Rabenvatersorgen

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„Das ist der Eindruck, den es auf die gemacht hat?

„Auf dich doch auch. Es ist alles durchwühlt und so. Hier sind ein paar Fotos, die ich vorhin gemacht habe.“ Der Kollege hatte sie bereits ausgedruckt, nahm Emil nicht unbeeindruckt zur Kenntnis, vermied jedoch, es zu zeigen.

„Auf mich hat es keinesfalls so gewirkt, dass wirklich alles durchwühlt wurde“, sagte er stattdessen und überflog die einzelnen Aufnahmen. „Sein Portemonnaie zum Beispiel. Hätte ein Dieb das nicht mitgenommen? Hundertzwanzig Euro zusätzlich cash auf die Hand.“

„Das ging nicht mehr. Sie sind gestört worden.“

„Möglich, zugegeben. Aber nicht zwangsläufig. Also gut. Jemand muss checken, ob wir was Ähnliches schon im System haben. Einbrüche mit und ohne Todesopfer im Umkreis von Warburg und Umgebung. Und denkt auch weiter, über die Landesgrenze hinaus.“

„Das kann dauern.“

„Dann mach halt Druck.“ Emil wusste leider, dass die nahe Grenze zu Niedersachsen und Hessen eine riesige Barriere bei der Verbrechensbekämpfung darstellte. Bis die Kollegen auf der anderen Seite ihre Anfragen bearbeitet hätten, konnte viel Zeit vergehen. Ein gemeinsames EDV-Programm war zwar vor Ewigkeiten in Aussicht gestellt worden, aber seitdem Zukunftsmusik. „Was ist eigentlich mit seinem Handy?“

Marion zuckte mit den Schultern.

„Also wir haben keins gesehen, oder?“, sagte Ulf.

Thorsten neben ihm schüttelte den Kopf.

„Dann überprüft das. Schaut zur Not ins Telefonbuch. Oder hier rein.“ Emil zeigte auf einen Hefter mit Kontoauszügen, den sie aus dem Schreibtisch im Wohnzimmer mitgenommen hatten. Wenn das Handy gestohlen war, würde ein Dieb zwar in den meisten Fällen die SIM-Karte entfernen, aber man konnte nie wissen. Es war einen Versuch wert.

„Gibt es eigentlich keine Zeugen für die Zeit?“, fragte Thorsten, der demnach aus seinem Wachkoma erwacht war. Allerdings sah er leicht käsig aus. Der Kollege wurde doch nicht etwa auch krank?

„Ich hab’ schon gedacht, das interessiert keinen. Folgendermaßen.“ Emil hatte vorhin mit den Warburger Kollegen telefoniert, die routinemäßig die umliegenden Häuser in der Berliner Straße abgegangen waren. „Die Befragung hat ergeben, dass eine Nachbarin am Tatort ein unbekanntes Fahrzeug, der Beschreibung nach eine Art kleiner Lieferwagen, gesehen haben will. Sie kann sich weder an den Fahrzeugtyp noch ans Nummernschild erinnern, nur, dass es ein auffallend schäbiges Exemplar gewesen ist. Die Frau hat es am Nachmittag gesehen und am Abend noch mal, wo es ganz langsam durch die Straße gefahren sein soll. Ich finde, ihr solltet bei der Frau mal nachhaken.“

Thorsten schaute zu seinem Sitznachbarn, als wartete er auf eine Bestätigung.

„Geht klar“, sagte Ulf.

„Sehr schön.“ Emil klatschte in die Hände, aber nicht vor Beifall. „Dann wissen alle, was sie zu tun haben? Ran an die Arbeit, hopphopp!“

Ohne die Reaktion abzuwarten, verließ er die Runde und betrat sein kleines Büro, das unmittelbar ans Besprechungszimmer grenzte. Den Anblick, wie die Kollegen in Zeitlupe von ihren warmgesessenen Plätzen aufstanden und dabei ächzten wie Invaliden, wollte er sich unbedingt ersparen.

Der verglaste Raum war dunkel, trotzdem sah man auf den ersten Blick die ungewöhnliche Ordnung, wie man sie nur bei längerer Abwesenheit schuf, wenn alles abgearbeitet werden musste und für die Putzfrau nichts herumliegen durfte. Oder dass sich die Blätter des Drachenbaums, ein Geschenk der Abteilung zu seinem Vierzigsten, bräunlich verfärbt hatten. Emil hatte vergessen, wann er ihn zum letzten Mal gegossen hatte.

Eigentlich war die Besprechung ganz gut gelaufen, resümierte er und warf seine Unterlagen auf den Schreibtisch. Zumindest waren die Sprüche keine anderen als sonst gewesen. Vielleicht hatte er sich umsonst so viele Gedanken gemacht.

Beflügelt von dieser Vorstellung, nahm Emil das Telefon, um seiner Kollegin vorzuschlagen, zurück nach Warburg zu fahren. Als es gegen die Fensterschreibe klopfte, sah er auf. Ulf stand auf der anderen Seite.

„Was ist?“, wollte Emil wissen.

Der Rheinländer stellte sich in den Türrahmen. „Was du da am Freitag gesagt hast, Ego. Ich finde das nicht gut.“

„Ach nein?“

„Nein. Aber es passt zu dir.“

„Na, dann sind wir schon zwei, die das so sehen.“

Ulf schnaufte verächtlich. „Ja, klar. Dir werden deine Sprüche auch noch vergehen.“

6

Lothar Mennes Haus war zwar offiziell noch nicht freigegeben, aber ohne die Kollegen vom KK3 und vor allem die Spurensicherung konnten sie sich erheblich freier bewegen als am Vormittag.

Marion hatte keine Ahnung, was ihren Vorgesetzten hierher zurücktrieb, aber sie stellte es nicht in Frage. Vermutlich war es der Mangel an Alternativen: Der Bericht der Spusi stand aus, mit der Obduktion der Leiche war nicht vor morgen Nachmittag zu rechnen und Angehörige ließen sich keine finden.

Sie erreichten die Berliner Straße um kurz vor siebzehn Uhr. Die Jugendlichen, die Marion bereits früher am Tage in Aktion gesehen hatte, fuhren auf ihren Skateboards vorschriftsmäßig zur Seite, als ihr Auto sich ihnen näherte.

„Na, sind die auch schon wieder hier?“, hörte sie ihren Vorgesetzten sagen. Zwei Dumme, ein Gedanke.

Während der Fahrt hatten sie kaum miteinander geredet, von Emils ständigem Nörgeln über die angeblich so ätzende Fahrstrecke abgesehen. Der Verkehr zum Feierabend hatte es nicht besser gemacht und Marion daher die Ohren auf Durchzug gestellt oder vielmehr an ihren vorherigen Fall gedacht. Dass, wenn Lothar Menne nicht dazwischengekommen wäre, sie mit Sicherheit am Schreibtisch gesessen und zum x-ten Mal die Aktenlage studiert hätte. Etwas störte sie an der Aussage der Pflegerin Roswitha Hecker. Nämlich dass die Frau nicht davon abließ zu behaupten, zur Tatzeit vom Schwiegersohn der toten Seniorin gesehen worden zu sein. Nur dass der zum besagten Zeitpunkt auf einem Kongress in Berlin gewesen war, was ein Dutzend Zeugen bestätigen konnten. Vielleicht hatte Emil recht. Man musste auch einmal einen Schlussstrich ziehen.

Sie stiegen über das Absperrband, das quer über das komplette Grundstück gespannt war. Vor der Garage, die rechts an das Haus grenzte, stand ein hellblauer Ford Focus. Marion hatte sich Lothar Mennes Auto bereits angeschaut und nichts darin gefunden, was irgendwie von Interesse gewesen wäre, kein Müll, keine Zettel, auch nichts Persönliches, im Handschuhfach lediglich die übliche Bedienungsanleitung und ein Straßenatlas Deutschlands aus 2006. „Das kannst du vergessen“, sagte sie, weil Emil auf das Fahrzeug zuging und auf der Beifahrerseite stehenblieb.

„Ach ja? Und was ist das?“ Er streckte die Hand aus.

„Was ist was?“

„Na da!“

Weil ihr kalt war, machte Marion den Reißverschluss ihrer Weste zu, als sie um das Auto herumtrat. „Ach so, das. Ein Kratzer.“

„Und?“

„Keine Ahnung, Ego.“ Sie hasste es, wenn er mit ihr sprach wie mit einem Schulkind.

„Dann überleg halt mal.“

Marion fügte sich und betrachtete die Stelle mitten auf der Autotür genauer. „Ok, sie sieht nicht gerade frisch aus, würde ich sagen.“

„Nein, da sind eindeutig Schleifspuren. Er hat versucht, den Kratzer wegzupolieren.“

„Verstehe. Und welchen Schluss ziehen wir daraus? Dass er Probleme mit dem Einparken hatte?“

Emil legte den Kopf schief. „Genau. Oder jemand mochte ihn nicht.“

Das fand sie in der Tat interessant. „Würde mich nicht wundern. Irgendwie ist mir der Typ unheimlich.“

„Er ist tot.“

„Das ist nicht neu für mich.“

„Check mal, ob er deswegen in einer Kfz-Werkstatt gewesen ist. Oder vielleicht wegen was anderem. Dann können wir es zeitlich eingrenzen.“

Marion notierte sich das im Kopf und folgte ihrem Vorgesetzten ins Haus.

Der Geruch, der ihnen entgegenstieg, hatte sich in der Zwischenzeit nicht zum Vorteil entwickelt. Kein Wunder, dachte sie und betrachtete den Teppichboden im Flur. Der Fleck darauf war kaum mehr zu sehen, nur ein Schild mit der Nummer Siebzehn erinnerte an den Urin. Das Warum und Woher galt es herauszufinden, ebenso, was es mit dem Gestank in der Vorratskammer auf sich hatte. Der Bericht der Spusi würde dazu hoffentlich bald Informationen liefern. „Was suchen wir überhaupt?“

Ihr Vorgesetzter ging zielstrebig ins Wohnzimmer und stieg über eines der Kissen, die überall verstreut herumlagen. „Hinweise“, sagte er.

„Sag an. Kannst du eine Spur konkreter werden?“

„Lothar Mennes Handy wäre für den Anfang nicht schlecht. Wenn er denn überhaupt eines besessen hat. Gibt’s dazu schon was Neues?“

Sie wusste, dass Helmut die Kontoauszüge bereits überflogen hatte. „Nicht wirklich. Zumindest keine Abbuchungen einer Mobilfunkgesellschaft. Er könnte eines zum Aufladen gehabt haben.“

„Habt ihr die Daten vom Festnetz angefordert?“

„Sind unterwegs.“

„Gespeicherte Nummern am Telefon?“

Marion verneinte. „Und das ist seltsam, oder? Jeder normale Mensch speichert doch die wichtigsten Nummer ab. Und laut Wahlwiederholung kann er in der letzten Zeit nur ein einziges Mal telefoniert haben. Eine Nummer in Trendelburg, der Anschluss gehört einem Patrick Meyer. Ich habe dort angerufen, es ist niemand erreichbar. Wahrscheinlich jettet er gerade durch die Welt.“ Sie erklärte, dieser Meyer würde bei Facebook regelmäßig Bilder von seiner Arbeit als Flugbegleiter posten.

„Was hat er denn mit dem zu tun gehabt?“

„Keine Ahnung.“

Ihr Vorgesetzter trat vor die Fotowand zwischen den Fenstern. „Und wer ist das hier?“

 

„Ein süßes Mädel jedenfalls.“

Emil nahm einen der Rahmen ab. Das Bild zeigte das Mädchen in einem roten Kleid, fröhlich lächelnd und mit einer Schultüte in den Armen. Kurzerhand öffnete er die Bügel, welche die Rückwand festhielten, und nahm das Foto heraus. „Na also“, stieß er aus.

„Hast du was entdeckt?“

„Könnte sein.“ Emil zeigte auf die Rückseite. Anabel bei der Einschulung stand dort geschrieben. Darüber war eine Kombination aus Zahlen und Buchstaben zu sehen, wie auf alten Fotoabzügen üblich, die aus einem Negativ entwickelt worden waren.

Sie öffneten die anderen Bilderrahmen. Auf dem Foto des Mädchens auf einem Pony stand unterhalb der Zeichenfolge leider nur Beim Reiten, auf dem von Mutter und Kind immerhin Mama mit Anabel. Ganz besondere Erwartungen hatten sie an das, welches besagte Mama, Baby Anabel sowie einen älteren Herrn zeigte. Drei Generationen glücklich vereint war dort zu lesen. Schön, aber wenig aufschlussreich. Doch derselbe Mann war ein weiteres Mal abgelichtet, mit seiner Enkelin allein, mindestens zehn Jahre später, und dieses Foto hatte als Text Anabel und Opa Wolfgang.

Emil steckte die Bilder ein. „Wir setzen Helmut darauf an. Vielleicht weiß man in dem Geburtsort von Lothar Menne etwas über diesen Wolfgang.“

„Oder wir erfahren etwas über die Codes auf der Rückseite.“

„Möglich. Aber da mache ich mir wenig Hoffnungen. Ich habe eine andere Idee.“ Er ging zur Schrankwand und durchsuchte die einzelnen Fächer.

„Und, lässt du mich an deiner Überlegung teilhaben?“

Emil ging zum Schreibtisch.

„Hallo, Erde an Ego.“

„Ich suche Akten, Unterlagen, was weiß ich. Haben wir nicht alle Ordner mit allem möglichen Zeug?“

„Was genau?“

„Sein Leben, verdammt. Das, was ihn ausmacht. Seine Versicherungen, Rechnungen, Steuerbescheide. Alles.“

Marion konnte sich vorstellen, was das für sie hieß: eine Nachtschicht einlegen, öde Akten durchforsten, am nächsten Tag alles gegenchecken, und wahrscheinlich kam doch nichts Brauchbares heraus. Dabei wollte sie am Abend mit Heike einkaufen gefahren sein.

Da es jedoch im gesamten Wohnzimmer nichts gab, was irgendwie nach Ordner aussah, schlug Emil vor, eine Etage höher weiterzusuchen. Er wollte auf Teufel komm raus etwas finden, spürte Marion. Hauptsache, es ging irgendwie weiter, was sie ihm in seiner Situation nicht verdenken konnte. Wahrscheinlich hätte er sonst die Flöhe husten gehört.

Die beiden hatten gerade die Treppe nach oben erreicht, als ein vertrautes Geräusch sie innehalten ließ. Ihr Blicke trafen sich.

„Na bitte.“ Emil rannte in den Flur zurück und nahm das Telefon. „Hallo?“

„Herr Menne?“, erklang eine Frauenstimme. Emil hatte den Lautsprecher aktiviert.

„Was gibt’s?“

Typisch, dachte Marion, vermied es aber, mit dem Kopf zu schütteln. Sich als jemand anderes auszugeben, war nicht die feine Art. Aber streng genommen hatte er das gar nicht.

„Hallo, hier spricht Silke Wrede. Ich habe kurz nach Mittag schon mal angerufen.“

„Ach ja? Da war ich nicht hier.“

„Sie haben nämlich gestern Ihre Tasche liegen lassen.“

„Wirklich. Und ich habe schon die ganze Zeit danach gesucht.“ Emil blinzelte ihr zu. Ihm schien das Telefonat sichtlich Spaß zu machen.

„Na, dann wissen Sie ja jetzt Bescheid. Ich habe Ihre Tasche hier an der Information hinterlegt. Kommen Sie vorbei, wann es Ihnen passt.“

„An der Information? Entschuldigen Sie die dumme Frage, ich bin etwas verwirrt ...“

„Habe ich das gar nicht gesagt? ’Tschuldigung. Hier ist Silke Wrede vom Tierpark Sababurg.“

„Der Tierpark Sababurg. Klar. Ich mache mich gleich auf den Weg.“

Emil legte auf. Sein Grinsen war nicht zu übersehen.

Marion ahnte, was als Nächstes kommen würde.

Keine zwei Minuten später saßen die beiden wieder in dem winzigen Golf Cabrio und fuhren, wie das Navigationsgerät ihnen vorschlug: quer durch Warburg, weiter in westliche Richtung durch zahlreiche kleine Ortschaften und Städte wie Liebenau und Hofgeismar, die bereits zu Hessen gehörten. Vierzig Minuten sollte die Strecke normalerweise dauern, doch mit Emil am Steuer rechnete Marion mit deutlich weniger.

„Darf ich das Radio anstellen?“, fragte sie, als der Desenberg an ihnen vorbeizog, das Wahrzeichen der Warburger Börde; eine Basaltkuppe, die Marion immer ein wenig an den Mont-Saint-Michel in der Normandie erinnerte. Eines Tages würde sie es hoffentlich schaffen, zur Burgruine hochzulaufen, denn der Ausblick von dort oben war sicher einmalig.

Emil gab ihr mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass er gegen ein bisschen Musik keine Einwände hatte, also drückte sie den Knopf. Das Display leuchtete auf und zeigte die Buchstaben CD, zeitgleich trällerte eine Frau drauf los, irgendeine italienische Arie, vermutete Marion, obwohl sie kein Wort verstand. „Was hörst du denn da?“

Ohne hinzuschauen, schaltete ihr Vorgesetzter um auf Radio, wo ein Moderator erzählte, dass das Wetter in den nächsten Tagen aprilmäßig bliebe. „Keine Ahnung. Die muss sich Barbara angehört haben.“

„Barbara, klar.“ Sie glaubte ihm kein Wort. Sein seltsamer Musikgeschmack war ihr bereits das ein oder andere Mal aufgefallen. „Wie geht’s ihr eigentlich?“, hörte Marion sich fragen und biss sich auf die Lippe.

„Woher soll ich das wissen? Wir haben uns getrennt, wie du weißt.“

„Ja, aber das heißt ja nicht zwangsläufig, dass man nie wieder Kontakt hat, oder? Und immerhin habt ihr eine Tochter.“

„Ach ja? Hab’ ich die?“

„Mann, Ego. Ist ja gut, ich hör’ schon auf.“ Sie pustete die Backen auf.

Emil überholte einen Traktor mit Kreiselegge. Offenbar hatte dieser Bauer den Wetterbericht verpasst. „Nein, im Ernst, habe ich die? Verena wollte bei ihrer Mutter bleiben. Was völlig richtig ist, wenn du mich fragst. Manchmal muss ich an früher denken, als sie noch klein war. Und ich frage mich, ob wir je glücklich gewesen sind.“

„Und?“

„Keine Ahnung. Gibt es das überhaupt? Wie heißt es so schön? Glücklich bis an ihr Lebensende wurde für die Märchenbücher erfunden, damit Kinder sich nicht umbringen, bevor sie zeugungsfähig sind.“

„Ach Ego. Du guckst zu viel Fernsehen. Ich wollte auch nur mal gesagt haben, dass ...“ Marion hielt inne. Verdammt, was? Dass er ihr leid tat? Dass sie nicht mit ihm tauschen wollte? Sehr aufbauend.

„Ja?“

„... nun, dass sich für mich nichts ändert. Ok? Und für die meisten anderen auch nicht. Ulf-Thorsten und so, meine ich. Du musst ihnen nur etwas Zeit geben, sich an einen schwulen Vorgesetzten zu gewöhnen. Hey, weißt du noch? Genau das hast du damals zu mir gesagt. Also ohne das schwul natürlich.“ Marion erinnerte sich gut daran, wie er fast als einziger zu ihr gehalten hatte, als sie vor drei Jahren nach Höxter versetzt worden war, voller Komplexe, als einzige Frau im Team akzeptiert zu werden, besonders, da ihr Aussehen gewisse abgedroschene Vorurteile heraus­zufordern schien.

Dem Gesichtsausdruck nach konnte Emil sich ebenfalls daran erinnern. „Sag, wie geht es Heike?“, fragte er. „Kommt sie mittlerweile zurecht?“

„Ja, kommt sie. Lenk nicht ab. Wir wollen jetzt nicht von mir sprechen.“

„Wir wollen auch nicht von mir sprechen. Du kannst doch nicht deine Situation mit meiner vergleichen.“

„Nein, da hast du wohl recht.“ Wie dumm von mir, fügte Marion in Gedanken hinzu, stellte das Radio lauter und drehte den Kopf zum Fenster. Ihr Vorgesetzter hatte manchmal das Talent, ein Gefühl wie eine Seifenblase platzen zu lassen.

Als sie den großen Parkplatz des Tierparks Sababurg erreichten, brach die Dämmerung bereits herein. Die Zweige der Birken tanzten im Wind, das angrenzende Waldstück, das Urwald genannt wurde, rauschte, doch glücklicherweise blieb es trocken. An Wochenenden parkten bei gutem Wetter sogar auf der gegenüberliegenden Wiese massenhaft Autos. Jetzt im März unter der Woche waren nur eine Handvoll Fahrzeuge zu sehen. Dazu kam, dass es kurz vor Kassenschluss sein musste.

Eine Tafel am steinernen Eingangstor zeigte die beeindruckende Jahreszahl 1571. Marion wusste, dass der Tierpark zu den größten und ältesten in Europa gehörte. Emil und sie begaben sich zu einem Holzhäuschen und zeigten der Dame an der Kasse, die erst noch zwei Kindern Lutscher verkaufen musste, ihre Ausweise. Das Informationshäuschen und Frau Wrede? Die Dame schien eine Spur irritiert.

Man musste die Sittich-Welt rechts liegen lassen und durfte auch nicht weiter zum neuen Erdmännchen-Gehege gehen, von dem Marion bereits von ihrer kranken Kollegin Tanja gehört hatte. Eine lange Eichenallee führte in den Park hinein und verdeutlichte eindrucksvoll dessen Dimensionen. Eine Windbö fegte hindurch, als genau vor ihren Füßen eine Mutter anhielt, um ihren Kind die Nase zu putzen.

Emil sprang genervt zur Seite. „Was fressen eigentlich mongolische Rennmäuse?“, fragte er, als wäre es das Normalste von der Welt.

„Was ist los?“

„Ich habe eine in meiner Wohnung. Eigentlich hatte ich sie Verena geschenkt. Doch Barbara wollte sie nicht mehr im Haus haben.“

„Und du hast die Maus noch nicht gefüttert?“

„Nein.“

„Wie lange schon nicht mehr?“

„Seit sie da ist?“

„Mein Gott, Ego. Die braucht doch auch Auslauf oder nicht?“ Marion schüttelte den Kopf.

Sie betraten ein Fachwerkhaus mit flatterndem Stoffbanner an einer Seitenwand, das ein großes I zeigte. Das Deelentor war durch eine moderne, farblich nicht zum Rest passende Glaskonstruktion ersetzt worden. Halogenstrahler erhellten es indirekt und eine Spur zu dürftig, was wahrscheinlich auch der Rentner fand, der sich eine der ausgelegten Broschüren dicht vor die Brille hielt. Seine Ehefrau winkte mit einem kleinen Wolf, der wie andere Holzfiguren, Postkarten, Bücher und Honig zum Verkauf stand, und rief „Guck mal, Ernst, ist der nicht putzig?“ Doch Ernst wollte keinen putzigen Holzwolf haben und ging samt Geldbörse nach draußen, seine Frau folgte einen Moment später.

Emil begab sich zum Tresen und präsentierte seinen Ausweis.

„Polizei?“

„Ja. Ich will hier eine Tasche abholen.“

Die junge Frau, die in ihrem schicken Kostüm und der Hochsteckfrisur fast wie eine Stewardess wirkte, schaute ihn verwirrt an.

„Sind Sie Frau Wrede?“

„Ja?“

„Wie haben vorhin miteinander telefoniert.“ Ihr Vorgesetzter erklärte den Sachverhalt. Marion hielt für alle Fälle Notizblock und Stift bereit und beobachtete die Reaktion der Frau.

Frau Wredes Gesicht trübte sich geringfügig, wie es typisch war für eher flüchtige Bekanntschaften. Ob mehr dahintersteckte, blieb abzuwarten. „Das ist ja furchtbar“, sagte sie. „Wer tut denn so was?“

„Ist Herr Menne öfter in den Tierpark gekommen?“

„Oh ja. Er wollte immer nach Roland sehen.“

„Roland?“

„Genau.“

„Und, können wir diesen Roland vielleicht sprechen?“

„Nun, das dürfte schwierig werden. Aber Sie können ihn sehen.“ Frau Wrede gab ihrem Vorgesetzten ein paar Sekunden Bedenkzeit, ehe sie erklärte: „Roland ist ein Esel.“

Marion stieß einen Lacher aus.

„Unser ältester, um genau zu sein. Herr Menne hat eine Patenschaft für ihn übernommen.“

Genauso gut hätte sie behaupten können, dass Lothar Menne abends im Ballettröckchen aufgetreten wäre. „Eine Patenschaft für einen Esel“, wiederholte Marion.

„Ja, genau.“ Frau Wrede schien nicht zu verstehen, was man daran lustig finden konnte.

Emil offenbar ebenso wenig. „Bedeutet Patenschaft, dass er sich um ihn kümmern musste oder wie?“

„Nein, nein, es ist eine rein finanzielle Beteiligung. Man überweist einmalig einen bestimmten Betrag, der davon abhängt, welches Tier man unterstützen möchte, und ist für ein Jahr offizieller Pate.“ Sie erzählte, es gäbe dann eine Urkunde sowie eine Jahreskarte für freien Eintritt. Auf diese Weise konnte man sich regelmäßig nach dem Wohlergehen des Patentiers erkundigen.

Emil fragte, ob Lothar Menne am Vortage noch bei seinem Esel gewesen wäre.

„Ja, wie immer montags am späten Nachmittag.“

„Entschuldigung, er ist jeden Montag hier gewesen?“ Marion konnte das schwerlich glauben.

„Ja.“

„Allein?“, hakte Emil nach.

„In letzter Zeit schon.“

 

„Und davor?“

Silke Wrede überlegte. „Nun, ab und zu hat ihn eine Frau begleitet. So in seinem Alter.“

„Können Sie sie beschreiben?“

„Ja. Eine mit Hut.“

„Schon wieder diese Frau mit Hut!“, rief Marion und fragte sich, wer heutzutage überhaupt noch einen trug, außer manche älteren Leute. Jedenfalls fiel man damit auf und blieb in Erinnerung, was in ihrem Fall durchaus nützlich sein dürfte.

Ihr Vorgesetzter wollte wissen, wie gut Frau Wrede ihn gekannt hätte.

„Nicht sehr. Wir haben uns nur drei, vier Mal kurz unterhalten. Wenn, dann hat er mit Alexander zu tun gehabt. Dem Tierpfleger.“

„Ist er da?“

Die junge Frau wurde aus unerfindlichen Gründen rot. „Alexander? Ja, er wird bei den Steinböcken sein, da ist er zumindest eben gewesen und hat das Gehege und den Zaun kontrolliert. Das dauert, Sie können hingehen, wenn Sie möchten.“ Frau Wrede bückte sich und hievte eine Tasche auf die Theke. Es war eher ein Rucksack aus grünem Kunststoff, mittelgroß und ziemlich alt. „Hier, das ist das gute Stück.“

Marion bedankte sich mit einem Lächeln.

„Und, was ist drin?“, fragte Emil, nachdem sie beide gegenüber des Fachwerkhauses auf einer Holzbank Platz genommen hatten. In der Zwischenzeit waren überall im Park die Laternen angegangen. Das letzte Tageslicht verschwand allmählich, und die Leute schlenderten eher Richtung Ausgang als hinein. Vorm Kiosk hatte sich eine Menschentraube gebildet, wahrscheinlich, um die letzten Chance auf Pommes zu nutzen.

Marion öffnete den Verschluss des Rucksacks und klappte den Deckel zurück, jedoch ohne hineinzusehen. „Sein Handy, was sonst.“

„Was noch?“

„Ein Schlüssel für ein Schließfach, in dem eine Million Euro liegen, die er in der Bank veruntreut hat.“

Emil lachte. „Du liest zu viele schlechte Krimis.“

„Und du zu wenige.“

„Ja, mag sein.“ Er nahm die Tasche und hielt sie so, dass Licht hineinfiel. „Na toll. Hier, schau selber!“

Marion hörte schon am Tonfall, dass es ein Reinfall war: zwei Packungen Taschentücher, Hustenbonbons und eine zusammengeknüllte Regenjacke. Kein Schlüssel für ein Bankfach. Kein Mobiltelefon.

Emil sprang auf. „Komm, lass uns diesen Alexander suchen, bevor es zu spät ist.“

Frau Wrede hatte ihnen den Weg zu den Steinböcken erklärt. Hinter der Greifvogelstation links abbiegen, um einen Teich herum und immer dem Berg folgen, auf dem die Sababurg thronte. Zur rechten Seite würde dann das Gehege mit den Ziegen und Eseln liegen, in das sie gerne hineingehen könnten, um Roland zu streicheln. Marion spürte, dass ihrem Vorgesetzten der Sinn derzeit eher nicht nach Tiere kuscheln stand. Auch sie selber war gespannt, ob die Begegnung endlich einen handfesten Hinweis bringen würde.

Das Gehege der Steinböcke war zum Glück nicht zu verfehlen. Auch den Mann in Latzhose entdeckten sie trotz Dunkelheit sofort, an seiner Stirnlampe. Er lief über die steile Wiese und hob ständig mit einer Schaufel etwas vom Boden auf, das er in eine Art Jutesack steckte. Dass er dabei nicht über einen der vielen Felsblöcke stolperte und hinabstürzte, zeugte von hoher Geschicklichkeit.

Emil winkte ihm zu oder vielmehr ihn zu sich heran, woraufhin er herunterkam und durch eine Tür im Gitter zu ihnen trat. Marion schätzte, dass man ihn über ihr Kommen in Kenntnis gesetzt hatte. Fröstelnd schlug sie die Arme um sich, trotz Jacke über ihrer Weste, denn der Wind wehte hier hinten spürbar kräftiger.

Ihr Vorgesetzter stellte sie beide vor und vergewisserte sich, mit wem sie es zu tun hatten.

„Ja, ich bin Alex“, erwiderte der Mann in einem Akzent, der vermutlich osteuropäischen Ursprung hatte. „Ölschläger“, denn Ihr Vorgesetzter wollte auch den Nachnamen wissen. Er war um die dreißig Jahre alt und trug einen dünnen Oberlippenbart, wie Marion länger keinen mehr gesehen hatte. Unter der Schirmmütze schauten dunkle Haare hervor.

„Herr Ölschläger, es tut uns leid, dass wir Sie hier draußen stören müssen.“

Der Mann stützte sich auf seiner Schaufel ab. „Kein Problem, ich bin jetzt eh durch. Man sieht ja auch nicht mehr viel. Nur noch abschließen.“

„Was haben Sie da gesammelt?“, wollte Marion wissen.

„Steinbockscheiße.“

„Ah, ja.“ Sie fragte nicht nach dem Grund. Konnte sie auch nicht mehr, denn Emil übernahm das Ruder.

„Herr Ölschläger, sagt Ihnen der Name Lothar Menne etwas?“

„Ja, natürlich. Silke hat mich gerade angerufen und erzählt, was los ist. Ich kann es nicht glauben.“ Er wischte sich mit dem Handrücken über Nase und Mund.

Marion mochte es, wenn man an dieser Stelle ein paar Gefühle zeigte. Ihr Vorgesetzter dagegen vergeudete in der Regel keine Zeit mit Gefühlsduseleien. „Stimmt es, dass er gestern noch hier gewesen ist?“, hörte sie ihn fragen.

„Ja, ist er. Wie jeden Montag. Man konnte die Uhr nach ihm stellen. Immer von halb sechs bis halb acht.“

„Und ist er auch sonst wie immer gewesen?“

„Ja, schon. Wir haben die Esel gefüttert. Er hat mir geholfen. Nun, eigentlich gibt er ihnen nur mal einen Apfel oder eine Möhre, mehr nicht, aber egal. Er hat gesagt, dass er einen anstrengenden Tag bei der Arbeit gehabt hat. Ach und dass sich demnächst einiges verändern wird.“

Marion wurde hellhörig. „Bei der Arbeit?“, hakte ihr Vorgesetzter nach, sonst hätte sie es getan. „Oder wie hat er das gemeint?“

„Keine Ahnung. Ich habe nicht nachgefragt.“

„Hat er viel über die Arbeit gesprochen?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Über anderes?“

Alexander Ölschläger verneinte.

„Wie war er denn so, als Typ?“

„Ruhig. Meist hat er nur rumgesessen und die Tiere beobachtet. Was mir recht war, ich habe ’ne Menge zu tun. Ich kümmere mich ja nicht nur um die Esel. Was soll ich sagen? Lothar war verrückt nach ihnen. Er war bei der Geburt des Eselfohlens neulich mit dabei und hat geheult wie ein kleiner Junge.“

Emil nickte bedächtig. Ob der letzte Satz ihn genauso überraschte wie sie? Marion hatte bisher kein allzu gutes Bild von Lothar Menne gewonnen. Dank Tierpfleger wandelte es sich gerade ein bisschen.

„Da, sehen Sie! Das ist Giovanni.“ Ein Steinbock mit beeindruckenden Hörnern kam zur Raufe, die gut drei Meter hinter dem Gitter auf einem Betonsockel stand und voll mit Heu war. Ölschläger beobachtete das Tier, er begutachtete es vielmehr und erklärte auch, dass das mit zu seinen Aufgaben gehörte. „Keine ganz einfache“, flüsterte er, „denn Steinböcke sind sehr scheu und lassen sich nicht anfassen.“

„Hat Lothar Menne Ihnen mal von seiner Familie erzählt?“

„Er hat Familie?“

Ihr Vorgesetzter kommentierte die Gegenfrage nicht. Die Aussage stand für sich, fand auch Marion. In diesem einen Punkt kamen sie anscheinend nicht weiter.

„Ich glaube, er war ziemlich einsam.“ Der Tierpfleger fuhr sich erneut mit dem Handrücken über Mund und Nase. „Deshalb ist er immer in den Park gekommen. Traurig, oder? Keiner da, der um ihn weint.“

Marion schätzte, dass ihr Gespräch mit diesem Satz in die Schlussphase geriet. Dann hätte sie in Ruhe nach Hause fahren können. Für den Einkaufsbummel wäre es natürlich zu spät gewesen. Aber für einen kurzen Abstecher im Heim würde die Zeit reichen. Der letzte Besuch bei ihrer Mutter lag schon eine Woche zurück.

Emil schien das ähnlich zu sehen, denn er fragte im Plauderton, warum hie und da noch Leute herumliefen, ob nicht längst geschlossen wäre um fast halb sieben.

„Um sechs macht zwar die Kasse zu und man kommt nicht mehr herein“, erklärte Ölschläger, „aber wenn man drin ist, kann man bleiben, so lang mal will. Das wissen viele nicht.“

„Also hat Herr Menne keine Sondererlaubnis oder Derartiges nötig gehabt, wenn er sich hier bis halb acht aufgehalten hat?“

„Nein, nein. Wobei mir gerade einfällt ...“

„Wir hören?“

„Gestern, da ist er früher als sonst gegangen.“

„Sieh mal einer an“, rief Marion.

„So um viertel nach sechs, denke ich.“

„Wissen Sie, warum?“, fragte Emil.

„Keine Ahnung.“