlichen Salbe dick beschmiert.

»Was ist das?« fragte ich entsetzt.

»Hundsschmalz! Es hilft immer!« sagte sie überzeugt.

Es half aber diesmal nicht, und Urschel mußte eine gute Zeit lang im Bett bleiben. Ich habe jene Tage noch wohl im Gedächtnis; es ist mir, als habe sie sich nie liebenswürdiger, witziger und heiterer gezeigt als damals.

Manchmal lag sie den ganzen Tag still und spielte Mundharmonika oder schnitt Papierpuppen aus, mit denen sie auf ihrer Bettdecke Schillers Dramen aufführte; auch konnte sie großartig Karikaturen zeichnen; ich habe mir damals eines dieser Blätter ausgebeten und bewahre es mir noch heut. Es zeigt die schöne Gunhild und mich als schmachtende Anbeterin unter einem Regenschirm, auf dem ein Amor sitzt und uns beide am Bändel hält.

Immer aber war Urschel am Abend, wenn ich zu ihr hinaufkam, zum Platzen voll von lustigen Einfällen und Geschichten, auf die sie sich den einsamen Tag über besonnen hatte. Ach, was haben wir damals zusammen gelacht! Sie zeigte mir ihre vielen Narben und Schrammen, die sie am Leib herum trug und die sie sich alle durch ihren bodenlosen Leichtsinn auf ähnliche Weise wie den bösen Fuß zugezogen hatte; zu jeder wußte sie ein witziges, romantisches Anekdötlein zu erzählen.

»Ich habe so oft mit dem Tod gespielt, immer mit dem tröstlichen Gedanken: Unkraut verdirbt nicht! Es ist auch wahrhaftig wahr. Bis auf ein Närblein und ein Blau-Mal hat es mir nie etwas getan. Nun bin ich doch gespannt, ob ich, wenn ich einmal ernstlich den Tod suche, auch wirklich umzubringen bin! Ich glaube eben, der Tod will mich nicht. –«

»Weißt du,« fuhr sie fort, »wenn ich mir einmal das Leben nehmen will, steige ich an einem schönen Tag auf einen Kirchturm, ganz hoch hinauf auf die oberste Brüstung, tue die Arme auseinander und springe hinunter. Dann habe ich mein Gelüste gebüßt.«

Von ihrer Kindheit wußte sie in so glühenden Farben zu erzählen, daß mich nachträglich noch der helle Neid stach, weil ich nichts dagegen aufzuweisen hatte, als etwa den alten Kirchhof. Als ich ihr's sagte, zog sie mich zu sich aufs Bett und streichelte mich.

»O du armer, armer Tropf du! Hat einen Kirchhof voll Begrabener zur Unterhaltung gehabt! – Der Herrgott sollte dich nachträglich noch um Verzeihung darum bitten, daß er dich um das alles, was du damals hast entbehren müssen, betrogen hat!«

Damals haben wir auch zusammen Scheffels Werke gelesen. Urschel war außer sich vor Freude darüber. Der Ekkehard lag von da ab immer unter ihrem Kopfkissen, und ich kann sie mir nie schöner und seelenvoller denken, als wenn sie mit mir durch den Wald lief und ein Lied dieses ihres Lieblingsdichters in die Bäume hinaufsang.

Im Winter liefen wir Schlittschuh und schlittelten verbotene steile Steigen hinunter. Einmal wurden wir ertappt und von einem Polizeidiener gehörig heruntergeputzt. Urschel lachte ihn aus und fuhr am nächsten Abend wieder dort; da kam sie in des Polizeidieners Buch und mußte zehn Mark Strafe zahlen. In der hellen Wut stieg sie in des dicken Amtsrichters Garten und schuf von dem frisch gefallenen Schnee ein köstlich getreues Abbild des gestrengen Herrn mit einem gewaltigen Bauch und setzte ihm ein Narrenkäpplein auf. Sodann aber sammelte sie die zehn Mark in einzelnen Pfennigen, packte sie säuberlich zusammen und schickte sie aufs Rathaus.

»Ich möchte dabei sein, wenn sie's zählen,« rief sie grimmig vergnügt.

– Am Sylvesterabend saßen wir in meiner Stube, die einen Ofen hatte; wir tanzten, brauten ein Pünschlein, und als es gegen Mitternacht ging, gossen wir Blei. Zuerst kam ich: ein längliches, dünnes Stücklein schwamm in der Schüssel.

»Ein Wanderstab,« meinte Urschel.

»Es kann auch ein Federhalter sein,« sagte ich nachdenklich.

 
»Laß das Dichten, sag's in Prosa!
Was du weißt, dös ka'scht au so sa!«
 

sprach Urschel feierlich.

Als sie dran kam, lag ein wunderliches, geschnäbeltes Gebilde im Wasser. »Ein Storch!« schrie sie erschrocken; denn sie war furchtbar abergläubisch. Ganz vernagelt sah sie auf meinen Fenstersims; als die Glocken durch die klare Winternacht läuteten, bekam sie wieder Mut. – »Ach was, es hat nicht gegolten!«

Und sie goß noch einmal. Als es dann so etwas wie ein Herz war, war sie zufrieden.

Die Nächte vor Fastnacht tanzte sie durch. Sie war auf jedem Maskenball, in einem Spanierkostüm, das ihr zu den schwarzen Haaren prächtig stand. Morgens um fünf Uhr kam sie heim, schlich leise wie ein Vogel die Treppen herauf, küßte mich lachend wach und warf mir Konfetti übers Bett. Sie war sehr, sehr hübsch in diesen Augenblicken, wenn sie mit dem Treppenlämpchen auf mich herableuchtend, in dem fremdartigen Kostüm vor mir stand, strahlend vor Lust und Leichtsinn.

Auf einmal, im März, als der Schnee taute, hatte sie einen Schatz. Er war ein Schulmeister und sie hatte ihn an der Fastnacht kennen gelernt. Ich bekam ihn lang nicht zu Gesicht; endlich an einem Sonntag im Mai ging ich mit den beiden spazieren. – Er hatte lange strohblonde Haare und ein hübsches, freches Gesicht, das mir nicht recht gefiel. Besonders in seinen Augen lag ein Ausdruck, den ich mit dem besten Willen nicht von dem Funkeln unseres Katers unterscheiden konnte, wenn er in Frühjahrsnächten zu seiner Kätzin ging.

Ich sagte es ihr, aber sie entgegnete nichts. Ein paar Tage drauf, an einem ungewöhnlich heißen Maimorgen gingen wir zusammen zum Baden an den Fluß.

 

Urschel war seltsam verstimmt. »Was hast du?« fragte ich.

»Ich sag dir's auf dem Wasser,« sagte sie verbissen.

Als wir miteinander mitten im Fluß schwammen, stupste ich sie. »Jetzt sag's!«

Da fuhr sie auf mich los wie eine wilde Katze, tunkte mich und riß mich wieder herauf. »Du Luder, du scheinheiligs, was geht dich mein Schatz an? Hab ich dich drum gefragt? Braucht er denn dir zu gefallen, du Krott, du elende! Wart, dich will ich dein böses Maul halten lernen!« Und sie schüttelte mich wie toll, riß mich unters Wasser und saß mir im Genick, daß mir Hören und Sehen verging.

»Willst du noch einmal etwas gegen den Schulmeister sagen?«

»Nein,« – sagte ich schwach und schwamm, als sie mich losließ, schnell ans Ufer und ging schwer empört und beleidigt heim.

Ich schaute sie ein paar Tage nicht an; aber sie fehlte mir unbeschreiblich und ich beschloß, meine zweite Freundin nicht wieder wie die erste um einer Liebschaft willen zu verlieren. Auch gefiel es mir, daß sie ihren Schatz so streitbar verteidigt hatte, und es dünkte mich, wohl so das Rechte zu sein, wenn man eine Liebschaft habe.

Dann versöhnten wir uns wieder. Urschel war herzlich und lieb, und ich mußte ihr versprechen, am nächsten Sonntag mit ihr und dem Lehrer spazieren zu gehen.

Nie war sie toller und ausgelassener als an jenem Nachmittag. Wir gingen einen schönen Weg durch Wiesen und heiteres Land, und Urschels hellblaues Kleid leuchtete festlich zwischen dem jungen Grün. Sie lachte und schwätzte in einem fort, hatte den einen Arm um den Blonden und den andern um mich gelegt und erzählte Geschichten, daß uns die Tränen kamen vor Lachen.

In einem Wirtsgarten aßen wir zu Abend, tranken roten Wein dazu, und als Urschel vom Haus her Tanzmusik hörte, tat sie einen Schrei vor Entzücken und riß uns lachend und glühend mit hinein.

Spät in der Nacht kamen wir heim; unten vor dem Hause hatten die beiden Verliebten noch ein Geflüster und Heimlichtun miteinander, das kein Ende nehmen wollte. Schließlich schloß ich das Haus auf und machte mich daran, allein hinaufzugehen. »Ich komme gleich nach!« rief Urschel, und der Blonde grüßte.

Dann lag ich ärgerlich in meinem Bett und horchte in die Dunkelheit hinein, bis ihr leichter Schritt die Treppe heraufkäme. Und dann plötzlich war draußen ein Geräusch und kurz darauf in Urschels Kammer ein leises Lachen. Ich sprang auf, lief vor ihre Tür und rüttelte an der Klinke.

»Urschel!«

Es blieb alles totenstill.

Da wurde es mir auf einmal ganz elend und schwer in allen Gliedern; ich lief in meine Kammer zurück, schloß die Tür hinter mir zu und lag dann schluchzend in meine Kissen vergraben, bis ich mich in Schlaf geweint hatte. Von Urschels Kammer nebenan war kein Ton mehr zu mir gedrungen.

– – – Von jenem Sonntag an konnte ich mich nimmer über Urschel beklagen. Den Blonden schien sie vergessen zu haben; sie war nur noch für mich da, hielt mich umschlungen, wenn wir abends unterm Fenster saßen und spielte mir meine Lieblingslieder vor. Oft, wenn ich morgens erwachte, sah ich sie in einem erschöpften Schlaf mit verweinten Augen vor meinem Bett auf dem Boden liegen, und wenn ich sie erschrocken weckte und befragte, küßte sie mich:

»Ach, ich möchte eben immer bei dir sein!«

Sie wurde noch fleißiger als vordem, zart und leise, und ihr Gesicht war voll schmerzlich beseelter Schönheit; alles Wilde und Törichte fiel von ihr ab. Sie nahm ihre vielen Bildchen von den Wänden und verschenkte sie. Den Stieglitz ließ sie fliegen, und die Schildkröte setzte sie in einen Garten, daß Kinder sie finden konnten. Mir blutete das Herz, wenn ich die fröhliche Stube so zerstört sah; sie streichelte mich aber und fragte mit traurigem Lächeln: »Gelt, ich bin arg dumm gewesen früher! Jetzt bin ich gescheit; ach, so kalt und grausam gescheit. Ich weiß jetzt alles!«

Nur die drei Mannen über dem Bett blieben hängen in der ganzen Größe ihrer Unsterblichkeit.

Dann kam jener schöne traurige Abend im Juli. Urschel brachte eine Düte mit großen, schwarzen Kirschen, wir saßen im Abendschein unter ihrem Fenster, aßen und spuckten die Steine weit hinaus.

»So ist es schön, Kirschen zu essen; an einem offenen Fenster, worunter ein Fluß vorbeifließt, daß die Steine ungesehen verschwinden,« sagte sie und fing dann so unters Essen hinein leise zu erzählen an, von Kirschbäumen in ihrer Heimat, von dem Stieglitz und von den Seiltänzern.

»Du Agnes,« sagte sie dann traurig, »ich werde doch wohl keine Zigeunerin sein. Ich glaube, ich bin zu sauber dazu; ich kann den Schmutz nicht an mir leiden.«

Nach einer Weile fragte sie ganz unvermittelt: »Weißt du, was die alten Deutschen mit ihren schlechten Dirnen gemacht haben? Es ist mir so, als hätten sie sie in den Sumpf gejagt. –

Weißt du's nicht?«

Ich schüttelte verwundert den Kopf und meinte, ich könne ja in irgend einem Buch nachschlagen.

»Nein, laß nur,« sagte sie. »Es wird wohl stimmen mit dem Versäufen!« Darauf seufzte sie leise und schwieg.

Später, als es dunkel war, gingen wir noch zusammen an den Fluß hinunter. Es war eine wundersame stille Nacht, Brücke und Wasser lagen schimmernd im feierlichen Lichte des Mondes, über uns aus dem tiefblauen Grunde brachen die Sterne so groß und deutlich leuchtend, daß Himmel und Erde einander nahe gekommen schienen in schweigender Schönheit.

Wir saßen auf der Brücke, ergriffen von dieser Nacht, deren mächtige, stumme Sprache in uns weiterredete, lauter und unbezwinglicher als in all der Zeit, seit wir uns kannten. Ich legte mein Gesicht in ihren Schoß, große, warme Tränen fielen aus den lieben Augen darauf nieder; sie trocknete mir's mit ihrer Schürze und liebkoste mich stumm und innig.

Als wir dann aufstanden und weitergingen, sagte sie leise: »Du bist ein guter Kerl, Agnes. Aber ich glaube, du hast zu wenig dumme Streiche in deinem Leben gemacht. Das ist nicht gut.«

Dann lachte sie. »Ich habe die meinigen gemacht und sie haben mich genug gedrückt. Aber jetzt sind sie alle so leicht geworden, und wenn ich in den Himmel komme, fliegen sie lustig und gemütlich wie Pfeifenwölkchen um meine arme Seele herum, daß der liebe Gott lachen muß und das Schimpfen vergißt.«

Wir machten ein Boot los und fuhren noch bis Mitternacht auf dem glänzenden Wasser, dann ruderte sie mich ans Ufer und bat mich, heimzugehen, sie wolle später nachkommen.

Und als ich ans Land steigen wollte, da riß sie mich noch einmal ins Schifflein zurück, preßte meinen Kopf an ihr Herz und küßte mich heiß und zitternd wie in Angst und Leidenschaft.

»Sei doch nicht so wild und so wunderlich, – du. Du machst mir ja Angst,« sagte ich. »Komm, wir wollen uns die schöne Nacht nicht verderben!«

»Ja, – ich bin gleich ruhig. Aber,« und dann fing sie auf einmal an, leise zu lachen, »wenn ich nun zum Beispiel heute Nacht ins Wasser spränge, – gelt, dann käme das Amtsgericht um die fünfundzwanzig Mark Strafe, die ich noch schuldig bin? Ach, das täte mich noch in der Ewigkeit freuen!«

Sie wurde aber gleich darauf wieder ernst und still und in ihren Augen waren Tränen.

Dann half sie mir ans Land steigen, bot mir zum Abschied noch beide Hände herauf und sagte leise: »Gute Nacht, Agnes. Wenn du einmal nach Spanien kommst, sag einen Gruß von mir!« Darauf stieß sie ab und blickte nimmer zurück.

Ich schritt langsam heim und war sonderbar ergriffen. Aber nicht traurig wie in jener andern Nacht, da Urschel den Blonden mit zu sich heraufgenommen hatte, sondern glücklich und von einer tiefen, dankbaren Freude erfüllt, darüber, daß ich einen solch schönen, köstlichen Menschen zum Freunde hatte wie meine Urschel. Noch vor dem Einschlafen fuhr ich über meine Wange, wo ihre Tränen und Küsse hingefallen waren und nannte zärtlich ihren Namen.