Rabenvatersorgen

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„Hat er erwähnt, dass er was vorhatte oder so?“

„Nein.“

Marion spürte, dass ihrem Vorgesetzter dasselbe durch Kopf ging wie ihr. Endlich ein Hinweis. Nicht nur, dass es den Todeszeitpunkt weiter eingrenzte: Wenn Lothar Menne um viertel nach sechs von hier losgefahren war, konnte er schlecht um achtzehn Uhr getötet worden sein. Es warf außerdem die Frage auf, warum er früher als gewöhnlich zuhause sein wollte. Zufall oder hatte er sich verabredet? Etwa mit seinem Mörder?

„Und was haben Sie gemacht?“, wollte Emil wissen.

„Was meinen Sie?“

„Mit der unverhofften Zeit ohne Klette.“

„Nun, ich habe ... ganz normal halt ...“, begann Ölschläger und wegen des Gestammels und abrupten Endes horchten sie genau hin.

„Ganz normal – was?“

„Das hat nichts mir Ihrem Fall zu tun.“

„Die Einschätzung sollten Sie uns überlassen.“

Der Tierpfleger schaute zurück zu Giovanni, doch der hatte sich in der Zwischenzeit wieder davongemacht. „Also schön“, sagte er und holte tief Luft. „Aber das muss unter uns bleiben, ja?“

7

Anabel stellte den Fernseher auf stumm und lauschte. War das eben ein Geräusch gewesen? Der Kühlschrank surrte, aber das meinte sie nicht. Draußen fuhr ein Auto vorbei, doch auch das klang anders. Sie kam zu dem Schluss, dass es Einbildung gewesen sein musste und wollte den Ton wieder anstellen, als ihr bewusst wurde, dass sie von der Reportage über die Tierwelt an der Ostseeküste im Grunde gar nichts mitbekommen hatte.

Also stellte sie den Fernseher komplett ab und lehnte sich auf dem Ledersofa zurück, das genauso unbequem war, wie es ausschaute. Sie wohnte inzwischen sechs Monate in diesem Haus, aber das Wohnzimmer hatte noch immer etwas Befremdliches an sich. Kein Wunder eigentlich, entweder war sie unterwegs oder hielt sich in ihrem Refugium eine Etage höher auf. Allemal die Küche teilte sie sich mit ihrem Vermieter. Doch heute Abend hatte sie Platz zum Atmen gebraucht, und da war ihr der große, offene Wohnbereich gerade recht gewesen, auch wenn das bedeutet, darauf achtzugeben und ja nichts kaputt oder schmutzig zu machen. Die beiden riesigen Acrylgemälde, die wahrscheinlich zwei männliche Akte darstellen sollten, sah sie nicht einmal an, um ihnen keinen Schaden zuzufügen. Geschmäcker waren bekanntlich verschieden. Die meisten Besucher zeigten sich jedenfalls beeindruckt beim Rundgang durchs Haus.

Dafür musste man die Vorhänge an den Fenstern zuziehen, um die neugierigen Blicke der Spaziergänger auszusperren, vor allem bei Dunkelheit. Vorsorglich hatte Anabel nur eine Kerze angezündet. Sie wollte keine große Beleuchtung. Dunkelheit passte eh viel besser zu ihrer Stimmung. Ihr Rücken tat noch höllisch weh. Die Schmerzen waren aber nichts im Vergleich zu dem, was in ihrem Innern kaputt gegangen war.

An Lernen war in diesem Zustand nicht zu denken. Von ihrer Hausarbeit zum Thema „Leistungsdiagnostik und leistungsdiagnostische Tests im Pferdesport“ stand bislang nur das Gerüst, dabei hatte sie fest vorgehabt, die vorlesungsfreie Zeit zu nutzen. Selbst dem Reiterhof, wo sie an drei Nachmittagen die Woche arbeitete, hatte sie abgesagt. „Schade, wo du unser bestes Pferd im Stall bist“, hatte der Besitzer gescherzt, dann aber gemerkt, dass sie dazu nicht in der Stimmung gewesen war.

Sie legte die Fernbedienung an ihren üblichen Platz zurück, neben das Telefon. Es war der Grund dafür, dass die Reportage eben an ihr komplett vorbeigerauscht war. Der Anruf hatte ihr den Rest gegeben. Als ob da eine Tiersendung helfen würde, wie früher, wenn sie traurig gewesen war oder Kleinmädchensorgen gehabt hatte. Was, wenn er herkommen würde? Sie flehte, dass das nicht geschah. Dass er sie in Frieden ließ. Aufgestachelt von diesem Gedanken rannte Anabel zum Fenster und spähte durch die Gardine. Wieder näherte sich ein Auto, es hielt aber zum Glück nicht an.

Am liebsten wäre sie heimgefahren, doch das ging nicht. Ihr Vermieter verließ sich darauf, dass jemand während seiner Abwesenheit das Haus hütete, seit in der Gegend eingebrochen wurde. Als Alternative klang ein heißes Bad recht vielversprechend. Anschließend würde sie direkt ins Bett gehen. Anabel blies die Kerze aus und ging hoch ins Badezimmer, um alles vorzubereiten.

Kurz darauf rauschte heißes Wasser in die Wanne. Dampfwolken stiegen auf, fingen unter der Dachschräge an zu tanzen und wanderten weiter bis zu der kleinen Leuchte über dem Waschbecken. Anabel saß auf dem Wannenrand und beobachtete das Schauspiel fasziniert, als sich plötzlich ihre Nackenhaare aufrichteten. Was war das? Hektisch drehte sie den Hahn kleiner und horchte. Es hatte eben gepoltert. Oder spielte ihr die Fantasie wieder einen Streich? Am Nachmittag erst war sie wie panisch in den Garten gestürzt, weil ein lebloses dunkelbraunes Bündel auf dem Rasen gelegen hatte. Ihr Pflege-Eichhörnchen, oh Gott, wie war es bloß aus dem Käfig gekommen? Doch von Nahem hatte sich das Etwas als einfaches Stück Stoff herausgestellt, das der Wind dorthin geweht haben musste.

Anabel gab einen Schuss Sommertraum ins Wasser, sofort schäumte es auf. Sie zog sich aus, band ihre Haare hoch und testete die Temperatur mit dem Fuß. Viel zu heiß, aber genau das, was sie heute brauchte. Die letzten Wochen waren schrecklich gewesen. Genaugenommen seit dieser schicksalshaften Begegnung im Tierpark. Vorsichtig glitt sie in die Wanne. Die Stellen am Rücken schmerzten, doch als es vorüber war, stieß sie einen Seufzer aus. Schaum bis obenhin, dazu der Duft nach ... Auf der Flasche stand etwas von Südseefrüchten, aber ihr kam er anders vor. Anabel schloss die Augen und dachte zuerst an gar nichts und dann an das Glas süßer Gurken im Kühlschrank. Dass ihr ausgerechnet Nahrung einfiel, war bestimmt ein gutes Zeichen, so normal, und zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. Ihre Mutter hätte wahrscheinlich gesagt: „Kind, du musst mehr essen, das ist jetzt besonders wichtig.“

Das Lächeln erstarb, wie das Geräusch unten geklungen hatte: schlagartig. Diesmal war kein Zweifel möglich. Ob sie ... ob sie überhaupt richtig abgeschlossen hatte? Vorne ja, aber bei der Tür nach hinten müsste sie lügen. Sie war hinaus in den Garten gegangen, um noch einmal nach ihrem Eichhörnchen zu sehen, das verdammte Telefon hatte geklingelt ...

Das waren Schritte, oder? Anabel wusste, die Treppe knarzte fürchterlich, selbst wenn man sich Mühe gab und nur ganz leicht auftrat. Er kam also doch hierher. Was wollte er denn schon wieder? Bitte, lass es nicht wahr sein!

Sie rutschte tiefer ins Wasser, verschluckte sich und fuhr prustend wieder hoch. Das Knarzen der Treppe wurde lauter. Ein untrügliches Zeichen, dass er immer näherkam. Oh Gott, was sollte sie tun, aufspringen? Oder besser untertauchen, in der albernen Hoffnung, dass er sie nicht entdeckte? Vor lauter Unschlüssigkeit schwappte schon das Badewasser über.

Eine gefühlte Ewigkeit verging, bis die Klinke der Badezimmertür heruntergedrückt wurde, dabei dürften es höchstens Sekunden gewesen sein. Da, ganz deutlich, es war also doch keine Einbildung gewesen. Die Tür öffnete sich wie in Zeitlupe. Diese Vorahnung schmerzte wie die Peitschenhiebe, die ihren Rücken aufgerissen hatten, oder die dumpfen Schläge in ihr Gesicht. Bis der Mann seinen Kopf ins Badezimmer steckte.

Anabel kniff die Augen zusammen und tauchte hinab ins Wasser.

8

Emil schloss die Wohnungstür auf, die sein Vermieter trotz Zusage der Maklerin bislang nicht repariert hatte und das in naher Zukunft wohl kaum nachholen würde. Im Grunde war es ihm egal. Er hatte eh nicht vor, ewig hier wohnen zu bleiben.

Noch in Sakko und Schuhen lief Emil zur Fensterbank, um nach Puck zu schauen. Die mongolische Rennmaus machte eigentlich einen recht fidelen Eindruck, obwohl der Wassernapf mehr als ausgetrocknet war. Er goss ihn voll Wasser und warf ein Stück der Calzone daneben, die er sich auf dem Heimweg in der Pizzeria Da Toni in der Nicolaistraße besorgt hatte. Puck stürzte sich zuerst aufs Wasser. Er hatte offensichtlich einen guten Riecher. Die italienische Teigtasche war nicht wirklich genießbar.

Emil streifte die Schuhe ab und tauschte das gestreifte Sakko gegen seine Fleecejacke. Dabei fiel ihm die Aussage des Tierpflegers ein, was die Zeit nach Lothar Mennes verfrühtem Weggang von Roland, dem Esel, betraf. Erst nach einigem Nachbohren hatte er von seinem Treffen in der Holzhütte beim Ziegengehege erzählt, und zwar mit der adretten Silke Wrede von der Information. Ob der Ausdruck Schäferstündchen bei einer vergleichbaren Begebenheit entstanden war?

Emil startete seinen Computer, um Mails zu checken, und ging dann ins Internet. Bevor seine Tochter kam, wollte er schnell ein paar Dinge erledigen. Klamotten kaufen stand ganz oben auf seiner Liste. Er googelte nach einem Onlineshop, wählte den ansprechendsten Vorschlag aus und betrachtete abwechselnd neue Jeanshosen und Oberteile, während er den Rest der Calzone verspeiste und sich zwischendurch die Finger an der Fleecejacke abwischte, die eh bald Geschichte wäre. Spätestens bei Eintreffen der Lieferung: Demnächst würde Emil stolzer Besitzer von drei neuen Hosen, sieben T-Shirts und vier Pullover sein. Bei der Größe hatte er darauf geachtet, nicht wie früher auf Nummer sicher zu gehen, sodass alles genug Luft hatte. Nein, die Leute sollten sehen, was er hatte, und solange sein Hintern noch ansehnlich war und er seine Füße erkennen konnte, ging das für sein Empfinden in Ordnung.

Mit einem Kontrollblick zur Uhr loggte Emil sich in die Dating-Plattform ein, wo er zwar schon etliche Jahre ein Profil besaß, es aber erst seit knapp einem richtig nutzte. Man konnte dort schnell und unkompliziert Verabredungen ausmachen, für alles Mögliche oder wenn man nur das Eine suchte. Besonders interessierte ihn, ob SucheSpaß37 zurückgeschrieben hatte. Tatsächlich zeigte sein Postfach eine neue Message an. Er öffnete sie, las den Text und klickte auf die beiden angehängten Bilder. Sie waren sehr eindeutig und machten Lust auf mehr. Am liebsten hätte er nach einem Spontan-Date gefragt, doch mit Verenas Besuch im Nacken war das schier unmöglich. Andererseits würde seine Tochter bestimmt nicht ewig bleiben, also schrieb er: Echt sexy, deine Pics. Wollen wir uns nachher treffen?

 

Kaum hatte er die Message abgesendet, klingelte es an der Wohnungstür. Emil hätte die Bilder gern ein zweites Mal und ausgiebiger betrachtet. Doch die Pflicht ging vor, also klappte er den Laptop zu und stand auf, um zu öffnen.

„Hallo Papa“, sagte die zierliche, fünfzehnjährige Blondine, die eine Röhrenjeans trug und darüber eine hellgraue Collegejacke. In der Hand hielt sie eine Tasche, als wollte sie verreisen. Den Neuerwerb der roten Baseballmütze auf ihrem Kopf hatte er nicht mehr miterlebt.

Emil umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Schön, dass du da bist“, sagte er und das war nicht gelogen. „Los, komm rein.“

Verena trat ein, kannte sich von ihren ersten beiden Besuchen ja aus. Trotzdem legte sich ihre Stirn in kleine Fältchen, als sähe sie seine Wohnung zum ersten Mal. „Dass du so leben kannst.“

„Ach ja? Dabei sieht es genauso aus wie in deinem Zimmer, wenn ich mich recht erinnere.“

Sie zuckte mit den Schultern, wie immer, wenn sie keine Lust hatte, sich mit etwas auseinanderzusetzen. Auf die Frage, ob sie ihre Jacke nicht lieber ausziehen wollte, verneinte sie und warf stattdessen ihre Tasche irgendwohin. „Also, was ist jetzt mit Puck, kann ich ihn sehen?“

„Sicher. Auf der Fensterbank. Damit er alles im Blick hat.“

„Ist klar, Papa. Na, da bist du ja!“ Alberne Geräusche ausstoßend, öffnete Verena den Käfig und setzte sich die Maus auf den Handrücken. Sofort kletterte sie ihren Arm hoch bis zur Schulter. „Ich finde das voll blöd, dass ich Puck nicht behalten durfte. Mama hatte kein Recht dazu. Du hast ihn mir geschenkt.“

„Und an wem ist die Arbeit hängen geblieben in den letzten Monaten?“

„Meine Güte, das bisschen.“

Emil wusste, dass er das nicht zu vertiefen brauchte, und fragte stattdessen, wie es in der Schule liefe.

Seine Tochter verzog das Gesicht. „Musst du immer gleich die miesen Sachen rausholen? Können wir nicht einfach so ein bisschen reden, ohne dass du einen gleich quälst?“

„Also gut, dann reden wir halt nicht über die Schule. Was macht deine Freundin Lara?“

„Die hat jetzt ’nen Freund. Und keine Zeit mehr für mich.“

„Ach so. Und was machst du die ganze Zeit, wenn du nicht gerade deiner Mutter im Haushalt hilfst?“

„Keine Ahnung. In meinem Zimmer sitzen und lesen. Musik hören. Chillen.“ Sie schrie auf, weil Puck an ihrem Ohr knabberte, und setzte ihn zurück in seinen Käfig.

„Du bist viel zu viel allein zuhause. Geh doch mal raus.“

„Ach Papa.“

„Ja, echt. Rausgehen ist wie Fenster aufmachen. Nur krasser.“

Sie lächelte, das erste Mal. Es war schön zu sehen, dass sie das nicht verlernt hatte. Verena war nie das strahlende Kind gewesen, dass man sich als Eltern – wenn man ehrlich war – doch wünschte, sondern eher nachdenklich und in sich gekehrt. Natürlich gab es zwischendurch auch Phasen voller Gekicher. Aber die Abstände schienen größer zu werden.

„Sag mal Papa, hast du was dagegen, wenn ich heute hierbleibe?“

Emil wusste augenblicklich, was es mit der Tasche auf sich hatte. „Ja“, antwortete er.

„Was?“

„Du hast mich gefragt, das ist eine ehrliche Antwort. Aber wenn du meinst, dass du es musst, dann bleib von mir aus.“

„Na, toll.“ Sie zog eine Schnute.

Emil sah sein Treffen mit SucheSpaß37 bereits in aller Ferne. Doch er ließ sich nichts anmerken und fragte seine Tochter, ob sie etwas essen wollte.

„Nein, keinen Hunger.“

„Doch, ich hab’ was für dich. Das magst du.“

Er ging zur Küchenzeile, holte zwei Becher Schokoladenpudding aus dem Kühlschrank und fand in einer Schublade tatsächlich zwei saubere Löffel. „Na los, komm her!“

Seine Tochter tat, als wäre sie viel zu erwachsen dafür und rollte mit den Augen, als sie sich zu ihm an den Tisch setzte. Emil hatte seinen Becher bereits geöffnet und streute sich großzügig Schokoflocken darüber. „Hier, willst du auch?“

Verena verneinte stirnrunzelnd. „Sag bloß, du machst das immer noch. Das sind mindestens hunderttausend Kalorien.“

„Na und? Wen juckt’s. Also, was hast du auf dem Herzen.“

„Gar nichts.“

„Hast du Bulimie?“

„Was?“

„Du bist doch nicht schwanger, oder?“

„Nein“, rief sie empört.

„Stimmt, dazu müsste man auch zuerst jemanden kennenlernen.“

„Blödi.“ Verena rührte in ihrem Becher herum und probierte zaghaft einen Löffel, ohne sich anmerken zu lassen, ob es ihr schmeckte.

Früher hatte sie Schokopudding geliebt, wusste Emil. Aber vielleicht hatte sich das im Laufe der letzten Jahre ja geändert. Er wollte jedoch nicht sentimental werden. „Was ist dann los?“

„Ich ... ich will die Schule aufhören.“

„Aha.“

„Nur aha? Mehr hast du dazu nicht zu sagen?“

„Was meint deine Mutter?“

„Ist klar, dass du das fragst.“ Sie schob den Becher weg. „Mama ist ausgerastet, was denn sonst?“

„Also deshalb bist du hier. Weil du bei mir immer alles darfst, was sie dir verbietet.“

„Ja. Weil es dich nicht so interessiert, was ich mache.“

Emil pustete die Backen auf. Das war hart und kam völlig unerwartet.

Verena schien sich darüber gar nicht bewusst zu sein. „Du hast immer gesagt, dass ich tun soll, was mein Herz mir sagt.“

„Es konnte ja keiner ahnen, dass du das wörtlich nehmen würdest.“

„Na toll.“ Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Es dauerte eine Weile, dann nahm ihr Gesicht diesen typischen Tochterblick an. „Kannst du nicht mit Mama reden?“

„Deine Mutter redet nicht mehr mit mir, falls du das vergessen hast.“ Trotzdem würde er sie anrufen und ihr mitteilen, dass Verena über Nacht bei ihm bliebe. Oder ihr besser schreiben, ja genau. Ein Hoch auf den Erfinder von Textnachrichten. „Warum willst du überhaupt mit der Schule aufhören?“

„Weil die alle scheiße sind.“

„Wer?“

„Na ... alle.“ Sie verzog das Gesicht.

Sekunden später brachen die Tränen aus ihr heraus. Und Emil erfuhr, was ihr so schwer auf dem kleinen Herzen lag.

9

Nicht nur der Baukran, der die Kreuzung Albaxer Straße/Rohrweg blockiert und auf diese Weise die halbe Stadt lahmgelegt hatte, war Emil gehörig auf die Nerven gegangen. Auch das Kind, das mit seinem Hund genau vor ihm über den Zebrastreifen gehen musste, und zwar, als hätte es Kaugummi unter den Schuhen, hatte seinen Anteil daran. Und dass der Chip für die Tiefgarage an diesem Mittwochmorgen nicht an seinem Platz lag, war einfach zu viel gewesen.

Emil wusste, woher das rührte: Seine Morgenroutine war durcheinandergebracht worden. Statt so lange wie möglich liegenzubleiben, schön zu duschen, und mit Zeitung, viel Kaffee und Nutellatoast zu frühstücken, hatte er seine Tochter ganze vier Mal wecken müssen, woraufhin sie zuerst das Bad blockiert und ihm dann den letzten Toast weggefuttert hatte. Welche Erlösung, als sie endlich in die Schule gegangen war.

Emil stampfte die Treppe zu seiner Abteilung hoch, nickte prophylaktisch in jede Richtung und stieß „Hallo“ und „Morgen“ aus, ohne den direkten Augenkontakt zu suchen. Nicht, dass es hinterher hieß, er hätte versucht, jemanden anzubaggern.

Oben angekommen, marschierte er durch die Tür, die zu ihren Räumen führte, und lehnte sich gegen die nächste Wand, um kurz durchzuatmen. Leider war ihm keine Verschnaufpause gegönnt, denn zwei Beamte vom KK2 bogen in den Flur, also setzte Emil zum Endspurt an.

Im Büro seiner Truppe herrschte, wie er verwundert zur Kenntnis nahm, bereits rege Betriebsamkeit. „Hat die Spusi den Bericht schon geschickt?“, rief er in die Runde und knallte die Tür hinter sich zu.

Ulf Sonntag sah von seinem Stuhl auf, ein spöttisches Zucken im Mundwinkel. „Ich wünsche auch einen guten Morgen.“

„Ist das die Antwort auf meine Frage? Trete denen in die Eier, wenn’s sein muss.“

Marion kam herein, wie immer in einer knallbunten Weste, von der sie offenbar eine ganze Kollektion besaß, und trug mehrere dampfende Tassen vor sich her. „Hier hast du erst mal Kaffee, Ego.“

„Hast du auch Milch?“

„Ich hab’ fettarme.“

„Das sehe ich. Ich habe gefragt, ob du Milch hast.“

Seine Kollegin schaute perplex. „Verstehe ich nicht.“

„Schon gut.“ Die Bemerkung war geschmacklos gewesen, dachte Emil, und unnötig dazu, denn der Rheinländer sagte:

„Ja, der Bericht ist da, Eure Hoheit.“

„Das klingt schon besser. Und, was haben wir?“

Marion verteilte die Tassen. „Die Spur im Keller ist heiß“, erzählte sie. „Der Urin lässt sich bis dorthin nachweisen. Sogar an der Kellertür befindet sich ein winziger Rest davon.“

„Was ist mit der DNA?“

„Es heißt, aufgrund der Menge ist eine Analyse in jedem Fall möglich. Ich habe der KTU Bescheid gegeben. Aber das dauert, wie du weißt.“

„Dann suchen wir also eine Person mit Harninkontinenz. Was für eine enorme Erleichterung.“ Emil schüttete zwei Päckchen der fettarmen Milch in seinen Kaffee und setzte sich auf den nächstbesten Stuhl.

Marion kommentiere seinen Ausspruch nicht, aber ihr Stirnrunzeln drückte aus, dass er ihr nicht gefiel. „Dann zu deinem Gestank, den du in Lothar Mennes Küche wahrgenommen hast: In der Vorratskammer hat man tatsächlich frisch Erbrochenes gefunden, das könnte es sein, oder?“

„Na, das ist doch mal was. Es hat jemand hingekotzt, auf deutsch gesagt. Wer und warum, möchte ich gerne wissen.“

„Vielleicht dieselbe Person, die in den Flur gepinkelt hat“, schlug Helmut Lingott vor, der denselben beigefarbenen Strickpullover trug wie am Tag zuvor. Welch’ eine Wohltat fürs Auge.

„Auch das wird die KTU analysieren.“ Marion schaute in den Bericht und blies dabei in ihre Kaffeetasse. „So, was noch? Genau, im Garten gibt es Spuren, eine ganze Reihe Abdrücke, davon ein ganz brauchbarer, ein Sportschuh mit mindestens Größe Dreiundvierzig.“ Sie hielt Emil die Seite hin, auf der das Schuhprofil abgebildet war.

„Das nützt aber nichts, wenn man keinen Abdruck hat, mit dem man ihn vergleichen kann, richtig? Was ist mit der Tatwaffe? Irgendwas dazu?“

„Nein, das gesamte Grundstück ist abgesucht worden, ebenso die Nachbargrundstücke, ohne Erfolg. Soll die Suche ausgeweitet werden?“

Emil konnte beim derzeitigen Ermittlungsstand einen solchen Einsatz nicht rechtfertigen. Er fragte, was es in dem Haus sonst gegeben hätte.

„In der Wohnung hauptsächlich die Fingerabdrücke von Lothar Menne und einige unbekannte. An den Schränken allerdings relativ wenige. Die Täter werden Handschuhe getragen haben. Wir werden trotzdem einen Abgleich mit den Datenbanken machen.“

„Und weiter?“

Marion blätterte um. „Von den Scherben im Kellerflur wissen wir bereits. Es sollen übrigens Vasen gewesen sein, mehrere sogar. Manche haben kleine Aufkleber, auf denen sinnigerweise Flora steht. Der Kratzer an der Autotür wird ebenfalls erwähnt, aber den kennen wir auch schon.“

„Was zum Alter?“

„Vermutlich mehrere Wochen alt. Übrigens, bevor du fragst: Ich bin noch nicht dazu gekommen, mich um die Werkstätten zu kümmern.“

„Also ist der Kratzer nicht erst in der Nacht des Todes entstanden.“

„Warum ist der Kratzer interessant?“, wollte Ulf wissen.

Emil erklärte ihm, was er gestern zu Marion gesagt hatte, nämlich, dass jemand absichtlich das Auto beschädigt haben könnte, womöglich, weil er einen Groll gegen Lothar Menne hegte. „Wir müssen uns alle Richtungen offenhalten.“

„Verstehe.“

„Ihr seid doch nach unserer Besprechung noch mal hingefahren. Gibt’s was Neues?“

Ulf setzte sich aufrecht hin. Vor ihm lag eine Mappe, in die er jedoch nicht schaute. „Die Nachbarn rechts von Lothar Menne sind zur Zeit im Urlaub“, erzählte er. „Und gegenüber wohnt ein älteres Ehepaar, das aber nichts gesehen oder gehört haben will.“

 

„Die Leute nebenan sind im Urlaub und bei ihm wird eingebrochen“, sinnierte Emil.

„Genau. Die Frau ein Haus weiter sagt aus, sie hätte jemanden schreien hören, das wäre aber deutlich früher gewesen als das Poltern, das Frau Krull meint, so gegen sieben oder halb acht.“

„Das könnte was mit unserem Fall zu tun haben. Könnte auch nicht. Weiter.“

„Ein Mann hat sich über die Jugendlichen beschwert, die angeblich immer bis spät in die Nacht mit ihren Skateboards Lärm machen.“

Emil schob seine Kaffeetasse von sich weg, die dabei überschwappte und eine Spur zog. „Das ist ja alles sehr nett. Aber was wirklich Aufschlussreiches hat keiner gesehen. Man gibt zwar vor, aufeinander zu achten, ja, man würde es sogar beschwören. Nur in Wahrheit tut es doch niemand. War’s das?“

„Es gibt was Neues zum Lieferwagen.“ Ulf hielt inne.

„Ach ja und was? Soll ich dreimal raten oder warum machst du eine Pause?“

Der Kollege ließ sich nicht beirren und redete normal weiter. „Du wolltest doch, dass ich mit der Frau rede, die ihn gegen Nachmittag gesehen hat und ein weiteres Mal später am Abend. Sie konnte mir aber nicht mehr sagen als ebendies. Ich bin dann weitergegangen. Und Bingo: Die Frau am Anfang der Berliner Straße/Ecke Schöne Aussicht ist sich hundertprozentig sicher, dass es sich um einen Renault handelt.“

„Na, das grenzt die Suche ja enorm ein.“

„Was, willst du Fotos oder wie?“

„Klar, immer her damit.“

Ulf hob lässig eine Augenbraue und drehte die Mappe um. „Hier.“

Emil war überrascht. Natürlich hatte er es für einen Scherz gehalten, einen dummen Spruch. Er konnte Ulf nicht einschätzen. Zuerst seine ablehnende Haltung bei der Gruppenbesprechung gestern und dann der doofe Kommentar im Anschluss in Emils Büro. Die Rheinländer waren doch sonst gar nicht so. „Moment mal. Was für ein Kind?“

„Hörst du nicht zu? Die Frau hat gestern Abend ihr Kind vorm Wohnzimmerfenster fotografiert. Und heute Morgen beim Durchblättern der Bilder auf der Kamera ist ihr aufgefallen, dass ein Lieferwagen mit drauf ist, der an der Straße gestanden hat.“

Emil betrachtete die Fotos, die der Kollege auf DIN-A4-Format vergrößert hatte. Ein schickes Wohnzimmer. Ein hässliches Kind. Draußen vor dem Fenster im Schein der Straßenlaterne stand tatsächlich ein Lieferwagen. Dem Symbol auf dem Kühler nach ein Renault, älteres Modell. Das Kennzeichen sah mit etwas Fantasie aus wie PB für Paderborn, dann M irgendwas. Man konnte es nicht wirklich erkennen, da der Wonneproppen mit seinen dicken Backen den Großteil verdeckte. Vor allem war das Bild viel zu dunkel. „Meinst du, das kriegt man deutlicher hin?“

„Mal sehen, was sich mit der Technik machen lässt.“

„Und die Frau hat nicht gewusst, was der Wagen dort gemacht hat?“

„Thorsten hat sie das mehrfach gefragt. Sie konnte sich nicht erinnert, ihn gesehen zu haben. Nur halt auf dem Foto.“

„Sag mal, wo steckt Thorsten eigentlich?“

„Der ist vorhin zurück nach Hause gefahren. Ihm ist schwindelig geworden.“

Emil ersparte sich einen Kommentar dazu. Dass ihm das Fehlen des Kollegen bis eben nicht aufgefallen war, sollte ihm zu denken geben. Wenigstens hatte Thorsten vor seinem Abzug herausgefunden, dass Lothar Menne nun doch Besitzer eines eigenen Mobiltelefons gewesen war. Sogar den Auftrag zur Ortung hatte er erteilt. Aber das könnte dauern, teilte Ulf ihm mit. „Ist klar. Und was ist mit den Verbindungsdaten vom Festnetzanschluss?“

„Die Telekom ist dabei“, antwortete Marion.

„Ach, wie gütig von denen. Macht Druck, verdammt. Gibt es denn nichts, mit dem wir zur Abwechslung was anfangen können?“

„Doch“, warf Helmut ein. „Unser Flugbegleiter, Herr Meyer, hat sich gemeldet. Er ist seit gestern Abend wieder im Lande. Ich habe ihm nicht gesagt, worum es geht. Nur, dass jemand vorbeikommen wird.“

„Ok. Gut. Das ist doch mal was.“

Helmut drehte seinen Kopf zur Tür, Emils Augen folgten und blieben an der winzigen Frau haften, die im Türrahmen aufgetaucht war. Pia Zertidis, die Kollegin aus der Zentrale, war kleinwüchsig, aber ziemlich oho. Sie tat, als würde sie anklopfen, und sagte dabei: „Klopf, klopf. Ego, hast du eine Sekunde?“

Emil nahm sich zusammen und machte ihr zuliebe ein halbwegs freundliches Gesicht. „Pia, was gibt’s Gutes?“

„Im Foyer wartet ein Björn Röper, der dich sprechen möchte.“

„Björn Röper?“

„Von der Darlehnskasse Brakeler Land.“

In seinem Gehirn fing es an zu rattern. „Dick, wenig Haare?“

„Genau der.“

„Hat er gesagt, worum es geht?“ Er merkte, dass es Pia allmählich unangenehm wurde, dort zu stehen und von allen angegafft zu werden.

„Nur, dass er dich unbedingt sprechen will.“

„Ja gut. Ich komme gleich runter.“

Sie nickte kurz und verschwand wieder.

„Björn Röper?“, fragte Marion in die Runde. „Was will der denn?“

„Sicher nicht die Details zu Lothar Mennes abgelehnten Kreditantrag vorbeibringen.“ Emil erinnerte sich, dass der Bankmitarbeiter bei ihrem Gespräch am Vortag eher wortkarg gewesen war, was daran gelegen haben mochte, dass dessen Vorgesetzte wie ein Anstandswauwau neben ihm gestanden hatte. „Also noch mal zurück. Lothar Menne hat Kontakt zu diesem Flugbegleiter gehabt. Was dahintersteckt, werden wir hoffentlich bald geklärt haben. Dann wissen wir, dass er jeden Montagabend den Tierpark Sababurg besucht hat, um bei der Eselfütterung mitzuwirken. Immer bis halb acht, dann ist er pünktlich zur Tagesschau zurück in Warburg. Nur ausgerechnet gestern ist er schon um viertel nach sechs abgehauen. Warum, frage ich mich?“

„Ihm ist schlecht geworden“, meinte Ulf. „Wisst ihr, wie Eselkacke stinkt?“

„Sehr lustig, Kollege.“ Helmut machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das heißt, er kann frühestens um viertel vor sieben getötet worden sein, richtig?“

„Sehr richtig. Was laut Gievers im Zeitkorridor liegt.“ Beim Aussprechen des Namens fiel Emil ein, dass im Laufe das Tages die Leiche obduziert werden sollte. Er war äußert gespannt, was dabei herauskam.

„Wenn ihr mich fragt, wollte er sich mit jemandem treffen“, sagte Marion.

Emil hob den Zeigefinger, um zu zeigen, dass er das ebenfalls vermutete. „Eine weitere Möglichkeit wäre: Jeder, der von seinen wöchentlichen Tierparkbesuchen gewusst hat, hätte nahezu risikolos bei ihm zuhause einbrechen können. Die Preisfrage lautet: Wer hat ihn so gut gekannt?“

Niemand antwortete. Warum, lag auf der Hand: Bislang hatten sie weder die Familie noch Freunde von Lothar Menne ausfindig machen können. Ob seine Bankkollegen oder die Nachbarn davon wussten?

Helmut hustete. „Ich sollte mich ja mit dem Thema Einbrüche näher beschäftigen. Es hat die letzten Monate in der Umgebung zahlreiche Fälle gegeben.“ Er erzählte, die wenigsten wären geklärt, und von den ungeklärten wären die meisten von der Art der Durchführung her zu verschieden. Er schlug vor, sich zuerst auf diejenigen zu konzentrieren, die eine Ähnlichkeit aufwiesen.

„Mach das. Und zwar mit Volldampf.“ Emil betrachtete Lothar Mennes Foto an der Aufstellwand. Die drei Bilder, die sie gestern Nachmittag aus dessen Haus mitgebracht hatten, hingen inzwischen daneben. „Hast du auch in seiner Vergangenheit gestochert? Die Orte aus seinen Bewerbungsunterlagen?“

„Bisher nur in seinem Geburtsort, diesem Lüdersen“, erwiderte Helmut. „Ich habe mit den Kollegen des zuständigen Kommissariats Springe telefoniert. Lothar Menne ist 1988 von dort weggezogen, wohin haben sie nicht gewusst. Bis dahin hat er bei den Eltern gewohnt. Eine Sache könnte interessant sein: Es soll eine Nachbarin gegeben haben, die die Eltern mal angezeigt hat.“

„Die Eltern? Und warum?“

„Haben sie nicht sagen können, und die Unterlagen sind lange archiviert. Es hätte aber wohl irgendwas mit Lothars Kindheit zu tun. Ich habe gesagt, dass sie nachschauen sollen.“

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