Rabenvatersorgen

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„Wenn du meinst.“

„Na, das klingt ja wirklich toll.“

Der Gegenverkehr kam näher und machte bereits Lichthupe. Emil drängte sich vor die Zugmaschine des LKW und trat auf die Bremse. Seine Geschwindigkeit beim Passieren des Ortseingangsschildes von Siddessen betrug vorbildliche fünfundfünfzig Stundenkilometer. „So war das doch gar nicht gemeint. Du kannst gerne vorbeikommen. Wir essen was zusammen, ok?“

„Ja, vielleicht. Wie geht’s eigentlich Puck?“

„Puck?“ Sie hatte ihn eiskalt erwischt. „Gut, gut.“

„Du hast ihn nicht auch vergessen, oder?“

„Nein, Quatsch. Er fühlt sich pudelwohl bei mir, was denkst du denn?“ Emil fragte sich, ob das bei Mäusen überhaupt möglich war. Und wann er Puck das letzte Mal lebend gesehen hatte.

„Na gut. Dann bis heute Abend.“

Knappe zehn Minuten später hatte er die Hauptstelle der Darlehnskasse Brakeler Land in der gleichnamigen Kleinstadt an der Nethe erreicht. Auf dem Lenkrad klebte ein Zettel als Erinnerungsstütze, mit vier großen Buchstaben darauf. Seine Tochter liebte Puck. Die Frage war, wie gut sie ihn kannte. Und ob sie es bemerken würde, sollte Emil ihn im Notfall durch eine neue Maus ersetzen.

Er stellte seinen Golf nicht auf dem Bankparkplatz ab, sondern auf öffentlichem Boden gegenüber. Noch wusste niemand in dem schuhkartonartigen, betongrauen Gebäude, dass ein Mitarbeiter am gestrigen Abend ermordet worden war und dass die Kripo in wenigen Minuten genau deswegen aufkreuzen würde. Emil hatte seiner Kollegin untersagt, ihren Besuch anzukündigen. Nur auf diese Weise würden sie echte Reaktionen erhalten, was in ihrem Job unverzichtbar war. Im Rückspiegel hielt er Ausschau nach einem nicht sehr formschönen Opel und machte sich darauf gefasst, eine Weile zu warten.

Ihm kam die Idee, schnell ein paar Einkäufe zu erledigen. Eine moderne Jeans, ein knalliges Poloshirt. Etwas Flottes, Farbiges, in dem er sich wohlfühlte. Und das sein neues Ich nach außen kehrte. Problem war, dass in Brakel die Geschäfte um diese Zeit Mittagspause hatten. Wenn sie nicht sowieso leer standen. Die Innenstadt drohte sich in ein Museum zu verwandeln mit dem Rathaus aus dem dreizehnten Jahrhundert, der gotischen Rolandsäule davor, der Alten Waage und den vielen denkmalgeschützten Fachwerkhäusern rund um den Marktplatz. Gucken, aber nicht anfassen. Emil schloss er für einen Moment die Augen.

Und zuckte zusammen, als jemand gegen die Scheibe klopfte und rief: „Eines Tages bringst du dich noch um mit deiner Raserei.“

„Sei froh, dann wird ’ne Stelle frei und du kannst aufsteigen. Wollen wir?“

Sie betraten die Hauptstelle der Darlehnskasse Brakeler Land durch den Eingang an der Westmauer. Der Schalterbereich war hell und freundlich gestaltet und erinnerte an eine Hotellobby. Gerade in ihren Hauptstellen kleckerten die Banken nicht, sie klotzten. Seine Kollegin sprach am sogenannten Service-Point eine Frau an, um ihr das Anliegen zu schildern, ohne zu viele Details preiszugeben. Emil ließ den Blick durch die große Halle wandern, in der ersten Etage eine Galerie mit direkten Durchgängen zu den wichtigsten Mitarbeitern, darüber eine Lichtdecke. Gut sieben Meter unter ihr lief eine Frau im Pelzmantel mit ihrem Hund an ihm vorbei und lächelte. Ein dicker Junge versuchte, das Tier zu streicheln und wurde sogleich angekläfft.

„Sie sagt uns Bescheid. Wir sollen so lange dort Platz nehmen“, gab Marion das Ergebnis wieder, und auch das verwunderte ihn nicht.

Emil konnte sich lebhaft vorstellen, was im Inneren der Bank nun ablief. Angestellte, die Panik bekamen, weil sie nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten und daher den nächsthöheren Vorgesetzten informierten, bei dem das Spiel von vorne losging. Selbst in der Eisdiele verhielt man sich der Polizei gegenüber professioneller. Er hoffte, dass seine Kollegin der Frau klargemacht hatte, dass sie mit dem direkten Vorgesetzten von Lothar Menne sprechen wollten, nicht mit dem Vorstand, irgendeinem Bereichsleiter oder gar dem Pressesprecher.

„Und du hast echt noch keine Möbel?“, fragte Marion, nachdem die beiden auf einer schwarzen Lederbank in der Mitte der Halle Platz genommen hatten und eine Minute lang ihren Gedanken nachgegangen waren.

Emil blickte der Frau mit dem Hund nach, die gefühlt zum zehnten Mal an ihnen vorüberging. Er konnte kleine Köter nicht ausstehen. „Wie kommst du darauf?“

„Nur so. Heute morgen am Telefon, da hast du mich gefragt, ob ...“

„Ich weiß“, unterbrach Emil sie. „Das sollte ein Scherz sein. Ich habe alles, was ich brauche.“

„Ich meine ja nur. Wir haben noch so einige Sachen auf dem Dachboden. Seit der Renovierung letztes Jahr. Wenn du willst, komm mal vorbei und schau dich um.“

„Das ist furchtbar lieb von dir. Ich ... Nun, ich weiß aber gar nicht, wie lange ich in der Wohnung wirklich bleibe.“

„Ach. Gefällt sie dir nicht?“

„Doch ... Was? Nein, genau, sie gefällt mir nicht.“

Marion hob die Augenbrauen. „Ach, jetzt verstehe ich. Meine Sachen sind dir wohl nicht gut genug? Das sind ganz normale Sachen. Heikes altes Sofa zum Beispiel. Das ist noch einwandfrei. Wir können es nur nicht mehr stellen.“

Zum Glück wurden sie unterbrochen.

Ob sie die Herrschaften von der Polizei wären, fragte eine Frau mit gedämpfter Stimme. Dem Aussehen nach stand sie kurz vor ihrer Rente, weswegen das Zittern der Hände altersbedingte Gründe haben konnte. Andernfalls bedeutete es: Sie war nervös. Die Fingernägel waren rot lackiert.

„Na, das wurde aber auch Zeit“, erwiderte Emil.

Seine Kollegin erhob sich. „Sind wir“, sagte sie höflich lächelnd.

„Ich soll Sie hoch zu Frau Niggemann bringen. Wollen Sie mir bitte folgen?“

Die Dame mit der schneeweißen Kurzhaarfrisur, dem Schild auf ihrer Bluse nach hörte sie auf den Namen Dagmar Wiemers, führte sie zu einem Fahrstuhl aus Glas, der sie alle drei in die nächsten Etage fuhr.

„Sind Sie eine direkte Kollegin?“, wollte Emil wissen.

„Von Herrn Menne?“

Er bejahte. So viel hatte man ihr bereits gesagt.

„Nicht direkt“, antwortete Frau Wiemers.

„Aber Sie kennen ihn doch sicher, nicht wahr?“

„Schon, aber nicht wirklich gut.“

Sie stiegen aus dem Fahrstuhl und folgten der Galerie bis zu einer der Türen, die ihm bereits unten aufgefallen waren.

„Ich kann Ihnen da leider gar nicht weiterhelfen.“

„Sie können oder sie wollen nicht?“

Ohne darauf einzugehen, führte Frau Wiemers sie durch ein Treppenhaus eine zweite Etage höher. Vor einer Glastür hielt sie an, um eine Karte, auf der Signum Dienste stand, gegen einen Sensor zu drücken, woraufhin sich die Tür mit einem Klacken öffnete. Dahinter lag ein weiterer Flur, schmal und verwinkelt. Von der Pracht in den Bereichen mit Publikumsverkehr war hier oben nicht mehr viel zu spüren.

„Frau Niggemann wird Ihnen gleich all Ihre Fragen beantworten“, sagte Frau Wiemers und steuerte zielstrebig auf die vorletzte Tür zu, bevor der Flur abknickte. Sie durchquerten einen kleinen Raum mit Kopiergerät und Papierschredder, traten in das Büro dahinter und blieben endlich vor dem nächsten Zimmer stehen.

Wie Emil seine Kollegin einschätzte, hatte sie den ganzen Weg über gegen den Drang ankämpfen müssen, etwas Sinnhaftes wie „Hier kann man sich verlaufen“ oder „Und wo geht’s zum Tresor?“ von sich zu geben. Solange er die Ermittlungen leitete, wurde eben nach seiner Devise gefahren.

Obwohl die Tür offen stand, klopfte Dagmar Wiemers gegen den Türrahmen. „Frau Niggemann?“, rief sie der Frau am Schreibtisch zu und klang erleichtert, dass man ihr die schwere Last nun abnehmen würde. „Das sind die Herrschaften von der Polizei, die mit Ihnen sprechen wollen.“

Emil bedankte sich für die Ankündigung, wenngleich die Wortwahl auf Dauer eintönig wurde, und wartete, bis Frau Wiemers gegangen war. „Aus Ihrer Mitarbeiterin kriegt man nicht viel raus“, sagte er und stellte sich mit Namen und Dienstgrad vor. „Und das ist meine Kollegin Frau Redeker.“

Frau Niggemann trat mit einem Lächeln um den Schreibtisch und reichte ihnen eine eisige Hand. Ein erster Eindruck, der täuschte. Sie war kein kalter Typ, ebenso wenig hübsch, aber auf gutes Aussehen kam es nicht an, wenn man aufsteigen wollte, obwohl es sicher kein Hindernis war. Auf eine gewisse Weise strahlte sie Kompetenz aus: Ihre Kleidung, ein blauer Hosenanzug, war zu unprätentiös, die dunkelblonden Haare zu gewöhnlich, die Fingernägel kurz und praktisch, wie Emil sehen konnte, als sie ihn und seine Kollegin mit einer Bewegung einlud, am runden Tisch in der Ecke Platz zu nehmen. Den Unterlagen auf ihrem Schreibtisch nach kam der Besuch nicht passend. Frau Niggemann hatte die Papiere auf die Schnelle sortiert, sie waren offenbar zu wichtig, um sie wegzulegen und zu riskieren, etwas durcheinander zubringen.

„Das ist auch nicht ganz einfach“, erklärte die Frau und legte ihre Hände zusammengefaltet vor sich auf den Tisch. „Verstehen Sie, keiner von unseren Mitarbeiter möchte einen Fehler machen. Sobald die Polizei da ist, gerät man schnell in Panik.“

„Ach ja. Und wieso?“

„Nun, das Bankgeheimnis schwebt über uns wie ein Damoklesschwert.“

Kein Zweifel, dass sie unmittelbar nach dieser Unterhaltung zum Vorstand müsste, um Bericht zu erstatten, und dass eine Aktennotiz verfasst würde, die gleichzeitig an alle wichtigen Stellen ging, dachte Emil.

„Also, womit kann ich helfen? Es geht um Lothar Menne, mehr hat man mir nicht verraten. Ich nehme an, dass etwas passiert ist, wenn Sie vorbeikommen.“

Seine Kollegin legte ihren Block bereit.

 

„Das ist leider richtig“, sagte Emil. „Herr Menne ist tot.“

„Was? Und wie? Ich meine, durch ein Verkehrsunfall oder ...?“

„Nein. Wie es aussieht, ist er einem Verbrechen zum Opfer gefallen.“

„Verstehe.“ Völlig unerwartet stand die Frau auf und ging zum Fenster. „Jetzt ... Jetzt wird mir natürlich klar, warum er heute nicht zur Arbeit erschienen ist, ohne sich abzumelden. Bevor Sie nachfragen, das war absolut untypisch für ihn“, sagte sie mit dem Rücken zu ihnen.

„Ach ja?“

„Ja, er war der Inbegriff der Zuverlässigkeit. Ich habe mir bereits Sorgen gemacht. Und Sie glauben, dass sein Tod etwas mit seiner Arbeit zu tun hat?“

„Gäbe es dafür denn einen Grund?“

Frau Niggemann fuhr herum. Der Schock war ihrem Gesicht abzulesen, obschon sie sich um Fassung bemühte. „Nein, natürlich nicht. Ich meine nur, weil Sie zu uns gekommen sind.“

Emil fragte sich, ob das der Wahrheit entsprach, und ermunterte sie zum Weiterreden, indem er schwieg.

„Das liegt daran, dass wir die Angehörigen von Herrn Mennes noch nicht ermitteln konnten“, plapperte seine Kollegin munter drauf los. „Wissen Sie vielleicht, ob es welche gibt?“

„Wie? Nun, er hat eigentlich nicht viel über sein Privatleben gesprochen. Ich habe immer den Eindruck gehabt, dass er das nicht wollte. Und da habe ich nicht nachgehakt.“

„Warum nicht?“, fragte Emil.

„Weil man irgendwann aufgibt? Man fragt ein paar Mal und bemüht sich, aber wenn nichts kommt ... Das ist doch normal, finden Sie nicht?“

„Und das heißt, auf die Frage meiner Kollegin bezogen?“

„Ob es Angehörige gibt? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Vielleicht fragen Sie in der Personalabteilung nach. Dort wird man das sicher beantworten können.“

„Hat er mal eine Tochter erwähnt?“

Die Frau überlegte kurz. „Nein.“

Dass eine Vorgesetzte von etwas so Grundlegendem keine Ahnung hatte, war für Emils Empfinden schwer nachvollziehbar. Falls es stimmte, lautete die Frage, warum Lothar Menne das Thema Privates so stur vermieden hatte. „Was können Sie uns sonst über ihn sagen? Abgesehen von den Dingen, die wir in seinen Personalunterlagen finden, meine ich.“

„Ich fürchte, nicht viel.“

„Haben Sie Ihn denn gar nicht gekannt?“

„Doch, natürlich.“ Als wäre Frau Niggemann die letzte Äußerung peinlich, setzte sie sich zu ihnen an den Tisch zurück. „Er hat seit etwa fünf Jahren bei uns gearbeitet. Abgesehen von seiner ... ich nenne es mal etwas zurückhaltenden Art ist der Umgang mit ihm immer angenehm gewesen. Tja, was soll ich sagen? Herr Menne ist als gewissenhafter Mitarbeiter aufgetreten. Es hat nie irgendwelche Probleme gegeben. Wir alle werden ihn ... nun, sehr vermissen.“ Die Frau hüstelte.

Marion, die sich Notizen machte, sah von ihrem Block auf. Diese Beschreibung war so oberflächlich wie nichtssagend. „Ist er beliebt gewesen?“

„Nun, geschätzt. Ja, definitiv. Da fällt mir gerade etwas ein. Vor ein paar Tagen hat Herr Menne einen Termin bei mir beantragt. Er wollte mit mir reden.“

„Worüber?“

„Hat er nicht gesagt. Nur, dass es wichtig wäre.“

„Nur Sie beide?“

„Nicht ganz. Er wollte, dass jemand vom Personalrat mit daran teilnimmt.“

Das fand Emil in der Tat interessant, auch wenn sich im Nachhinein kaum herausfinden ließe, worum es dabei gehen sollte. Er bat Frau Niggemann, ihm kurz Lothar Mennes Aufgabengebiet zu erläutern. „Wir sind hier ja nicht im Schalterbereich, wenn ich das richtig einschätze.“

„Nein, eine Bank hat mehr als nur den Schalter. Das hier ist das sogenannte KM, das Kreditmanagement.“ Frau Niggemann erklärte, im KM würden aus Kreditanträgen die Beschlussvorlagen erstellt und alles weitere, was ein Kreditengagement mit sich zog, sprich Anfertigung der Verträge, Prüfung von Sicherheiten, Auswertungen der wirtschaftlichen Verhältnisse und so weiter. „Herr Menne ist für kleine bis mittlere Firmenkunden zuständig gewesen.“

„Also hat er mit den Kunden gesprochen oder wie muss ich das verstehen?“

„Eben nicht, das machen die Berater, die FKBs oder Firmenkundenberater. Ja, wir lieben hier Abkürzungen“, kam sie seiner nächsten Frage zuvor und lächelte sogar, offenbar froh, dass es nun um ein Thema ging, zu dem sie etwas beitragen konnte.

„Das heißt, die Berater sprechen mit dem Kunden und treffen die Entscheidungen, wer einen Kredit bekommt und wer leer ausgeht?“, fragte Marion, die auf ihrem Notizblock eifrig mitschrieb.

„Ja, aber nicht allein. Wir haben seit vielen Jahren das sogenannte Zwei-Voten-Prinzip. Jede Seite, sprich FKB und KM, muss zu einem Kreditantrag einzeln Stellung nehmen. Kleinere Engagements gelten dann bei zwei positiven Entscheidungen automatisch als genehmigt. Größere gehen zum entsprechenden Kompetenzträger, zum Beispiel dem Vorstand.“

„Und wenn die Meinungen abweichen?“

„Dann wird geschaut, woran es liegt. Eventuell muss nachgesichert werden. Im schlimmsten Fall wird der Kredit nicht vergeben.“

Emil bezweifelte, dass eine Bank aus freien Stücken auf ein Geschäft verzichtete. „Kommt das häufig vor?“, wollte er wissen.

„Nun, in der Regel bespricht man sich vorher, damit es erst gar nicht eskaliert.“

„Ist es bei Herrn Menne denn mal eskaliert?“

„Nein.“

„Er hat immer alles so gesehen wie der Berater?“

Frau Niggemann wand sich, als hätte sie am liebsten die Antwort vermieden. „Nein, Herr Menne hat neulich eine Kreditentscheidung getroffen, die nicht mit dem Votum des FKBs übereingestimmt hat. Das würde ich jetzt aber nicht überbewerten.“

„Und worum ist es bei diesem Antrag gegangen?“

„Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Bankgeheimnis, Sie verstehen.“

Ein zweites Mal würde Emil diesen Einwand nicht gelten lassen. „Frau Niggemann, wir wissen doch beide, dass es im Strafgesetz kein Bankgeheimnis gibt. Sie sind zur Aussage verpflichtet. Und wenn Sie mit mir nicht reden wollen, dann mit dem Staatsanwalt. Ich kann das gerne organisieren und Ihnen eine Vorladung schicken, wenn Sie möchten.“

Die Frau faltete die Hände. „Also gut, ich werde das mit dem Vorstand besprechen. Aber bevor ich etwas dazu sage, möchte ich gerne das offizielle OK abwarten. Ist das in Ordnung?“

„Wenn es nicht allzu lange dauert. Dürfen wir uns denn wenigstens den Arbeitsplatz von Herrn Menne ansehen? Oder ist das auch ein Geheimnis?“

„Nein, natürlich nicht. Bitte folgen Sie mir.“

Sie gingen zwei Räume weiter in ein großes Büro mit Aktenschränken an den Wänden und drei Schreibtischen im Halbkreis vorm Fenster. Zwei waren unbesetzt, am dritten saß ein übergewichtiger Mann, der jünger war, als die Frisur ihn auf den ersten Blick machte: Er trug eine Halbglatze, über die er sein verbliebendes Haar gekämmt hatte. Vor ihm auf dem Schreibtisch stapelten sich die Aktenordner. Schweißgeruch lag in der Luft.

„Herr Röper, wenn Sie einen Augenblick haben? Die Dame und der Herr hier sind von der Polizei.“ Frau Niggemann warf Emil einen Blick zu, als wollte sie fragen, wer von ihnen die Nachricht verkünden sollte.

Er überließ ihr gerne den Vortritt.

„Unser Herr Menne“, sagte sie daraufhin. „Er ist tot.“

Der Mitarbeiter riss die Augen auf.

„Dort hat er gesessen?“ Emil zeigte auf einen der zwei freien Tische.

„Ja“, bestätigte Herr Röper mit nicht mehr Worten als unbedingt nötig.

Emil sah sich den Platz genauer an. Kein persönliches Zeug. Keine Fotos. Die Schreibunterlage war sauber, der Bleistift angespitzt. Die Rechenmaschine stand parallel zur Tischkante. In der Schublade dieselbe Ordnung. Die Streichholzschachtel eines Cafés war das einzige, was nicht recht dazu passte. Er zeigte sie Frau Niggemann. „Kunde von Ihnen?“

„Keiner, mit dem Herr Menne zu tun gehabt hätte.“

„Hat er viel von sich erzählt? Privat?“

Sie wollte antworten, merkte aber, dass die Frage an ihren Mitarbeiter gerichtet war.

„Wie?“ Herr Röper räusperte sich. „Nein, eigentlich nicht. Wir haben quasi nur über die Arbeit geredet.“

„Aber in der Pause“, sagte Emil, weil er ahnte, dass der Mann Privatgespräche während der Dienstzeit vor seiner Chefin ungern zugab. Ihm war nicht entgangen, dass sich Schweißperlen auf dessen Stirn gebildet hatten.

„Nein, jeder hat quasi für sich Pause gemacht. Ich gehe meist mit meiner Frau in die Stadt. Die arbeitet in der BWA.“

„Betriebswirtschaftliche Abteilung“, erklärte Frau Niggemann. „Eigentlich Geschäftsbereich Steuerung im neuen Sprachgebrauch. Aber die alte Bezeichnung ist gebräuchlicher.“

Emil legte ihm seine Visitenkarte auf den Schreibtisch. „Falls Ihnen noch was einfällt, rufen Sie mich an.“ Dessen Chefin machte er deutlich, dass sie einen Anruf von ihr auf jeden Fall erwarteten. Nach einer Dankesfloskel und dass man ihnen beim Rückweg nicht zu helfen bräuchte, brachen sie auf.

Nur wenige Schritte und durch eine Tür voneinander getrennt, bekam keiner von ihnen mehr mit, wie Frau Niggemann sich zu ihrem Mitarbeiter hinabbeugte und flüsterte: „Denken Sie nicht mal dran. Nicht ein Wort geht nach draußen, ist das klar?“

5

Emil heftete ein Foto von Lothar Menne, das er aus dessen Haus mitgenommen hatte, an den Aufsteller und trat einen Meter zurück, um es zu betrachten. Noch hatte er das Besprechungszimmer für sich, aber das änderte sich hoffentlich gleich. Fünf Tische standen in U-Form, das Neonlicht war ausgeschaltet. Die Fensterfront zeigte auf die Bismarckstraße, eine ruhige Nebenstraße, von der man über die Corveyer Allee zum Schloss Corvey gelangte, wenn man das wollte. Gleich dahinter lag die Weser und begrenzte nicht nur den Kreis, sondern auch das Land Nordrhein-Westfalen. An genau einer Stelle konnte man sie im Stadtgebiet überqueren. Eine sonderbare Lage für die Kreispolizeibehörde. Aber Höxter war eben klein und beschaulich.

Knapp eine halbe Stunde hatte er damit verbracht, die Formalitäten zu regeln und mit Zocher zu sprechen, dass der ihm ein Team zusammenzustellte. Marion Redeker war gesetzt. Um jeden weiteren Mann hatte er kämpfen müssen. „Ich kann dir nicht immer freie Hand lassen, Ego“, hatte der Leiter vom KK1 eingewandt, „gerade jetzt, wo so viele Kollegen krank sind.“ Er wäre ihm ja dankbar, dass er extra seinen Urlaub abgebrochen hätte, gerade in seiner Situation. Emil hatte aufgeblickt und gewartet, ob noch mehr kam, aber es kam nicht. Einen Satz später hatte Zocher eingelenkt. „Wie ich höre, hast du Ulf-Thorsten bereits in Beschlag genommen. Von mir aus Helmut noch. Ich schaue morgen Abend mal rein, dann sehen wir weiter, einverstanden?“

Mehr hatte Emil nicht gewollt und im Grunde sogar mit weniger gerechnet. Er würde sich jedoch hüten, das Zocher zu verraten. Als ihm beim Verlassen des Büro zwei Kollegen entgegenliefen ohne zu grüßen, war ihm durch den Kopf gegangen, was hinter seinem Rücken wohl alles geredet wurde.

Die meisten dürften inzwischen mitbekommen haben, dass er aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen und dabei war, sich scheiden zu lassen. Und dank seiner Verkündigung am Freitag kannten sie nun den Grund dafür. Noch ließen die Kommentare auf sich warten. Genauso die befreiende Wirkung, die er sich dadurch erhofft hatte. Wenn er das nächste Mal versuchen sollte, Ordnung in sein Leben zu bringen, redete es ihm hoffentlich jemand aus.

„Was ist denn mir dir los?“

„Was?“, fragte Emil, völlig überrascht, dass jemand eingetreten war. Helmut Lingott.

Der grauhaarige Kollege trug wie immer einen der gestrickten Wollpullover, mit denen seine Frau ihn in regelmäßigen Abständen versorgte. Selbst Emil hatte direkt nach einer eher flüchtigen Begegnung auf dem Paderborner Weihnachtsmarkt vor ein, zwei Jahren ein Paar Socken von ihr geschenkt bekommen. „Ja genau, was“, spottete Helmut. „Da war wohl einer ganz schön weit weg.“

„Richtig. So weit, dass du niemals hinkommst.“

„Ja, ist ja gut.“ Helmut zog einen der Stühle zurück und nahm Platz. „Wieso bist du überhaupt hier? Ich hab’ gedacht, du wärst im Urlaub. Würde dir mal guttun.“

„Das habe ich auch gedacht.“

Emil kannte den Kollegen lange genug, um die Bemerkung als harmlos durchgehen zu lassen. Helmut war kein Verkehrter, zwar nur durchschnittlich begabt, dafür ein Fleißtier, und am besten: Man wusste bei ihm immer, woran man war.

Was man von Ulf Sonntag leider nicht sagen konnte. Der Rheinländer, der vor etwa einem Jahr nach Höxter versetzt worden war, hatte seitdem nicht durch übermäßig soziales Verhalten gepunktet. Dafür schien er fachlich einiges auf dem Kasten zu haben. Man konnte wohl nicht alles in Personalunion bekommen.

 

„Na, Ego, musst du Minusstunden ausgleichen?“ Ulf trat breitbeinig in den Besprechungsraum, als erwartete er Applaus. Hinter ihm trottete der Kollege Thorsten Seiler her, einen stylischen Schal um den Hals gewickelt, für den er jedoch fünfzehn Jahre zu alt war. Die beiden waren seit Ulfs Einstellung unzertrennlich, sodass man über sie nur noch im Doppelnamen sprach. „Und danke für den netten Ausflug, zu dem du uns verholfen hast.“

Emil hatte mit Protesten ihrerseits gerechnet. Für ihn stand die weitergehende Untersuchung von Lothar Mennes Haus allerdings nicht zur Diskussion. Er wies auf die Stühle, denn ohne ausdrückliche Aufforderung hätte sich keiner von beiden hingesetzt. „Und, ward ihr erfolgreich?“

„Na klar. Deshalb hast du doch uns hingeschickt und nicht die Kollegen vom KK2.“

„Nur weil man im Zug kotzt, ist man noch lange nicht bahnbrechend“, zitierte Emil einen seiner derzeitigen Lieblingssprüche.

„Was hast du gesagt?“

„Wie, bist du jetzt auch noch taub oder was?“

„Ich will, dass du es wiederholst.“

„Mensch, pflanz dich endlich hin“, rief Helmut dazwischen. „Und zieh deine Show woanders ab.“

Der Rheinländer hob das Kinn. „Bist du jetzt sein Anstandswauwau?“

„Nein, ich will nur endlich mit der Arbeit anfangen. Ich habe nämlich im Gegensatz zu manch anderem hier ein Privatleben.“

Ulf stieß die Luft aus und forderte seinen Begleiter mit einer Kopfbewegung auf, sich zu setzen.

Dass Helmut für ihn Partei ergriffen hatte, gefiel Emil gar nicht. Wenn es nötig werden sollte, konnte er sich selber verteidigen. Wo Marion nur blieb? Sie hätte längst da sein müssen. „Also schön. Wir untersuchen den Tod von Lothar Menne, einundfünfzig Jahre alt, wohnhaft in der Berliner Straße in Warburg, wo er seit knapp fünf Jahren gelebt hat. Lothar Menne hat immer pünktlich seine Steuern bezahlt, ist nie zu schnell gefahren und auch sonst nicht auffällig geworden. Aber aus irgendeinem Grund, den wir nicht kennen, hat er heute Vormittag tot auf seinen Küchenfliesen gelegen. Erstochen. Ich habe eben mit dem Rechtsmediziner telefoniert. Er hat den Todeszeitpunkt mittlerweile auf eine Spanne zwischen achtzehn bis einundzwanzig Uhr dreißig eingegrenzt. Wobei die Nachbarin Frau Krull um kurz vor zweiundzwanzig Uhr ein Poltern gehört hat. Womöglich der Täter.“

„Irgendeine Spur von der Tatwaffe?“, fragte Ulf.

„Keine. Ebenso wenig, was seine Angehörigen betrifft. Wie ihr gesehen haben dürftet, hängen in Lothar Mennes Wohnzimmer zahlreiche Familienfotos, aber laut Helmut ist er weder verheiratet noch hat er Kinder.“

„Vielleicht hat Kollege Herzlieb sich vertippt, würde mich nicht wundern. Schau dir mal die Finger an.“ Ulf lachte, sein Sitznachbar stimmte mit ein und verschluckte sich, was in einem Hustenanfall endete.

„Sehr lustig, Leute“, rief Helmut. „Ich habe getan, was ging. Ohne Ergebnis. Es gibt keine Hinweise, dass er Familie hat. Dafür habe ich seine Eltern ausfindig gemacht. Sie liegen auf einem Friedhof in Vlotho, wo sie zuletzt gewohnt haben. Der Vater verstorben 1998, die Mutter zwei Jahre darauf. Geschwister keine. Nur eine Tante, die Schwester der Mutter, lebt mit ihrer Familie im Stuttgarter Raum.“

„Mmh. Deshalb hat uns weder die Nachbarin Krull noch seine Vorgesetze in der Bank, in der er gearbeitet hat, irgendetwas dazu mitteilen können.“ Emil hatte vorhin gedacht, dass es etliche Erklärungen für die Fotografien geben konnte. Inzwischen kam es auch ihm seltsam vor. „Wo hat er gewohnt, bevor er in die Berliner Straße gezogen ist? Auch im Altkreis Warburg?“

Helmut blickte in seine Unterlagen. „Nun, er kommt gebürtig aus Lüdersen, einem Dorf in der Nähe von Hannover. Laut der Bewerbung, die du aus der Bank mitgebracht hast, hat Lothar Menne 1989 bei der Sparkasse in Herford eine Lehre zum Bankkaufmann begonnen. Später war er einige Jahre bei der Commerzbank in Gütersloh beschäftigt, wo er eine Fortbildung zum Bankbetriebswirt absolviert hat. Alles lückenlos und unauffällig.“

Nach dem Drama um das Bankgeheimnis hatte Emil sich gewundert, dass man ihm die gewünschten Personalunterlagen ohne Widerrede kopiert hatte. „Check trotzdem mal, ob es in seiner Vergangenheit irgendwas Interessantes gibt.“

„Mache ich.“

„Was ist seine Aufgabe in der Bank gewesen?“, wollte Ulf wissen.

„In der Darlehnskasse Brakeler Land, um genau zu sein. So heißt sie seit der Fusion im Jahre 2011, bei der sich drei kleinere Darlehnskassen zusammengeschlossen haben. Geschäftsgebiet ist seitdem der gesamte Kreis Höxter. Lothar Menne hat dort als Sachbearbeiter im Kreditmanagement gearbeitet.“ Emil versuchte, in kurzen Worten das wiederzugeben, was die Vorgesetzte Niggemann ihm dazu erklärt hatte. „Übrigens: Bei einem seiner letzten Anträge hat er mit Nein gestimmt. Frau Niggemann hat zwar betont, dass man da nichts hineininterpretieren darf, trotzdem muss das jemand überprüfen. Sie will uns Informationen zum besagten Fall zukommen lassen.“ Er sah in die Runde. Niemand sagte ein Wort. „Meldet sich jemand freiwillig oder sollen wir Lose ziehen?“

Helmuts Kopf wanderte zur Tür, die aufgegangen war. Ein rotes Gesicht wurde durchgesteckt, der Rest kam hinterher.

„Oh! Ihr habt schon angefangen?“, murmelte Marion. Man hörte ihr an, dass sie außer Atem war.

„Komm ruhig herein.“ Emil versuchte zu verbergen, dass er enttäuscht über die Verspätung war, was ihm nur schlecht gelang. „Schön, dass du es noch einrichten konntest.“

„Tut mir leid. Ich bin ...“

„Ach ja?“

Marion presste die Lippen zusammen und setzte sich lautlos auf einen Stuhl.

„Nein, entschuldige. Los, erzähl.“

„Mein Gott, nun red’ schon“, rief Ulf.

„Ich ... Ich bin in Brakel noch eben im Café gewesen. Eigentlich vor Hunger.“

„Tolle Geschichte.“ Der Rheinländer verzog spöttisch sein Gesicht.

„Lass sie ausreden“, ermahnte Emil ihn. „Du meinst das Café von der Streichholzschachtel, die wir an Lothar Mennes Arbeitsplatz gefunden haben?“

Marion bejahte. „Ich habe die Bedienung nach ihm gefragt. Sie wusste sofort Bescheid und hat gemeint, dass er dort fast jeden Tag seine Mittagspause verbracht hat. Immer auf dem gleichen Stuhl. Er hat immer das Gleiche zu essen bestellt und immer aus dem Fenster geschaut.“

„Mensch Ulf, der Typ war ja noch langweiliger als du“, scherzte Helmut.

Emil ließ sich die Aussage der Bedienung durch den Kopf gehen. „Gute Arbeit“, sagte er. „Genau da müssen wir hin: Was für ein Typ Mensch ist Lothar Menne gewesen? Die Vorgesetzte in der Bank hat uns eine Beschreibung geliefert, die nicht gerade charmant klingt. Ich sage nur: gewissenhaft.“

„Die Nachbarin doch genauso.“ Marion meinte, sie würde deren Aussage so interpretieren, dass Lothar Menne ein geradezu ordnungsbesessener Mensch gewesen wäre, der jeden Tag dieselben Dinge getan hätte. Trotzdem fände sie es total übertrieben, die Polizei zu rufen, nur weil sein Auto noch vor der Garage gestanden hatte. „Aber dann ist ihr ja das Poltern eingefallen.“

„Hatte sie das in dem ersten Gespräch mit dir nicht erwähnt?“

„Nein, darum fand ich das ja zuerst so merkwürdig. Obwohl ... Ganz für voll nehmen kann ich die Frau nach wie vor nicht.“

Emil hatte eine gewisse Animosität zwischen seiner Kollegin und Frau Krull durchaus bemerkt. „Was ist das zwischen dir und ihr? Mögt ihr euch nicht?“

„Magst du jeden?“

„Ist das ganze Trara denn überhaupt nötig?“, warf Ulf ein. Er hatte sich vorgebeugt und seine Arme auf die Oberschenkel gestützt, als wollte er jeden Moment aufstehen. „Wenn du dich erinnerst, hast du uns aus einem bestimmten Grund nach Warburg geschickt. Wir haben deinen Auftrag befolgt und uns das komplette Haus angeschaut, jeden Raum und jedes Fenster. Die Kellertür hat offen gestanden, an der Schlafzimmerwand fehlt ein Bilderrahmen und im Garten ist der Bewegungsmelder für die Außenbeleuchtung kaputt, man könnte auch sagen: kaputtgeschlagen. Es ist eingebrochen worden.“