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Die Ströme des Namenlos

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Eine dunkle, rote Welle lief ihr über das Gesicht.

»Ach, das ist schon lange her!« –

»Ja, aber, du hast damals doch nichts mehr von mir wissen wollen, das ist jetzt immer noch das gleiche!«

Da tat sie einen ihrer schönen, vollen Blicke herüber und sagte langsam:

»Weißt du, Flaig, es ist nicht das gewesen, daß ich erfahren habe, daß deine Mutter nur eine Magd war und daß dein Vater – krank ist –, ich hätte es gern der Maier nun erst recht gezeigt, daß ich mit dir verkehren will. Aber es kam mir so ein bißchen prahlerisch und verlogen vor und ich mußte nun bei jedem Aufsatz, den der Rektor von dir vorlas, denken: was die wieder zusammenlügt! Aber gelt –« das sagte sie ganz leis und wurde wieder rot dabei, als müßte sie sich schämen, »du hast nur mich angelogen, daß ich nimmer so verächtlich sein sollte und so ekelhaft geringschätzig, wie ich immer war, als wäre ich etwas Besseres als du?«

Ich nickte schweigend und sah weg. Da bot sie mir die Hand hin.

»Gelt, du bist mir nimmer böse deshalb. Wir haben den gleichen Heimweg bis zum Berg hin; da können wir jetzt jeden Tag zusammen heimgehen.«

Ich schwieg immer noch und ließ mich von ihr führen, und jetzt wurde wieder die höhnische Stimme von vorhin in mir laut: »Ja, gelt, –« dachte ich, »jetzt kannst du dir Mühe um mich geben. Schwätz du nur; das ist jetzt grad recht.«

»Hast du Schmerzen in deinem Kopf,« fragte sie nach einer Weile.

»Ja,« sagte ich, und es war nicht gelogen.

»Was kann man denn tun?« fragte sie ratlos. »Soll ich ein Taschentuch an einem Brunnen naß machen und es dir herumlegen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, laß nur, es hat doch keinen Wert.«

Halbwegs an der Steige war eine Bank, da lief ich drauf zu und setzte mich erschöpft drauf hin. Sie stand vor mir und streichelte meine Hand. »Jetzt kannst du streicheln,« dachte ich wieder, »vorher hättest du mich anspucken können vor Verachtung,« und ich zog meine Hand schnell weg.

»Kannst du jetzt wieder weitergehen?« fragte sie ängstlich. »Oder soll ich dich tragen? Ich habe schon Kraft.«

»Das habe ich vorhin im Schulhof gemerkt,« sagte ich und lächelte. Da wurde sie wieder rot. Ich sah, wie sie mit sich kämpfte und blaß und wieder dunkel wurde und mit einemmal neben mir saß und ihre Arme um meinen Hals legte.

»Du, Flaig,« sagte sie leis, »du mußt nicht meinen, ich tue so, weil ich meine, ich könne damit meine Grobheit von vorhin wieder gut machen. Aber wie du im Schulhof gelegen bist und geweint hast, habe ich dich auf einmal lieb gehabt. Man hat gut gemerkt, daß das nicht wegen den Schmerzen war, sondern um – weil einen halt jemand gekränkt und mißachtet hat. Und ich hab gedacht, ob die Maier oder die Klara Eiselen wohl auch geweint hätten, wenn ich nichts von ihnen gewollt hätte. Oder wer das überhaupt getan hätte. Und da wußte ich einfach, daß ich dich lieb habe, und daß du mehr wert bist als die Maier und die Eiselen zusammen, weil du um meine verlorene Freundschaft so traurig sein kannst. Und gelt, – du Flaig, wie heißt du mit deinem Vornamen?«

»Agnes!«

Da fuhr sie ganz liebreich und sanft über meinen Kopf und sagte ein paarmal: »Agnes, Agnes, Agnes! Ich möchte so arg gern deine Freundin sein, und daß du mir alles sagst, wenn du traurig bist, und wie du deine schönen Aufsätze machst und an was du immer denkst, wenn du so zum Fenster hinausschaust und beinah deine Augen zumachst.«

Es war mir schwach und glücklich zu Mut. Ich spürte, wie immer mehr Blut von meinem Haar herunterlief. Ich strich mir über den Kopf und sagte: »Es tut mir so weh und so wohl. Es war eigentlich fein, daß du mich hingeschmissen hast.«

Dann gingen wir ganz langsam weiter, und sie führte mich fest. Als wir unser Haus sahen, dachte ich, ich müßte mich schämen, wenn sie in unsere ärmliche Stube hineinkäme und vollends, wenn mein Vater grad da wäre und die Werkstattüre offen. Deshalb sagte ich zögernd und verlegen: »Jetzt komme ich ganz gut vollends heim, Gräther. Weißt du, es ist so wüst bei uns, und dann –«

Sie begriff sofort. »Also, ich wünsche dir, daß es recht schnell heilt und du bald wieder in die Schule kannst. Wie schön und frei euer Haus da droben liegt in den Bäumen, man muß herrlich ins Tal heruntersehen können.«

Dann gab sie mir herzlich die Hand. »Adieu, Agnes!«

Ich erinnere mich, daß das die schönste Krankheit meiner Jugend war, die nun folgte. Die Wunde war tief und heilte sehr langsam. Aber es tat nimmer sehr weh, und ich lag oben in meiner Kammer unter dem Dach, hörte nichts als gelegentlich ein Schwätzen oder Weinen meiner kleinen Geschwister herauf und die Glocken von der Stadt in der Ferne schlagen. Die Gräther achtete meinen stillen Wunsch, nicht in unser Haus zu kommen, mit einem vornehmen Feingefühl und dachte meiner in einer lieben, zarten Weise, die mich jedesmal in eine leise Seligkeit brachte.

Jeden Tag wartete sie, wenn die Schule aus war, auf Margret und gab ihr ein Päckchen für mich mit. Weiß eingewickelt und seiden umbunden; ich glaube, ich habe die Bändel alle noch aufgehoben. Meistens war Obst oder Schokolade drin, einmal auch ein Geschichtenbuch und jedesmal lag ein Briefchen dabei, aus dem ihr ganzes gütiges, adeliges Wesen hervorleuchtete und das rührend in seiner Einfachheit war.

In der Schule tat es nun einen großen Schnapper mit mir. Ich kam um vierzehn Plätze weiter vor, und saß nun in der zweiten Bank gerade hinter der Elsbeth. Manchmal zog ich mir ihre beiden langen Zöpfe herauf und legte sie über meinen Tisch zu mir her. Wenn etwas ganz Schweres zum Rechnen kam, nahm ich einen von ihnen in die Hand, unwillkürlich fest und zuversichtlich, – und auf einmal konnte ich es. Es war wie eine starke Wirkung und Kraftströmung von ihr her durch ihr Haar auf mich. Ich habe es ihr einmal erzählt, da lachte sie und sagte, nun müsse sie den Plan, ihre Zöpfe aufzustecken, wieder aufgeben.

In jener Zeit wurde mein Vater schwer krank; er bekam Tobsuchtsanfälle und man wollte ihn in eine Anstalt bringen. Als er es jedoch merkte, was mit ihm geschehen sollte, wurde er plötzlich ganz klar und völlig vernünftig und erklärte der Mutter mit der größten Bestimmtheit, wenn sie ihn forttue, hänge er sich auf und sie dürfe sicher sein, daß er diesmal sorge, daß niemand den Strick abschneide. Und einmal sagte er: weißt du denn das nicht, immer, wenn du mich von dir forttust, mache ich ein Ende. Ich kann halt ohne dich nimmer weiterleben, und du mußt mich haben, bis ich sterbe.

So behielt sie ihn denn, verbot uns Kindern, irgend jemand von des Vaters gräßlichem Zustand zu sagen, war Tag und Nacht bei ihm, pflegte, tröstete, bändigte und bezwang ihn und trug diese ganze letzte, fürchterliche Zeit mit einer übermenschlichen Kraft, bis er am zehnten Mai morgens in der Frühe starb.

Nun erst erlaubte die Mutter, daß man Hilfe hole; eine alte Verwandte kam über diese Tage zu uns; auch war eine Näherin da, um die schwarzen Kleider zu richten, und Leute gingen aus und ein bei uns, daß es uns in unserem eigenen Hause fremd und beklommen zu Mut war.

Wie schön war meine Mutter an dem Tag als der Vater starb! Ich sah einmal ein kleines Bild von einem unbekannten Künstler: Es ist vollbracht! Und der Heiland am Kreuz trug nicht die üblichen Leidenszüge und den Jammer der ganzen Welt im Gesicht, er war wie ein strahlender Held und ein Sieger in der Stunde seiner höchsten Erhöhung.

So war meine Mutter. Sie lief strahlend im Haus und um die ob solch unpassendem Gebaren verdutzte Tante Fischer herum und lächelte uns an, als habe sie uns schon lang nimmer gesehen. Am Abend aß sie mit uns zu Nacht; wir mußten ein weißes Tischtuch auflegen und sie trug den Brei in einer schönen bemalten Schüssel herein, wie es sonst nie geschah. Ich hatte auch den Eindruck, als wäre dies alles nicht bloß der Tante Fischer zu Ehren. Meine Mutter war nett und lieb, sie aß mit gutem Appetit und unser aller Stimmung war fast heiter. Dann kam die Nacht. Ich lag schlaflos in meinem Bett. Eine warme, dunkle Mailuft kam zu dem offenen Fenster herein, es war so weich und lau und einschläfernd. Ich spürte auch, wie der Margret Atemzüge regelmäßiger und tiefer wurden, das arme, liebe Ding! – Sie mußte viel mehr unter dem allem gelitten haben als ich, und ich war für sie eigentlich noch froher als für mich, daß es so gekommen war. Ich rief leise ihren Namen hinüber, aber es kam keine Antwort.

Der Leichenbesorger, der sein Amt für heut versehen hatte, stolperte die Treppe hinab, ich hörte die Tante Fischer noch lange hin und her gehen und leise sprechen und endlich auch in ihre Gastkammer hinaufsteigen. Die Mutter schloß noch einen Fensterladen und riegelte die Haustür zu, dann wurde es still. –

Auf einmal fiel mir etwas ein, das mich ungeheuer freute. Ich stand auf und sah zum Fenster hinaus. Da drüben war der Friedhof. Die Bäume gingen im Nachtwind hin und her, und ich mußte denken, wie schön das nun wäre, drüben zu sein in der lauen Luft, die mit dem Geruch des blauen Flieders getränkt war. Da schlüpfte ich in meinen Aermelschurz und stieg zum Fenster hinaus und vorsichtig an der Kammerz hinunter, ich tat zaghafte Schritte durch den dunkeln Garten und hob zitternd die Zaunlatte weg. Dann saß ich im nachtfeuchten Kirchhofgras, der Fliederbusch roch übers Mäuerlein und große Tränen liefen mir hinunter. Es ist, glaube ich, das letztemal gewesen, daß ich anhaltend geweint habe, und es scheint mir überhaupt, daß diese Nacht ein Abschluß, und wenn ich so sagen darf, wie eine Erlösung von meinen Kinderjahren war. Es war mir einfach, als könnte ich leichter atmen und sei ein böser Druck von mir weggewischt, daß erst jetzt das eigentliche Ich herauskäme. Ich trug noch eine Scheu und Scham, es zu zeigen, und wollte es mir selber noch nicht recht eingestehen, aber ich spürte, daß es da war, und fein und fröhlich werden konnte. Ich lief die schmalen Wege auf und ab und kostete die laue Seligkeit aus, die mich durchrann. Ich streichelte den Rosenzweig der Melitta und warf mich auf des Namenlos' Grab und küßte so in die feuchte, herbe Erde hinein, weil etwas in mir überlief, mit dem ich nicht wußte, wohin.

 

»Ich hab dich so lieb, Namenlos; ach, es schlägt über mir zusammen und flutet mit mir fort. Du bist es nicht allein, Namenlos; es ist alles miteinander, weil es so schön ist, und ich weiß es selber nicht!«

Es kam nicht so ganz, wie wir's uns vorstellten. Wohl war der Vater tot, und alle Unruhe und lärmende Aufregung still; aber der Druck hatte zu lang über uns gelastet, er konnte jetzt nicht so mit einem Male behoben sein.

Ueberhaupt war das mit meiner Mutter seltsam. Sie war, ich glaube das mit Bestimmtheit annehmen zu können, ehe mein Vater in ihr Leben trat, ein lustiges und schönes, aber ganz ungebildetes Mädchen, das nicht viel über andere und noch weniger über sich selbst nachdachte.

Dann kamen ihre Ehejahre, in denen sie innerlich reifte und wuchs, wie wohl selten ein Mensch in späteren Jahren noch, da die Seele sich den Eindrücken der jeweiligen Zeiten nimmer so anpassen kann. Es war plötzlich eine innere Kraft in ihr, die sich noch stählte an all den ungeheuren Anforderungen, die ihr zugemutet waren.

Eine seltsame seelische Größe hob sie über sich selbst hinaus und hieß sie in schweren Stunden in einer plötzlichen Eingebung das Rechte tun. Sie muß sich in ihren leichtsinnigen Mädchenjahren, da sie umschwärmt und bewundert und geliebt wurde, einen guten, festen Stolz auf sich selber und eine unüberwindliche Lebensfreude erworben haben. Das und ein starker religiöser Halt halfen ihr, daß sie in allen Wettern und Nöten ihrer Ehe so steifnackig und jungfräulich stolz war und im Gemüt so unverwundbar gesund blieb.

Da aber nun die Anforderungen an meine Mutter ruhiger und kleiner wurden, ließ die Spannung ihrer Kräfte langsam nach; sie fand in ihrer Hausarbeit und Sorge für uns genügende Aufgaben und Pflichten, die ihre Gedanken vollauf beschäftigten. Ich habe nun zwar nicht den Eindruck, als wäre irgend etwas, das meine Mutter in den Kreis ihrer Pflichten aufgenommen hat, zu kurz gekommen, als hätten wir etwa zu wenig Liebe und Sorgfalt von ihr genossen; aber es ist mir so, als sei damals das Beste in ihr unverbraucht verdorrt und die göttlichen Quellen in ihr versiegt, da man ihrer nimmer bedurfte.

Und so war auch die prachtvolle, heitere Freundlichkeit von jenem Abend, die uns so froh und erwartungsvoll gemacht hatte, von kurzer Dauer und ging bei uns allen unter in einer stillen, unbehaglichen Zeit, da man sich mit dem guten Zustande noch nicht recht abfinden konnte.

Auch waren wir ja durch den Tod unseres Vaters bitter arm geworden, was uns manchmal nicht wenig niederdrückte. Nur mit allen vereinten Kräften konnten wir uns über Wasser halten. Meine Mutter kaufte eine Strickmaschine und wir Mädchen mußten helfen mit Maschenauffassen und Zusammennähen. In den Schulen bekamen wir Freistellen, und dem Greiner streckte jemand Geld vor zum Studieren, weil er so ein ordentlicher, gescheiter Kerl war.

Eine Zeitlang nach unseres Vaters Begräbnis ging meine Mutter daran, das Gelaß im Erdgeschoß, das ihm als Werkstatt gedient hatte, zu lüften und als Schlafstube für uns Kinder umzuräumen. Es war ein lichter, seliger Sommertag; das Gärtlein war in der Blüte; ein Baum mit frühen Birnen stand drin und das süße Obst hing reif und lockend in der Sonne; auf der Wiese blähten sich die roten Bettstücke, unsere Geiß sprang frei dazwischen umher und meckerte fröhlich in die Lüfte, dazu ging unaufhörlich ein weicher, säuselnder Wind, nicht warm, noch kühl, aber mit einer leise tönenden, seltsamen Schwingung und Bewegung. Es war uns allen ungemein wohl; pfeifend stand der Greiner am Brunnen und putzte die Fensterläden, indes wir Mädchen wie ein Schwarm Hummeln im Haus herumschafften; dazwischen ging lieb und lächelnd die Mutter ab und zu, sah nach dem Rechten und kochte Schwedenknöpfe zu Mittag.

Des Vaters Stube war, da er nie erlaubt hatte, daß man gründlich darin putze, elend muffig und verräuchert; um uns zu beweisen, wie schwarz die Decke sei, zeichnete Margret, die oben auf der Leiter stand, mit dem Zeigefinger einen Ring hinein; sodann zog sie quer durch noch eine Ellipse – da war es ein Saturn. Und weil es so hübsch aussah, geriet sie in Begeisterung, und unversehens war da an der Decke ein ganzes Himmelszelt mit Kometen und Sternbildern und Sonne und Mond in der Mitte, die Sonne rundlich und lachend, der Sichelmond aber dürr, spitzig und wütig, so daß der Hannes bemerkte, er sehe dem Vater gleich. Da fingen wir an zu lachen, Margret schrieb der Eltern Namen unter die beiden großen Himmelslichter, und da uns die Mutter den Spaß nicht verdorben hat, ist noch heutigen Tages in unserer unteren Stube das damals entworfene Firmament an der Decke zu sehen; und wenn eines von uns aus der Fremde heimkommt und wieder einmal eine Nacht in der alten Schlafstube liegt, freut es ihn unmäßig.

Merkwürdig, wie deutlich ich mich noch jenes sanft durchwehten Sommertages erinnern kann! Ich weiß sogar noch, daß wir eine Drahtseilbahn vom Dachstock herab errichteten, daran wir Betten, kleine Möbelstücke und sonstiges Geräte in die neue Stube herunterließen; unter infernalischem Jubelgeheul schwebte zum Schlusse in einsamer Größe der irdene Pottschamber nieder. Wir wurden immer wilder, und gegen Abend stiegen Lust und Geschrei und Uebermut derart, daß uns die Mutter zur Abkühlung ein Bad im Brunnen riet. Meine Geschwister waren flinker als ich; bis ich die Röcke und mein Hemdlein herunter hatte, saßen sie schon alle im Wasser, und es gab keinen Platz mehr für mich.

Es war aber an der Seite unseres Brunnens ein geräumiges, steinernes Tröglein, in das das Wasser ablief und aus dem die Hunde soffen, weshalb es bei uns der Hundsgumpen hieß, da setzte ich mich hinein. Das Wasser war wonnig kühl an meinem heißen Leib; hie und da lief von dem Toben der Geschwister der Brunnenrand über, und ein klarer Schwall flutete mir über Schultern und Rücken; das konnte ich mächtig gut leiden; ich hielt ganz still und wartete auf eine neue Woge. Dazu war der sonderbare Wind nun stärker geworden, und von einer ganz leisen, abendlichen Kühle; er strich mir weich und lauernd um die klopfenden Schläfen, reizte mich und machte mich seltsam erregt. Er wehte mich durch und durch; ich meinte, ihn in allen Gliedern wie ein wundersames Fieber zu spüren, das mir alle an diesem Tage erlebten Dinge in einem neuen, rätselhaften Lichte zeigte.

Erschrocken, erstaunt über mich selber saß ich da im Hundsgumpen, ließ mir das Wasser über den Leib laufen und rührte mich nicht; der Hannes schrie: »Mutter, 's Agnesle spinnt!« – und schickte mir eine neue Flut; doch störte es mich nicht. Es gärte und arbeitete in mir, ich hätte heulen und lachen und stöhnen mögen und spürte doch, daß das, was da mit einer mächtigen Kraft in mir durchbrechen wollte, damit nicht behoben wäre.

Die Sonne ging unter; im Dunkeln über dem Walde hing sehnsüchtig und traurig ein Stern; meine Geschwister jauchzten, bespritzten ihre weißen Leiber und hielten die Köpfe unter den Strahl. Vor dem Brunnen stand lächelnd meine Mutter, sie beugte sich über uns und murmelte etwas: »Kinderlein – o ihr!« und dann – es hat es aber niemand außer mir gesehen, – fiel ihr eine Träne in das Wasser.

Da kam mich ein wunderliches Sinnen an: Worte stiegen mir auf und Reime, und Sonnen und Sterne und Tränen gingen mir im Kopf herum, daß ich ihnen nimmer wehren konnte.

Und später in der Nacht, als wir in der neuen Himmelsstube lagen, hatte ich es fertig, und es war ein Gedicht und hieß so:

 
»Wir Kinder waren sechs Sterne,
Wir standen traurig in der Ferne.
Wir durften nicht tanzen und lachen,
Denn unser Vater, der böse Mond,
Tät uns so strenge bewachen.
 
 
Unsere Mutter, die Sonne,
Die sah uns vom goldenen Throne.
Da wollte nicht hell sie mehr scheinen,
Sie schwebte nur still auf die Erde hinab,
Um viel tausend Tränen zu weinen.
 
 
Und da kam auf einmal das Wunder:
Wir fielen vom Himmel herunter,
Grad in den Tränenbronnen;
Da lachten wir und vergaßen den Mond
Und waren sechs fröhliche Sonnen!«
 

Im letzten Jahr meiner Schulzeit verliebte ich mich in einen Vikar, der uns Religionsunterricht erteilte. Die ganze Klasse schwärmte für ihn, wir liefen zu ihm in die Kirche, saßen in der Bibelstunde züchtig neben den angestammten, frommen Weiblein der Stadt, die erstaunt die zunehmende Gottesfürchtigkeit der Jugend beobachteten, und ein paar von uns lernten in der Eile stenographieren, um seine Predigten nachschreiben zu können. Der Missionsverein war überfüllt, weil er dort hie und da einen Vortrag über seine Studienreisen hielt und man bemühte sich mit innigem Eifer um die Freundschaft der Mesnerstochter, die in unserer Klasse in der letzten Bank saß und das beneidenswerte Glück genoß, ihm zu den Kindstaufen die Bäffchen nachtragen zu dürfen.

Das alles ließ mich ziemlich kalt. Vielleicht wäre er mir überhaupt gleichgültig geblieben, wenn er nicht die Gewohnheit gehabt hätte, im Religionsunterricht beständig an der ersten Bank zu stehen, dicht neben der Elsbeth und grade vor mir. In den ersten Stunden dachte ich gar nichts dabei; dann aber freute ich mich unwillkürlich auf jeden Donnerstag, an dem der Vikar in die Schule kam und allmählich erkannte ich in einem süßen Erschauern, daß er ein Mann war und mich unendlich anzog. Wenn ein anderer junger Mensch jede Woche einmal eine Stunde da so dicht vor mir gestanden wäre, hätte er die gleiche Wirkung auf mich ausgeübt; es war weniger eine ausgesprochene Neigung zu eben seiner Persönlichkeit, als vielmehr eine Erkenntnis meiner selbst und ein Auskosten meiner ersten weiblichen Empfindungen.

Dazu war es gerade Frühjahr, ein lauer Südwind machte mich wohltuend fiebrig; ich weiß noch, daß ich immer heiße Wangen hatte und in den Wind lief, um sie kühlen zu lassen. Wolken zogen über den Himmel und schufen mit dem gedämpften, grauen Licht, das durch sie leuchtete, über dem blütentreibenden Land eine sinnverwirrend traurige Stimmung. Frühjahrsregen gingen nieder, ihr herber Geruch mischte sich mit dem süßen der Blumen, so daß ein starker Duft wie greifbar über der Erde lag. Alle Viertelstunden brach die Sonne in wunderbar schönem, blendendem Glanz durch das Gewölk, licht schwammen weiche Ballen durch den geklärten Himmel, und die Aeste der Kirschbäume standen schneeig weiß in die Bläue. Nachts fuhr der Föhn ums Haus bald laut bald leise, manchmal schlief er ganz ein. Dann lauschte ich sehnsüchtig, bis er wieder anhub zu wehen.

Durch das alles lief ich mit einer nie gekannten, plötzlich sehenden und verstehenden Freude und einem leise schmerzenden, drängenden Anteil. Bisher war ich ein ruhiges, stilles Mädchen gewesen, gleichmäßig im Wesen und fast ganz ohne Launen. Jetzt kam plötzlich eine halb kindische Sprunghaftigkeit über mich, jäh wechselnde Stimmungen, die einmal jauchzend und wild über alle Ufer brachen und dann wieder träg und trauervoll weiterrannen. Ich glaube, daß das das echteste Zeichen meiner jungen Liebe war.

Es kam vor, daß ich in einem gestreckten Trab von der Schule heim die Steige herauflief. Hausaufgaben, mit denen ich mich sonst eine Stunde lang abquälte, in zehn Minuten aufs Papier schmiß, einen Mittag lang in einer hellen Lust Holz spaltete oder im Garten schaffte wie einer vom Fach. Ich sang und pfiff und jodelte in den Wind hinein, atmete kräftig die herbe Luft und biß mit innigem Vergnügen in das Stück Schwarzbrot, das ich mir in die Tasche gesteckt hatte.

Plötzlich aber konnte ich die Hacke wegwerfen, ganz still stehen mit hängenden Armen und die Augen schließen. Dann sah ich ihn im Geiste vor mir stehen, und alle Kraft von vorhin wandelte sich in einen lähmenden Zauber; ich spürte ihn süß und schmerzhaft und wurde willenlos und unsäglich müd davon. Auf dem Grab des Namenlos hockte ich stundenlang, kaute geistesabwesend an einem Schnittlauchhalm, träumte und spürte meine Liebe wie ein schweres, dunkles, warmes Blut meinen Leib durchrinnen.

Mit der Margret bekam ich in dieser Zeit einmal böse Händel, die uns für immer auseinanderbrachten. Sie hatte wohl gemerkt, wie es mit mir stand und spottete in ihrer frischen Art, die alle Schwärmerei haßte und verabscheute, darüber. Das konnte ich nicht ertragen, einmal im Zorn schlug ich sie, wir prügelten uns und ich blieb heulend am Boden liegen, in dem erbärmlichen Gefühl der Niederlage und dem Schmerz um etwas Stilles und Heimliches, das mir entrissen, entweiht und verzerrt war. Ich verschloß meine Liebe tiefer in mir. Aber ich fühlte, daß sie stärker und heißer wurde.

Ich war nun freilich um den Trost gekommen, mich nächtlicherweile von der Margret liebhaben und streicheln zu lassen, ein bitteres Gefühl der Vereinsamung kam oft über mich, wenn ich nachts wachlag und in all meiner Bedrängnis wußte, daß ich ihr nichts davon sagen durfte.

 

Auch in meine Freundschaft mit Elsbeth Gräther war eine unerklärliche Fremdheit gekommen; wir sahen uns selten außer den Schulstunden. Einmal sagte ich auf dem Heimweg vergnügt zu ihr: »Ich muß dich bald wieder einmal besuchen, wir waren so lang nimmer beieinander, gelt? Soll ich morgen Nachmittag kommen?«

»Ach, lieber nicht,« sagte sie gequält. »Diese Hitze macht mich ganz krank; ich bin am liebsten allein gegenwärtig.«

Ich spürte, daß ich rot wurde, ich hatte mich wahrhaftig nicht aufdrängen wollen. Und ich wunderte mich, daß Elsbeth, die sonst so feinfühlig und herzlich war, gar nicht zu merken schien, daß sie mich verletzt hatte.

Es war seltsam; vielleicht war sie krank und wollte es mir nicht sagen. Aber es ließ mir keine Ruhe; am andern Tag, als ich schweigend hinter ihr her trottete auf dem Heimweg von der Schule, fragte ich sie darum. Sie drehte sich rasch um.

»Ja, gelt, ich bin gräßlich ungenießbar, ach, ich weiß es ja selber.«

Sie bot mir mit einem hilflosen Lächeln die Hand hin. »Verzeih,« sprach sie traurig. »Ja, ich glaube, es ist mir nicht recht gut gegenwärtig, ich habe oft Kopfweh. Man kann es nicht so recht sagen.«

Als ich dann allein weiterging, faßte ich einen Entschluß. Ich wollte nun, da ich gesehen hatte, daß ihr meine Gesellschaft und meine Fragen unlieb waren, ganz für mich bleiben und so weh es auch tat, ihre liebe Nähe meiden, bis sie über diese böse Zeit hinüber und wieder mit sich zurecht gekommen war. Elsbeth selber hatte mir ja gezeigt, wie man das in einer feinen, zarten Weise tun könne, und wie so ein stilles Zurücktreten ein schweres, aber schönes Opfer sei.

In diesen Tagen, als ich einmal auf dem Grab des Namenlos lag, mußte ich plötzlich denken: vielleicht soll es so sein und ist eine Einrichtung von Gott, daß, wenn man eine Liebe trägt, alles andere von einem abfällt, sich zurückzieht und einen allein läßt. Vielleicht muß man erst so recht hilflos und einsam werden, um die ganze Kraft und Seligkeit dieses Wunders zu spüren; man wird alles, was einen vorher beglückt und erfüllt hat, wegtun müssen; nur ganz still in sich hineinhorchen auf das Rauschen der göttlichen Flut.

Ich wurde froh und still bei diesem Gedanken und meinte, den lieben Gott und seine Weltregierung wieder einmal recht verstanden zu haben.

So allmählich war nun der Sommer gekommen; ich ging den alten Weg durch die Wiesen zur Schule hinab; er war jeden Tag voller Sonne. Ich dachte immer nur an ihn, Worte hingen mir im Kopf, und Verse lagen mir auf den Lippen. Manchmal streckte ich mich ins Heu, machte die Augen zu und dachte, jetzt müsse er kommen und mich küssen. Ich empfand ein starkes, süßes Grauen bei diesem Gedanken; es war mir etwas Unheimliches dabei, bei der Liebe überhaupt, ich verstand es nicht, aber ich ahnte es dunkel.

Wohl war ich nun einsam und es wurmte mich manchmal, daß kein Mensch mein Freund sein wollte; aber ich wußte, daß ich nun ein bewußtes, eigenes Leben lebe, das aus der Stumpfheit meiner Jugend erstanden war. Ich ließ mich von meinen Stimmungen tragen, gab ihnen nach, träumend und doch froh und wach und war unsäglich glücklich dabei.

Eines Abends lag ich in meinem Bett – wir gingen immer schon in der ersten Dämmerung schlafen, um Licht zu sparen – draußen sank die Nacht, und tausend Sehnsüchte hielten mich hellwach. Der Tag war schwül gewesen, erst gegen Abend wurde es kühler, und ein leichter Wind trieb langsame Wolken über den dunklen Himmel.

In einer wohligen Erregung stand ich auf und setzte mich unter das Fenster. Das Heu roch süß und kräftig von der Wiese herüber, die Bäume gingen im Nachtwind hin und her, und ich empfand plötzlich eine Lust, draußen zu sein und ein Stück weit durch die Nacht zu laufen.

Leise kleidete ich mich an, tappte die Treppe hinab und suchte im Hausflur meinen Hut. Dann schob ich vorsichtig den Riegel zurück und trat hinaus. Ein lautloser Sommerregen ging nieder, und die Luft war voll jenes bitterlichen Geruchs, den es gibt, wenn Regen auf heißes Erdreich fällt und Staub löscht. Ich liebte diesen Duft unsäglich und trank ihn in durstigen Zügen. Unversehens war ich so ums Haus herumgekommen, stand da in unserem bescheidenen Gärtlein und roch, daß irgendwo Rosen in der Nähe seien. Ich griff in Dunkelheit und nasses, kühles Blätterwerk, endlich bekam ich ein paar feuchte Blüten in die Hände und riß sie ab.

Da meinte ich, Mutter zu hören, wie sie neben mir sagte: »nicht reißen, schneiden! Es tut den Rosen weh, wenn man sie abreißt.«

Ich lächelte schuldbewußt, küßte in einer weichen Seligkeit den Zweig, als ob es damit wieder gut gemacht wäre. »Ich will die Rosen ihm bringen,« dachte ich. »Ich will sie auf seine Hausstaffel legen; es ist Zeit, daß ich auch einmal etwas aus meiner Liebe tue und vollbringe!«

Leise summend ging ich durch die Wiesen hinunter, der Regen fiel in warmen Tropfen durch die Aeste auf mich herab; ich schritt dahin in einem Rausch von Liebe, Wärme und Sommergeruch.

In der Stadt waren noch Lichter hell und Leute auf den Straßen. Ich versteckte die Rosen unter meiner Schürze und drückte mich verstohlen an den Häusern hin. Seine Haustür war weit offen, ein Treppenlämpchen leuchtete zum ersten Stock hinauf; da war seine Tür. Ich warf mit heftigem Herzklopfen die Rosen hin und sprang fort.

Am Gartenzaun stand reglos eine Gestalt, ich wollte vorüber, hörte aber meinen Namen rufen und blieb stehen.

Es war die Elsbeth; im Schein einer nahen Laterne sah ich ihr Gesicht und da, – ach, mit einemmal, ehe sie noch ein Wort gesprochen hatte, wußte ich alles und verstand ihr seltsames Wesen in der letzten Zeit und stand still und wie gelähmt von einem bösen, dumpfen Schrecken.

Es träumt einem zuweilen, man gehe über die Straße und entdecke plötzlich, daß man keine Kleider anhabe; genau dasselbe Gefühl kam nun, wie ich so vor Elsbeths traurigen, vorwurfsvollen Augen stand, über mich, und ich wüßte nichts, was dem an peinvoller Scham und Beklemmung gleichkäme.

»Du brauchst mir nicht zu sagen, wo du warst, ich weiß es schon!« sagte sie leise und traurig.

Dann schlang sie plötzlich ihren Arm fest um meine Schulter, zog mich an den Zaun und beugte sich tief mit mir über die Latten.

»Du, Flaig,« sagte sie schnell, heiser und eindringlich, »du mußt jetzt einmal ganz vernünftig sein, hörst du! – Ich bin deine einzige Freundin, gelt? – Und du hast mich gern, das weiß ich sicher. Und hast du mir nicht schon manchmal etwas zulieb tun oder schenken wollen und wußtest nicht was? Sag, ist es nicht so?«

»Ja,« sagte ich tonlos.

»Weißt du,« flüsterte sie in leidenschaftlicher Erregung ganz dicht bei meinem Gesicht, »jetzt möchte ich etwas von dir: du mußt mir den Vikar lassen! Du mußt es, Flaig! Sieh, ich kann da keine Rücksicht auf dich nehmen!

Ich bin immer verwöhnt worden, zu Haus und in der Schule und überall. Alle Leute haben mich gern gehabt, und die Mädchen in der Schule waren beglückt, wenn ich mich mit ihnen abgab. Nie ist mir eine Freundschaft versagt geblieben; ich habe auch schon einen Gymnasiasten zum Schatz gehabt; er und seine Freunde schwärmten für mich.

Der Vikar steht mich nicht an. Er weiß nicht, wie ich heiße. Ich habe ihn wahnsinnig lieb gehabt vom ersten Augenblick an, da ich ihn sah; ich meine oft, die Stunde am Donnerstag nicht zu überleben vor Jammer und doch zähle ich die Stunden bis wieder dahin! Jede Nacht stehe ich an seinem Haus und starre hinauf; ich habe ihn noch nie gesehen; wenn er das Licht löscht, gehe ich heim. – Ich bin arg demütig und bescheiden geworden; du mußt mir mein bißchen Freude schon ungeteilt lassen, Flaig, siehst du!«