Rabenvatersorgen

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3

Vor knapp sechs Wochen:

Dichte Wolken verdeckten die Sterne und ließen das Mondlicht nur durch, wenn sie hie und da ein Stück weit aufbrachen. Der schlankere der beiden Männer presste sich fester gegen die Holzwand. Gleich würde es losgehen. Und dann gäbe es kein Zurück mehr, er wäre für immer gebrandmarkt. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Am Ende der Dorfstraße trat eine junge Frau in den Schein der Straßenlaternen. Die Hände in ihren Jackentaschen vergraben, lief sie den Bürgersteig entlang. Der Schnee war erst vor wenigen Tagen weggetaut, vereinzelt lagen noch Reste herum, dort, wo man ihn aufgeschüttet hatte.

Als die junge Frau abrupt stehenblieb, schnellte sein Puls in die Höhe. Doch sie kramte bloß ein Handy hervor und tippte etwas, was vermuten ließ, dass ihr das Rascheln auf der anderen Straßenseite nicht aufgefallen war. Oder sie hatte es bemerkt und dabei an nichts Schlimmes gedacht, dass es bloß eine Katze gewesen wäre oder ein aufgescheuchter Vogel. Warum auch, schließlich war in dieser Gegend noch nie etwas passiert. Tiefste Provinz! Woher sollte sie wissen, dass an der Seite der Gartenhütte zwei Männer lauerten, komplett in Schwarz gekleidet und mit Sturmmaske überm Kopf. Sie hätte ihren Weg bestimmt nicht seelenruhig fortgesetzt, ohne von ihrem Handy aufzusehen.

Der Schlankere von beiden, der ihr dabei zusah, entspannte sich leicht. Er hatte lediglich den Reißverschluss seiner Jacke aufgezogen, weil ihm trotz der Kälte warm geworden war – allerdings eine Spur zu schnell. Und zu laut, weswegen er sich insgeheim verfluchte. Sie waren bis hierher gekommen, an die gewünschte Straße in der gewünschten Ortschaft, ohne dass irgendjemand etwas davon mitbekommen hatte. Nicht ein einziges Fahrzeug war ihnen die ganzen Kilometer entgegengekommen. Ihm war klar, sollten sie jetzt auffliegen, wäre schlagartig alles vorbei.

Nach ein paar Schritten hielt die Frau erneut an, drückte an ihrem Handy herum und fasste sich an die Ohren. Der schlanke Mann kniff die Augen zusammen.

„Was is’?“, flüsterte der andere, der Stämmige, mit rauer Stimme.

„Ich glaube, sie hört Musik.“

„Glaubste oder biste sicher?“

„Ich würde sagen, sie wippt mit dem Kopf.“

„Dann los jetzt. Komm!“

Nahezu geräuschlos setzten die beiden sich in Bewegung und überquerten die Straße an der Stelle, wo eine Laterne vor langer Zeit den Geist aufgegeben hatte.

Es war das erste Mal, dass sie gemeinsam auf die Jagd zogen. Ihr Opfer hatten sie sich nicht zufällig ausgesucht, sondern wohlüberlegt. Alles, was sie wissen mussten, wussten sie. Dass es unbedingt heute Nacht geschehen musste, zum Beispiel. Und dass es sich lohnen würde.

Die junge Frau bog in einen Feldweg ein, nichtsahnend, was in ihrer unmittelbaren Nähe geschah.

Die beiden Männer legten einen Zahn zu und hatten wenige Sekunden später das Grundstück erreicht, auf das sie wollten. Der Bewegungsmelder schaltete das Außenlicht an. Das Haus erstrahlte in vollem Glanz, aber dafür hatten sie keinen Sinn. Viel wichtiger war das Carport. Und dass der Mercedes GLS, der für gewöhnlich dort parkte, fehlte. So schnell wie möglich quetschten sie sich durch den Spalt zwischen Mauer und Eibenhecke, was nicht so einfach ging wie erhofft, denn die Zweige waren sperrig, und gelangten in den dahinterliegenden Garten. Hier wurde es schlagartig dunkler. Die Umrisse einer Tür tauchten auf. Sie führte in die Doppelgarage, wusste der Schlanke mit der offenen Jacke und drückte die Klinke herunter. Wie vorausgesagt war nicht abgeschlossen. Aber das Schloss klemmte und fast wäre ihm das Herz stehengeblieben, dann klappte es doch und er schlüpfte hinein. Der andere folgte ihm.

Drinnen empfing sie eine totale, fast unheimliche Schwärze. Bis eine Taschenlampe aufblitzte und ihren Strahl einmal durch den Innenraum der Garage warf. Ein silberner Porsche 911 Carrera stand dort, daneben ein neuer MINI Cooper in Racing Green. An den Wänden hingen Gartengeräte, gegenüber des Garagentors befand sich, eingerahmt von zwei Schränken voller Werkzeug und Blumentöpfe, eine weitere Tür. Zum Abschluss leuchtete der Stämmige seinem Begleiter aufs das riesige S auf dem Sweatshirt, der Anfangsbuchstabe von dessen Vornamen. „Alles klar, Superman?“, flüsterte er.

Es war vermutlich nichts weiter als eine Aufforderung, den nächsten Schritt zu gehen.

S. drehte sich weg.

„Ähm ... Was is’ los?“

„Nichts, warum?“

„Du bist schon die ganze Zeit so komisch. Willste kneifen oder was?“ Als keine Antwort kam, schien der Groschen zu fallen. „Ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“

S. ging zwei Schritte in die entgegengesetzte Richtung und kehrte sofort zurück. „Ich weiß es nicht.“

„Sollteste aber.“

„Genau das ist es. Ich bin mir nicht sicher, ob ich will oder nicht.“

„Das fällt dir ja früh ein, echt.“ Der Stämmige warf seinen Rucksack auf den Boden, wobei das Licht der Taschenlampe unruhig flackerte. Mit viel zu lauter Stimme wetterte er: „Du weißt, was das bedeutet. Wenn du jetzt ’nen Rückzieher machst? Dann kannste meine Hilfe vergessen. Ich hab’ gedacht, du brauchst Kohle.“

S. hatte das auch gedacht. Und es stimmte nach wie vor. Aber nicht so. „Es muss doch noch einen anderen Weg geben“, versuchte er zu erklären und gleichzeitig, die Spannung aus der Luft zu nehmen. Die Garage war solide gebaut, aber auch solide genug, dass die Nachbarn nichts von ihrer Debatte mitbekamen?

„Verdammte Scheiße. Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen.“

„Sorry, aber ... Ich gehe zurück.“

„Mach das. Dann zieh’ ich’s allein durch. Ohne dich. Gar kein Problem.“ Es klang aber nicht danach. Wutschnaubend klemmte der Stämmige die Taschenlampe zwischen Arm und Oberkörper und kramte etwas aus seinem Rucksack hervor. Es war, wie sich herausstellte, ein Klappmesser. Als wäre es das Normalste von der Welt, hielt er es vor sich, nahm mit der anderen Hand seinen Rucksack wieder auf und stampfte zur Tür, durch die man ins Haus gelangen würde.

„Was hast du denn damit vor?“ S. konnte nicht anders, als das Messer anzustarren.

„Gar nichts. Was interessiert dich das?“

„Pitt ...“

„Und nenn mich, verflucht noch mal, nicht so, solange wir hier sind. VERDAMMT!“

Der Ausruf hallte lange nach. Hätte sich in diesem Moment jemand in der Nähe der Garage aufgehalten, vermutlich wäre er Zeuge davon geworden.

„Ja, sorry. Also dann ... gehe ich, ok?“ S. fühlte sich wie ein dummes Kleinkind. Auf die Idee, zum Fenster zu gehen und zu überprüfen, ob sie tatsächlich jemanden auf sich aufmerksam gemacht hatten, kam er nicht, sondern stand einfach nur da, unschlüssig, was als Nächstes kam. Bestimmt keine Verabschiedung, also hob er die Schultern und schlenderte Richtung Garagentür, durch die sie erst wenige Minuten zuvor eingedrungen waren. Hinter ihm hörte er, wie Pitt an der Tür zum Haus rüttelte und gleich darauf tobte:

„Was soll’n das jetzt? Hier ist abgeschlossen. Du hast doch gesagt, es ist kein Problem reinzukommen.“

S. holte tief Luft, als wäre sein eigener Rucksack nicht leer, sondern prall gefüllt und fünfzig Kilo schwer. „Ist es auch nicht. Warte. Und bleib um Gottes Willen ruhig!“

Er ging zurück zum Werkzeugschrank. „Leuchte mal lieber hier rein“, sagte er und begann, die Fächer abzusuchen.

„Was machsten da?“

„Ich suche was.“

„Wärich nicht drauf gekommen. Nen Brecheisen? Seit wann kennste dich mit so was aus?“

S. ersparte sich eine Antwort. Es brachte nichts, mit Pitt zu diskutieren, solange er sich in dieser Stimmung befand. Es dauerte nicht allzu lange, bis er ihn gefunden hatte. Für einen klitzekleinem Augenblick erinnerte S. das an den Plan, den sie gefasst hatten und an den finanziellen Schlamassel, in dem er steckte. Nie im Leben war es seine Absicht, sich persönlich zu bereichern. Es ging einzig und allein um die Lösung seines Problems. Gab es da nicht dieses alberne Sprichwort mit Zweck und Mitteln? „Ich habe den hier gesucht. Zufrieden?“ Er präsentierte den Schlüssel, der unter einer der Kisten gelegen hatte. Die Frau des Hauses selber hatte ihm die Stelle gezeigt.

Pitt riss ihn an sich und probierte ihn sofort aus. Er passte, die Tür ließ sich mühelos öffnen. Wie bisher alles an diesem Abend ohne nennenswerte Schwierigkeiten gelaufen war, dachte S. unter Herzklopfen. Von ihrer kleinen Meinungsverschiedenheit natürlich abgesehen. Vielleicht ein gutes Omen. Vielleicht sollte er doch ...?

„Da haste ja Glück gehabt“, raunzte der andere. „Also, ich gehe jetzt rein. Was ist mit dir, kommste mit?“

4

„Bitte kommen Sie“, flüsterte die Frau und winkte Emil und seine Kollegin mit einem Kochlöffel herein. „Hallo, sind Sie noch da?“ Das sagte sie in das Telefon in ihrer anderen Hand.

Um ihr Gespräch nicht zu unterbrechen, verzichtete Emil darauf, sich förmlich vorzustellen, und steckte seinen Dienstausweis in die Innentasche seines Sakkos zurück.

Die Frau, die sich – wenn überhaupt – nur flüchtig dafür interessiert hatte, schien zu jener Sorte zu gehören, die mehrere Dinge gleichzeitig erledigen konnte: Essen kochen, telefonieren und nebenbei die Polizei ins Haus lassen. Sie war zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahre alt, dezent geschminkt, was ihre Wangenknochen betonte, die blonden Haare zu einem Zopf geflochten. In ihrer Jeans steckte kein Gramm zu viel.

Emil hatte ein Hausmütterchen erwartet, das den Tag über am Fenster saß und strickend die Nachbarschaft beobachtete, wie die alte Frau Nowak, die zwei Etagen unter ihm wohnte. Jedes Mal, wenn er die Werbung aus seinem Briefkasten nahm und einfach in die Ecke warf, stürmte sie aus ihrer Wohnung und hielt ihm einen Vortrag.

 

Schuld an seiner Erwartungshaltung waren Marions Worte gewesen, als sie ihm auf dem Weg hierher Lothar Mennes Kellertür gezeigt hatte. Eine gewöhnliche Metalltür, ohne Anzeichen, das sich jemand gewaltsam Zutritt verschafft hätte. Der Schlüssel steckte von innen. Nichts Auffälliges, bis auf der Scherbenhaufen zwei Meter davor, den sich die Spusi genauer ansehen würde. Emil hatte wissen wollen, auf was er sich bei der Frau im Nebenhaus gefasst machen müsste, und seine Kollegin geantwortet: „Na, die perfekte Hausfrau und Mutter.“ Eine befriedigende Erklärung war das für ihn nicht gewesen. Jetzt löste es sich auf.

„Nein, nein, der Spiegel sollte rund sein. Das hatte ich doch extra so bestellt.“ Die Frau verzog genervt den Mund, und machte beim Anblick ihres Besuchs schnell ein Lächeln daraus. „Kreisrund, genau. Aha. Da bin ich aber gespannt. Ja, tschüss. – Handwerker“, erklärte sie, als das Gespräch beendet war.

„Ärger?“, fragte seine Kollegin.

„Kann man so sagen. Die tun, als hätten sie noch nie was von Feng-Shui gehört.“

„Ah, verstehe.“

„Nett haben Sie es“, warf Emil ein, dem der verglaste Eingangsbereich mit lachsfarbener Akzentwand, davor ein halbhoher Schrank aus Acryl, gut gefiel. Auf der gegenüberliegenden Seite verrieten kleine Jacken und ebensolche Schuhe, dass hier eine junge Familie wohnte.

Stefanie Krull, wie die Nachbarin hieß, winkte das Kompliment ab, während ihre Absätze jeden einzelnen Schritt ins Innere des Hauses vertonten. „Ich bin gerade am Kochen und ein bisschen spät dran. Wir waren eben noch beim Heilpraktiker in Arolsen.“ Sie hielt inne und fuhr fort, als wäre es erklärungsbedürftig: „Mein Sohn, er leidet manchmal an Kopfschmerzen, wissen Sie? Er soll heute lieber zuhause bleiben.“

Emil nickte verständnisvoll.

Sie betraten eine Küche, die fast genauso aussah, wie er es erwartet hatte: weiße Schränke, viel Licht, Holz, dazu ein paar Zimmerpflanzen. Das Fenster über dem Spülbecken zeigte nach vorne zur Straße, die zwei im angrenzenden Essbereich auf eine Terrasse seitlich des Hauses. Der mannshohe Flechtzaun dahinter verdeckte die Sicht zum Garten von Lothar Menne.

Frau Krull verschwand hinter einer großen Kochinsel. Auf dem Herd dampfte ein hoher Topf mit Deckel ruhig vor sich hin. „Es ist furchtbar unhöflich, ich weiß, aber wenn meine Kinder binnen dreißig Minuten nichts zu essen kriegen, werden sie ungenießbar. Ich hoffe, das ist in Ordnung?“

„Natürlich“, antwortete Emil. Eine Befragung in der gewohnten Umgebung hatte den Vorteil, dass man eine Menge über diejenige Person erfuhr. Ob ihnen das wirklich weiterhalf, blieb abzuwarten, dachte er und beobachtete, wie geschickt Stefanie Krull eine Paprika in kleine Würfel verwandelte. Mit einem Küchenmesser, wie auch seiner Kollegin aufgefallen war. „Darf ich Ihnen denn dabei ein paar Fragen stellen?“

„Es ist also tatsächlich was passiert?“

„Was meinen Sie?“

„Nun, die Polizei würde doch nicht mit so viel Leuten anrücken, wenn es bloß eine Lappalie wäre.“

Emil gab ihr recht. „Herr Menne ist tot.“

Frau Krull sah von ihrem Schneidbrett auf. „Was? Oh mein Gott. Das ist ... Ich hab’s ja gewusst.“

„Was haben Sie gewusst?“

„Dass was passiert ist. Das habe ich vorhin schon Ihrer Kollegin erzählt. Ich habe es im Gefühl gehabt.“

„Und haben Sie deswegen die Polizei gerufen? Wegen eines Gefühls?“

„Ja, genau. Ich bin eine Mutter. Da verlasse ich mich darauf.

„Könnten Sie trotzdem etwas konkreter werden?“

Frau Krull legte das Messer weg und fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase wie bei einem Niesreiz. „Möchten Sie vielleicht was trinken?“

Emil überlegte, welchen Grund es geben könnte, dass ihr ausgerechnet jetzt das Thema Getränke einfiel. „Ein Glas Wasser wäre nett.“

Sie reichte Gläser und eine Karaffe, auf deren Boden einen violetter Stein lag. „Wir verleihen unserem Wasser mit einem Amethysten zusätzliche Energie“, lautete die Erklärung, nach der niemand gefragt hatte.

„Sie wollten konkreter werden, Frau Krull.“

„Ja, richtig.“ Sie schnitt als Nächstes eine Zwiebel. „Nun, wir sind Nachbarn, ganz einfach. Da achtet man aufeinander. Herr Menne führt ein ... nun, wie soll ich sagen ... ein recht geordnetes Leben. Immer, wenn man mal nichts hört oder wenn etwas abweicht, macht man sich Gedanken.“

„Und was genau ist heute abgewichen?“

„Sein Auto hat noch in der Einfahrt gestanden. Das ist ungewöhnlich, normalerweise fährt er es abends immer in die Garage.“

„Das ist alles?“

„Natürlich nicht. Das Licht in der Küche hat die ganze Nacht durchgebrannt.“ Sie füllte Öl in eine Pfanne und ließ die gehackten Zwiebeln hineingleiten. Es brutzelte und fing an zu duften.

„Und deswegen haben Sie die Polizei gerufen?“

„Ja?“ Dadurch, dass sie das Wort als Frage aussprach, klang das zuvor Gesagte wie eine Selbstverständlichkeit. „Und, hatte ich nicht recht?“

Emil musste zugegeben, dass diese Denkweise eine gewisse Logik barg.

Seine Kollegin sah das anders, dem Stirnrunzeln nach, das ihn daran erinnerte, dass Marion die Aussage der Nachbarin bereits in Lothar Mennes Schlafzimmer als merkwürdig eingestuft hatte.

„Hören Sie“, sagte Stefanie Krull. „Das ist wirklich ungewöhnlich für seine Verhältnisse. Und als das Auto dann heute Morgen immer noch da gestanden hat ...“ Sie verstummte.

„... haben Sie sich Sorgen gemacht“, ergänzte Emil.

„Nun, ich würde es nicht direkt Sorgen nennen. Ich habe vielmehr eine Ahnung gehabt, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte.“

„Kommt das nicht aufs Gleiche raus?“

Frau Krull holte etwas aus dem Kühlschrank, das sich bei näherer Betrachtung als Tofu entpuppte. Emil erinnerte die weiße Masse stark an Grillanzünder. Aus dem Topf neben der Pfanne kochte es über.

„Ach herrjeh!“ Die Frau riss den Deckel herunter. Der Schaum reduzierte sich sofort und zeigte den Inhalt: Nudeln, der Farbe nach aus Vollkornteig.

„Sie hatten also guten Kontakt zueinander, Herr Menne und Sie oder wie dürfen wir das verstehen?“, wollte seine Kollegin wissen.

„Ja, sicher, wie man ihn halt hat mit seinen Nachbarn. Sie sind mit allen befreundet?“ Frau Krulls Ton wurde eine Spur schnippisch.

„Wir fragen das, um uns eine Vorstellung von seiner Persönlichkeit zu machen“, erklärte Marion. „Dazu gehört, wie sein Umgang gewesen ist, sprich auch zu Ihnen.“

„Ja, natürlich. Das verstehe ich völlig.“

„Sind Sie je bei ihm im Haus gewesen?“

„Ein oder zwei Mal“, kam zurück. „Ist aber schon länger her.“

„Auch in seinem Schlafzimmer?“, warf Emil ein.

„Wie bitte? Um Gottes Willen, nein, wo denken Sie hin?“

An den Abdruck des Rahmens über der Kommode natürlich, antwortete er in Gedanken. Und was dort für ein Bild gehangen hatte. Ein weiteres Familienfoto? Oder gar ein richtiges Gemälde? In einem solchen Haus eher unwahrscheinlich. Aber nicht ausgeschlossen, schließlich wussten sie noch so gut wie nichts über den Toten. Sie würden die Angehörigen befragen, wenn es denn welche gab. Emil erkundigte sich bei Frau Krull, ob das der Fall war.

„Keine Ahnung. Mir gegenüber hat er niemanden erwähnt. Ich denke, dass er dort allein gelebt hat. Alles andere hätte ich mitbekommen.“

„Niemand, der ihn besucht hat? Regelmäßig, meine ich.“

Sie überlegte. „Doch schon. Ab und zu ist eine Frau dort gewesen.“

„Wie alt?“

„Weiß ich nicht.“

„Können Sie sie beschreiben?“

„Normal halt. Normal groß. Sie trug immer einen Hut.“

„Einen Hut?“, rief Marion.

„Ja, das ist so eine Art Kopfbedeckung“, erklärte Emil. „Hat Herr Menne gestern auch Besuch gehabt?“

„Ich hab’ nichts mitbekommen. Aber ich bin auch nicht die ganze Zeit zuhause gewesen. Wann genau?“

Seine Kollegin schaute auf ihren Block, auf dem sie sich zwischendurch Notizen gemacht hatte, und blätterte einige Seiten zurück. „Zwischen sechzehn Uhr gestern Nachmittag und vier Uhr heute früh.“

„Nein, da bin ich unterwegs gewesen. Also, die erste Zeit.“

„Aha. Und wo?“ Marion tippte mit ihrem Stift gegen den Block.

„Bei einer Freundin und anschließend im Hallenbad. Beim Aquafitness.“ Es schien, als wanderten Stefanie Krulls Augen zu den Oberschenkeln seiner Kollegin hinab, die fast doppelt so dick waren wie ihre eigenen.

Emil räusperte sich. „Wann sind Sie zurückgekehrt?“

„So kurz vor zehn, würde ich sagen. Das Programm geht bis halb, und bis man dann fertig ...“

„Ja?“

Die Frau starrte ihn mit offenem Mund an. „Oh mein Gott, das habe ich ganz vergessen. Da ist so ein Geräusch gewesen. Wie ein Poltern.“

„Poltern? Das haben Sie vorhin gar nicht erwähnt“, sagte Marion scharf.

„Nein. Es ist mir auch eben erst wieder eingefallen.“

Emil kannte das Symptom. Polizeiliche Befragungen machten die Menschen nervös, manche mehr, manche weniger. „Jetzt mal der Reihe nach, Frau Krull. Können Sie das Geräusch beschreiben?“

„Keine Ahnung. Wie ein Poltern halt. Ein Scheppern. Als wäre etwas Schweres umgefallen. Ein Schrank oder so. Und ich hab’ noch gedacht, was treibt er denn da? Es hat echt heftig geklungen. Vielleicht hätte ich hingehen müssen. Oh Gott, vielleicht hätte ich noch etwas für ihn tun können.“

„Und das ist wann gewesen?“

„Als ich die Einfahrt betreten habe.“

„Also kurz vor zweiundzwanzig Uhr?“

Sie nickte und blieb ein paar Sekunden reglos. Dann schniefte sie, nahm das Tofu aus der Verpackung und schnitt es gleichmäßig in Scheiben.

Emil überlegte, ob man als Laie bei derart schweren Verletzungen überhaupt etwas ausrichten konnte. Klarheit darüber würde wohl erst der rechtmedizinische Bericht verschaffen. Immerhin grenzte ihre Aussage die Zeitspanne des Todeszeitpunkts erheblich ein, wenn denn das Geräusch tatsächlich aus dem Haus von Lothar Menne gekommen war. Möglicherweise lag die Geräuschquelle woanders. Er fragte Frau Krull, ob sie bei ihrer Rückkehr vielleicht jemanden gesehen hätte, was diese jedoch klar verneinte. „Oder hat ein Auto in der Nähe geparkt, das Ihnen unbekannt vorgekommen ist?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Dann ist Ihrem Mann womöglich etwas aufgefallen? Oder den Kindern?“

„Bestimmt nicht.“

„Was macht Sie da so sicher?“

„Mein Mann ist auf Geschäftsreise in Japan, deshalb. Und meine Kinder sind in ihren Betten gewesen. Es ist ja schließlich Schule.“

„Wie alt sind Ihre Kinder?“, wollte Marion wissen.

„Meine Tochter ist neun. Und mein Sohn wird bald fünfzehn.“

„Sie lassen ein neun Jahre altes Kind den Abend über allein zuhause?“

„Effi ist ausgesprochen reif für ihr Alter. Außerdem hat ihr Bruder auf sie aufgepasst. Sind wir dann fertig? Ich möchte ja wirklich nicht unhöflich sein, aber ...“ Die Frau warf die Tofuscheiben in die Pfanne, mit etwas zu viel Wucht, wie Emil nicht entging. Die Ölspritzer auf dem Holz gaben sicher hübsche Flecken.

„Gar kein Problem“, sagte er. „Eine letzte Frage: Ist in der Gegend mal eingebrochen worden?“

„Wie? Müssten Sie das nicht besser wissen als ich?“

„Keineswegs. In manchen Fällen wird die Polizei gar nicht informiert. Manchmal ist es nur ein Versuch, der schiefgeht. Oder die Leute denken, dass nichts gestohlen wurde.“

„Mmh. Nicht, dass ich wüsste.“

Emil bedankte sich und gab seiner Kollegin ein Signal, die daraufhin lautstark ihren Notizblock zuklappte.

„Also ist es das, was dahintersteckt? Ein Einbruch?“

„Würde es Sie beruhigen?“

Stefanie Krull hob die Schultern. „Um ehrlich zu sein, ja. Mit zwei Kindern ist es nicht gerade sehr angenehm, wenn jemand in der Nachbarschaft auf so grausame Weise ...“ Sie brach ab, womöglich, weil im Hause eine Tür zuschlug. Vielleicht tat sie es aus einem anderen Grund.

„Auf so grausame Weise was?“

„Nun ... stirbt“, beendete Frau Krull den Satz mit gedämpfter Stimme. „Ich meine, wenn jemand getötet wird.“

Schlurfgeräusche erklangen, dann schaute ein Junge in die Küche. Keiner der Teenager von der Straße, aber er hätte perfekt zu ihnen gepasst mit dem rosafarbenem Polohemd, den Kragen hochgestellt. Seine Hose dagegen schien er gerade zu verlieren. „Was ist los?“, krächzte er. Die Ähnlichkeit mit seiner Mutter war unverkennbar: die gleiche spitze Nase, die gleichen Wangenknochen.

 

„Das ist die Polizei. Es ist was ganz, ganz Trauriges passiert. Herr Menne ... Er ist gestorben.“

„Aha.“

Emil beobachtete ihn. Hätte seine Mutter behauptet, dass das Haus in Flammen stünde, hätte es ihn genauso interessiert. „Was macht der Kopf?“

„Häh?“

„Passende Antwort“, sagte Frau Krull und stieß einen Verlegenheitslacher aus. „Du sollst doch nicht so viel rumlaufen, hat der Arzt gesagt.“

Der Junge verdrehte die Augen. „Wann gibt’s Essen?“

„Gleich. Bitte geh dir die Hände waschen.“

„Aber ...“

„Sofort!“

„Was willst du zuerst, Ego, die gute Nachricht oder die schlechte?“, rief Marion, als sie mit ihrem Notizblock in der Hand zur Schönen Aussicht kam. Davon konnte heute keine Rede sein. Dicke graue Wolken nahmen den Himmel in Beschlag, ein Schauer hätte wohl niemanden überrascht. Die Schüler, die nach und nach auf ihren Rädern zurück nach Hause fuhren, schienen es jedenfalls eilig zu haben. Vielleicht wollten sie auch nur schnell an ihre Computerbildschirme zurück.

Emil hatte seiner Kollegin aufgetragen, Höxter zu kontaktieren, während er hinterm Steuer seines geliebten Golf Cabrios Platz genommen hatte, Baujahr 1990, in der Classic-Edition. Nicht zum Faulenzen wohlgemerkt, sondern um die Eindrücke auf sich wirken lassen, wozu ein paar Minuten Ruhe nötig waren. Sein Kopf stach, woran aber mehr der Rotwein am vergangenen Abend Schuld trug als der neue Fall. Deshalb war es ihm egal, womit Marion anfangen würde. „Du kennst mich doch“, beantwortete er ihre Frage.

„Stimmt. Also zuerst die schlechte: Lothar Menne hat allein in dem Haus gewohnt.“

„Er ist getrennt lebend. So was soll vorkommen.“ Ihm war nicht ganz klar, worauf sie hinauswollte.

„Sehr witzig, Ego. Laut Helmuts Recherchen ist er aber nicht verheiratet, nie gewesen. Und Kinder hat er auch keine.“

„Verstehe.“

„Ach ja? Ich nicht. Wozu die ganzen Fotos überall?“

Emil konnte ihr den Grund nicht nennen. Allerdings sollte man das seiner Meinung nach nicht überbewerten. Bestimmt gab es eine plausible Erklärung dafür. Ein Patenkind beispielsweise. Oder Lothar Menne kannte das Mädchen auf den Bildern gar nicht, sondern hatte nur vorgegeben, dass es sich um seine Familie handelte. Die Leute kamen auf die verrücktesten Ideen. „Sonstige Angehörige? Eltern oder Geschwister?“

„Helmut ist dran.“

„Na gut.“ Dass sich auf die Schnelle kein Angehöriger fand, war kein Beinbruch, jedoch stellte es die gewohnte Reihenfolge auf den Kopf. Nicht nur, weil es sich einfach gehörte, die Hinterbliebenen zuerst zu benachrichtigen. Auf diese Weise erhielt man in der Regel auch schnell zahlreiche Informationen über Opfer und persönliches Umfeld. Der Großteil der Verbrechen, mit denen sie es im KK1 zu tun hatten, passierte nämlich genau dort, in der eigenen Familie. „Und die gute Nachricht?“

„Wir sind mit der Karte weiter.“

„Karte?“

„Du weißt schon. Signum Dienste. Leider doch kein Geheim­dienst, sondern eine Firma, die ein Schließkartensystem vertreibt. Anhand des Codes hat man die Karte eindeutig zuordnen können.“ Ohne auf ihren Block schauen zu müssen, erzählte sie, dass die Karte verschiedene Funktionen hätte und unter anderem wie ein Schlüssel zum Türen öffnen oder zum An- und Abstempeln von Arbeitszeiten benutzt werden konnte.

„Haben sie dir auch erzählt, wo?“, unterbrach Emil.

„Das wollte ich als Nächstes sagen, wenn du mal abwarten würdest. Bei der Darlehnskasse Brakeler Land.“

„Wie spannend.“

„Ja, nicht wahr? Lothar Menne hat in einer Bank gearbeitet. Ein unsportlicher, leicht übergewichtiger, langweiliger kleiner Bankangestellter mit schlechtem Geschmack.“

„Du hast tot in deiner Aufzählung vergessen.“

„Mit Absicht, denn das wissen wir ja definitiv. Alles andere ist nur meine persönliche Einschätzung.“

„Wenn du da mal nicht falsch liegst.“ Emil schnallte sich an und drehte den Zündschlüssel um.

„Was hast du vor?“

„Genau das checken. Oder hast du eine bessere Idee? Willst du erst auf Helmuts Infos warten? Könnte etwas dauern.“

Seine Kollegin schüttelte den Kopf.

Emil legte den Gang ein und fuhr los. Im Rückspiegel konnte er sehen, wie seine Kollegin zu ihrem Opel lief und folgte.

Beim Fahren auf der Ostwestfalenstraße in nördliche Richtung kam ihm alles Mögliche in den Sinn, denn sie war eine der ödesten Strecken überhaupt. Felder über Felder, ab und zu eine Ortschaft und dann weitere Felder. Interessant machten es allein die Kolonnen an LKW, die sie als alternative Nord-Süd-Achse zwischen A7 und A33 betrachteten. Vor allem bei Regengüssen wie jetzt, wenn trotz hektischem Scheibenwischer die Sicht verschwamm. Passend dazu ging ihm durch den Kopf, wie er nur so bescheuert sein konnte, am letzten Arbeitstag vorm großen Urlaub Tabula rasa machen zu wollen, was sein Privatleben betraf. Dass die Ehe mit Barbara nicht mehr funktionierte, hatten die meisten schon vorher mitbekommen. Einzig Marion kannte Details. Er hätte es dabei belassen sollen. Keine vier Tage später in den Dienst zurückbeordert zu werden, konnte nur bedeuten, dass das Schicksal noch eine Rechnung mit ihm offen hatte. Emil scherte aus und drückte das Gaspedal durch, als sein Telefon klingelte.

„Ja, Storck?“, sagte er und klemmte das Mobiltelefon wie gewohnt zwischen Ohr und Schulter fest, weil man auf diese Weise eine Hand frei hatte, um notfalls etwas zu notieren. Oder den Gang zu wechseln. Als keine Antwort kam, machte er sich die Mühe, kurz auf das Display zu schauen. „Bist du es, mein Schatz?“

„Papa?“

„Verena?“

„Papa! Wo steckst du?“

„Wieso?“ Vorsichtshalber überprüfte Emil die Uhrzeit unterm Tacho: Es war kurz nach zwei. Irgendetwas sagte ihm das. „Hab’ ich was vergessen?“

„Wir wollten uns doch treffen oder nicht? Ich stehe vor deiner Tür. Was ist denn?“

Einen lautlosen Fluch ausstoßend, scherte er vorm LKW eines Schlachtbetriebes wieder ein, der daraufhin den Blinker setzte und ins Gewerbegebiet vor Gehrden links abbog. „Das ist jetzt total schlecht, mein Schatz. Ich bin auf dem Weg nach Brakel.“

„Na prima. Wir wollten doch Möbel für dich kaufen.“

Daher hatte er das im Hinterkopf gehabt. „Das tut mir leid. Wir haben einen neuen Fall. Du weißt ja, wie das ist. Ich wollte dich noch informieren, aber mir ist die Zeit davon gelaufen.“

„Lügner. Ich hab’ gedacht, du hast Urlaub.“

„Hab’ ich auch gedacht. Habe ich echt, aber ... Wir holen das nach, ok?“

„Ja, ist klar.“ Am Klang ihrer Stimme hörte er, dass ihr das ganz und gar nicht schmeckte.

„Ist irgendwas los? Wie geht’s dir eigentlich?“ Emil zog auf die linke Fahrspur, um den nächsten LKW zu überholen. Er musste Gas geben, denn hinter der Kurve lag bereits die Ortseinfahrt von Siddessen.

„Schön, dass dir noch eingefallen ist, mich zu fragen. Kommt ja nicht so oft vor, dass sich die Eltern scheiden lassen wollen.“

„Wir haben doch darüber geredet.“

„Ach, haben wir?“

„Stimmt. Du wolltest nicht, wenn ich dich erinnern darf.“

Verena schwieg.

„Hast du was auf dem Herzen?“, bohrte er nach, obwohl es meistens das Gegenteil bewirkte. Manchmal glaubte Emil, nicht den geringsten Schimmer zu haben, wie seine Tochter tickte. Er drückte das Gaspedal bis zum Anschlag, sein Golf röhrte. Wie sich herausgestellt hatte, war es nicht nur einer, sondern zwei LKW, die dicht hintereinander herfuhren.

„Ach, ist doch egal“, sagte sie nach einer Weile.

„Nun komm schon, erzähl es mir.“

„Am Telefon, na toll.“

Emil wollte ihr keine neuen Versprechungen machen, gerade am Anfang eines Falles war es schwierig, private Termine einzuhalten.

Seine Tochter kam ihm zuvor: „Kann ich heute Abend nicht zu dir kommen?“