Rabenvatersorgen

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Emil parkte seinen dunkelblauen Golf Cabrio einige Meter von der Adresse, die seine Kollegin ihm genannt hatte, entfernt, um sich das Umfeld anzuschauen. Der Großteil der Häuser war ordentlich in Schuss, die Vorgärten gepflegt. In etwa der Hälfte der Einfahrten stand selbst um diese Tageszeit ein Auto. Ein paar Jugendliche hockten auf dem Bürgersteig und hatten Skateboards dabei. Sie trugen Markenklamotten und legten Wert auf ihr Äußeres, wie unschwer zu erkennen war. Hatten sie keine Schule mehr? Ein Rentner mit Spazierstock, der Emil entgegenkam, wechselte kurz vor ihrer Begegnung die Straßenseite. Eine Frau putzte ihr Fahrrad, ohne das Treiben der Polizei schräg gegenüber aus den Augen zu lassen. Jeder von ihnen konnte ein wichtiger Zeuge sein.

Das besagte Haus war anderthalbgeschossig, wie alle in der Berliner Straße, hatte im Gegensatz zu den meist hellen Häusern aber einen dunkelgrünen Anstrich. Holzläden zierten die Fenster, die ihrem Zustand nach kaum regelmäßig auf- und zugeklappt wurden. Über einen Weg aus Waschbetonplatten gelangte Emil durch einen Torbogen, an dem eine Kletterrose ihre schwarz geworden Hagebutten vom Vorjahr zeigte. Unkraut wuchs zwischen den Fugen und selbst in den Ritzen der Stufen, die zur Haustür hinaufführten. Offenbar war dieser Vorgarten nicht die Visitenkarte des Hauses. Oder doch? Eine Einsatzbeamtin, die ihm unbekannt vorkam, regelte den Zugang. Emil hielt ihr seinen Ausweis hin, worauf sie „Guten Tag, Herr Storck“ sagte und ihm Handschuhe und Füßlinge übergab.

„Vielen Dank. Sagen Sie, haben Sie zufällig Frau Redeker gesehen? Nein, hat sich erledigt.“

Seine Kollegin sprach gerade mit einem Beamten, als Emil durch die Haustür trat und die Schutzausrüstung anlegte. Ihre kurzen Haare ließen Marion Redeker vom Gesicht her manchmal wie einen Mann aussehen, die breite Hüfte und der Hintern waren eindeutig weiblich. Eine gefütterte Weste gegen Kälte kaschierte nebenbei etliche Speckrollen. In der Hand ihr obligatorischer Notizblock, der ihr in Höxter den Spruch „Frau Redeker, zum Diktat bitte“ eingebracht hatte. Beim Anblick ihres Vorgesetzten ließ sie den Mann in Uniform stehen. „Ego. Da bist du ja. Stimmt, du hast wirklich schon mal besser ausgesehen.“

„Seit wann verstehst du was von solchen Dingen?“

Emil marschierte an ihr vorbei ins Innere des Hauses, wodurch ihm entging, wie sie mit den Augen rollte.

„Erklär mir bitte eines“, sagte er. „Wieso hat Zocher eigentlich dich angerufen und nicht mich?“ Die Frage war ihm während der Fahrt hierher eingefallen, als er über das Telefonat mit ihr nachgedacht hatte.

„Ach das. Hat nichts mit dir zu tun, Ego. Keine Bange. Genaugenommen hat er mich gar nicht angerufen.“

„Willst du sagen, du bist im Büro gewesen?“

„Ganz kurz. Ich hatte was vergessen.“

„Du hast noch nie was vergessen.“

Seine Kollegin straffte sich. „Also schön. Ich habe mir die Aussage von der Pflegerin noch mal durchgelesen.“

„Dir ist echt nicht zu helfen.“ Emil ließ sie stehen und verschaffte sich im Flur einen ersten Überblick.

Die Menschen in Overalls, die wie fleißige Ameisen umherliefen, interessierten ihn jedoch weniger. Dass die Spurensicherung bereits vor Ort war, zeigte höchstens die Eindeutigkeit der Sachlage. Vielmehr wollte er die Atmosphäre des Hauses auf sich wirken lassen. Die braune Mustertapete zum Beispiel hatte sicher einiges erlebt, wahrscheinlich sogar die Erweiterung des Warburger Krankenhauses in den Siebzigern. An der Garderobe hing ein Trenchcoat, wie man ihn aus alten Filmen kannte, auf dem Boden lag eine Sporttasche exakt parallel zur Wand. Ein paar Zeitschriften, darunter Warburg zum Sonntag und Desenbergbote, die kostenlos in der Region verteilt wurden und kaum Nachrichten, dafür umso mehr Werbung enthielten, sahen daneben achtlos weggeworfen aus. Emil nahm einen aktuellen Mr. Frost-Katalog, wobei ihm einfiel, dass er noch einkaufen musste, und Tiefkühlware war nicht nur praktisch, sondern auch vitaminschonend, wie es hieß.

„Und, was hast du für mich?“ Er ging weiter den Flur entlang in Erwartung, dass Marion ihm folgen würde.

Selbstverständlich tat sie es. „Das Opfer heißt Lothar Menne. Einundfünfzig Jahre alt. Wohnt hier allein, zumindest laut der Nachbarin, einer Frau Krull, mit der ich vorhin kurz gesprochen habe. Ich habe Helmut gebeten, das zu checken. Hier, das ist er. Aus seiner Jacke.“

Seine Kollegin zeigte auf den Garderobenschrank und überreichte ihm ein Portemonnaie. Emil öffnete es und zog den Personalausweis heraus. Das Foto zeigte einen dunkelhaarigen Mann mit strengem Blick. Der restliche Inhalt war überschaubar: ein paar Scheine Bargeld, der Führerschein, eine Bankkarte und eine weiße Karte im selben Format. „Wofür hältst du das?“ Er hielt die Karte hoch, auf der in winziger Schrift Signum Dienste stand sowie ein Buchstabencode und eine Telefonnummer.

„Keine Ahnung. Vielleicht ist er Mitglied einer Geheimorganisation?“

Emil runzelte die Stirn.

„War’n Witz“, beeilte sich Marion.

„Ruf dort mal an, ok?“

„Geht klar. Hier entlang. Er liegt in der Küche.“ Sie führte ihn zur nächsten Tür.

Eine Allerweltsküche kam zum Vorschein, die Hänge- und Unterschränke an einer Wand aufgereiht, am Ende ein Kühlschrank, die Fronten in Holzoptik, was man auf den ersten Blick erkannte. Typisch der Herd mit den vier bemalten Abdeckplatten. Dass es sauber wirkte, konnte daran liegen, dass selten gekocht wurde. Emil hob die Nase. „Riechst du das?“

„Das ist der Teppichboden im Flur. Wahrscheinlich Urin.“

„Urin?“

„Nicht viel, wie es aussieht. Hoffentlich reicht’s für eine Analyse. Das ist mal was anderes, oder? Ein Täter, der sich vor Aufregung in die Hose macht.“

„Oder vor Angst“, erwiderte Emil. „Aber das meine ich nicht. Da ist noch was anderes. Es riecht nach ... Keine Ahnung.“

„Wenn du es nicht bist, könnte es unser Freund hier sein.“ Der Mann von der Gerichtsmedizin, der auf den Küchenfliesen kniete, hob die Hand zum Gruß. Vor ihm lag ein männlicher Körper: die Leiche von Lothar Menne.

Das Erste, was Emil durch den Kopf ging, war nicht, wo denn bitteschön das viele Blut geblieben wäre, von dem KK3 gesprochen hatte, sondern: Oh nein, bitte nicht Lars! Lars Gievers, ein Typ, der auf nüchternen Magen schwer zu ertragen war in seiner Perfektion. Groß, schlank und schlau, mit rosigen Bäckchen und blondem Haar, das er schmierig zur Seite gescheitelt trug. Mit einem Hauch Schadenfreude bemerkte Emil, dass die kahle Stelle am Hinterkopf allmählich größer wurde. Er hatte keine Lust zu erklären, dass er das mit Geruch natürlich nicht gemeint hatte. Es roch eher nach Erbrochenem, fiel ihm beim Anblick des Rechtsmediziners ein, was er aber für sich behielt. Ein bisschen Zurückhaltung konnte im Moment nicht schaden. Hatte Gievers die Neuigkeiten etwa noch nicht gehört? „Also ist Lother Menne bereits länger tot oder wie meinst du das?“ Er ging in die Hocke und blickte den Leichnam an, als könnte ihn das erhellen.

„Länger ist ein dehnbarer Begriff. Für Ephemeroptera ist eine Stunde schon ziemlich lang.“ Lars Gievers legte seinen Kopf schief und zwinkerte. „Eintagsfliegen, falls du den Begriff nicht kennst.“

Emil ersparte sich auch dazu einen Kommentar, was ihm schwerfiel.

Die Leiche von Lothar Menne lag auf dem Rücken und war noch vollständig bekleidet. Der Körper wirkte normal groß, mit ein paar Kilo zu viel auf den Rippen, wie man am Bauchumfang ablesen konnte. Falsche Ernährung gepaart mit Bewegungsmangel, vermutete Emil, der die Auswirkungen allmählich selber spürte. Das Gesicht war stark verzerrt, die Augen aufgerissen, mit wenig Ähnlichkeit zum Passfoto. Lediglich das Hemd wies Blutflecken auf. Emil hatte mehr davon erwartet, deutlich mehr. Für ihn war auf den ersten Blick nicht ersichtlich, woran der Mann gestorben war, selbst auf den zweiten nicht. Aber dafür gab es zum Glück Lars. Jemand machte Fotos, denn kurze Lichter blitzten auf. „Kannst du mir nun sagen, wie lange er hier schon liegt oder nicht?“

Gievers runzelte die Stirn mit dem blonden Scheitel darüber.

„Nur eine grobe Schätzung, ich bitte dich. Je eher ich was erfahre, desto schneller bist du mich wieder los.“

„Na gut, weil du’s bist.“ Der Rechtsmediziner nahm Pullover und Unterhemd des toten Mannes zwischen die behandschuhten Fingerspitzen und legte einen Teil von dessen Oberkörper frei. Die Haut, die zum Vorschein kam, war am Rücken komplett violett gefärbt. „Wie du siehst, sind die Livores voll ausgeprägt“, sagte er und presste den Daumen gegen die dunkelste Stelle der Totenflecken, wodurch sie wieder hell wurden. „Aber man kann sie wegdrücken. Im Normalfall geht das, wie du weißt, bis circa zwanzig Stunden post mortem.“

„Klar!“

Als Nächstes bewegte Gievers den Kiefer der Leiche sowie einige Fingergelenke – oder versuchte es vielmehr. „Auch die Totenstarre ist stark ausgebildet. Ich würde vermuten, unser Freund hier ist seit mindestens acht Stunden tot.“

Emil sah auf die Uhr. „Also irgendwann zwischen sechzehn Uhr gestern Nachmittag und vier Uhr heute früh. Du weißt schon, dass wir hier einen Fall zu lösen haben?“

„Eine grobe Schätzung, wie du sie gewollt hast. Für ein genaueres Ergebnis brauche ich etwas Zeit. Entweder du geduldest dich oder rufst mich später an.“

„Ich rufe an.“

„Sehr gut. Und, ist dir nichts aufgefallen?“

„Aufgefallen?“

Vorsichtig zog der Rechtsmediziner die Kleidung des Toten weiter nach oben, bis der gesamte Brustkorb zu sehen war. „Na da!“

„Ach so, ja. Keine Ahnung. Was ist da?“

„Na eben, gar nichts.“

 

Emil war nur die Brustbehaarung aufgefallen, weder Wunde noch Schnitt. „Dann weiß ich nicht, was du meinst.“

„Das Blut. Er muss es gespuckt haben. Hast du nicht die Reste in seinem Mund bemerkt? Auch Kleinigkeiten sind wichtig, wie mein Lehrer früher immer gesagt hat. Ich würde mir gerne mal den Rücken anschauen, oder hast du Einwände?“

Emil hatte keine.

Mit geübtem Griff brachte Gievers den Leichnam in die Seitenlage. „Na bitte. Ein, zwei, drei, nein fünf Stichwunden. Da dürfte einiges kaputtgegangen sein.“

Emil nahm im Hintergrund eine Veränderung wahr; seine Kollegin, die bisher geräuschlos dabeigestanden und sich nun in Bewegung gesetzt hatte. Sicher nicht, weil ihr schlecht geworden war oder so. Marion war verdammt taff, und wenn sie einen Wutanfall bekam, wollte er ihr nicht in die Quere kommen.

„Hier fehlt eins“, sagte sie, den Zeigefinger auf einen Messerblock gerichtet, der ansonsten voll bestückt war.

Emil dachte darüber nach. Gut möglich, dass dort die Tatwaffe gesteckt hatte.

„Das bedeutet“, fuhr sie fort, „dass er dem Täter den Rücken zugedreht hat. Er kannte die Person.“

Emil wusste ebenfalls, dass seine Kollegin manchmal voreilige Schlüsse zog. „Man würde auch einem Unbekanntem den Rücken zudrehen, nämlich wenn noch jemand zweites vor einem steht. Vielleicht heben wir uns solche Überlegungen für später auf.“ Während er das sagte, fiel ihm die Kommode auf, vor der die Leiche lag und deren oberste Schublade einige Zentimeter offen stand. Hatte Lothar Menne dort hineinschauen wollen, als er getötet wurde oder war es reiner Zufall?

Emil erhob sich und zog die Schublade ganz auf. Sie enthielt ein Sammelsurium an Gegenständen: Zettel und Kugelschreiber, das Warburger Telefonbuch, zwei Tuben Schuhcreme, ein kaputter Gürtel, Schuhanzieher und so weiter. Kein Bargeld, kein Handy, dabei erschien ihm die Stelle dafür ideal. „Könnte es denn ein Küchenmesser gewesen sein?“, wandte er sich zurück an den Rechtsmediziner. „Eine grobe Schätzung reicht mir vorerst.“

„Nicht ausgeschlossen“, lautete die Antwort. „Ich werde mir das ansehen, wenn ich ihn auf dem Tisch habe.“

„Mach das.“ Emil ahnte, dass mehr nicht kommen würde. Andererseits überraschte ihn gerade das. Er hätte wenigstens einen dummen Kommentar bezüglich seiner Bekanntmachung letzten Freitag erwartet. Entweder war es Rücksichtnahme oder die Neuigkeit war noch nicht bis an Gievers’ Ohren herangedrungen. Er fragte, ob er gegen Nachmittag mit der Autopsie rechnen konnte, doch daraus wurde nichts. In Driburg waren bei einem Feuer in einer Kindertagesstätte drei Kinder verbrannt sowie ein nicht identifizierter Mann, das hatte Vorrang.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, sah Emil sich weiter um. Neben der Kommode befand sich der Essbereich mit der altbewährten Eckbanklösung, rechts davon führte eine schmale Holztür – ja, wohin überhaupt? Emil öffnete sie und verzog sogleich das Gesicht. Nicht wegen der Vorratskammer an sich, die war durchaus praktisch, sondern weil der Gestank von eben hier extrem wurde. „Da drinnen soll sich mal jemand umschauen“, sagte er zu Marion, die es mit einem Schmunzeln entgegennahm.

„Komm mit ins Wohnzimmer“, erwiderte sie. „Das wird dir gefallen.“

Emil folgte seiner Kollegin in das große Zimmer am Ende des Flures. Optisch dominiert wurde es von einer beigefarbenen Sofagarnitur, bestehend aus Dreisitzer, Zweisitzer, Sessel und dem obligatorischen Couchtisch, auf dem die Fernsehzeitschrift samt Fernbedienung thronte. Die Wand zur Rechten wurde fast komplett von einem Schrank in Eiche rustikal eingenommen, dessen Türen offen standen und unter anderem einen alten Röhrenfernseher enthüllten. Mehrere Schubladen waren ebenfalls geöffnet und dem Anschein nach durchwühlt. Auf dem Fußboden lag zwischen Kissen, Zeitschriften und Büchern auch ein Schachbrett aus Holz.

Emil trat an eines der Fenster und zog die Gardine ein Stück zur Seite. Der Blick ging nach vorne zur Straße. Die drei Jugendlichen, die bei seinem Eintreffen auf dem Bürgersteig gesessen hatten, fuhren inzwischen mit ihren Skateboards vorm Haus hin und her und beäugten es neugierig. Ihm fielen die Bilderrahmen zwischen den Fenstern zum Nachbarhaus auf. Auf dem ersten Foto war der junge Lothar Menne mit einer Frau zu sehen, etwas steif beim Fotografen, wobei Emil sich fragte, ob so ein glückliches Paar aussah. Es gab wohl keine verlässliche Antwort darauf, also verschob er das Thema. Das zweite Bild zeigte dieselbe Frau mit Baby im Arm, das dritte ein kleines Mädchen auf einem Kinderfahrrad. „Er hat Frau und Tochter?“

Marion zuckte mit den Schultern. „Wie es scheint. Ich werde das checken.“

Auf einem Schreibtisch gab es weitere Fotos von dem Mädchen. Mit Schultüte, auf einem Pony, im Urlaub. Emil griff nach der wahrscheinlich jüngsten Aufnahme, auf der das Mädchen etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war und mit Frisur und Kleid bereits wie eine junge Frau wirkte. Er suchte nach Ähnlichkeiten zwischen ihr und Lothar Menne, fand aber keine, die ins Auge stach. „Dann schließ nicht aus, dass sie tot sind“, sagte er und stellte den Bilderrahmen zurück neben eine halb heruntergebrannte Stumpenkerze.

Seine Kollegin nickte bedächtig. „Sieh dir nur die vielen Bilder an. Hast du so viele von deiner Tochter in deiner neuen Wohnung?“

„Eine schlechte Frage“, grummelte Emil.

„Tut mir leid, habe ich auch gleich gedacht, als ich es ausgesprochen habe. Ich meine ja nur: Er muss sie sehr geliebt haben.“

Emil konnte und wollte darüber im Moment nicht nachdenken. Was fatal war, er durfte keine Einzelheiten weglassen, nur weil sie ihn persönlich störten. Das war das Letzte, was er sich vorwerfen lassen wollte: dass sich sein Privatleben negativ auf die Arbeit auswirken würde. Darauf hatten doch alle nur gewartet.

„Warum kriege ich Beklemmungen in diesem Haus?“, hörte er Marion fragen.

„Was meinst du?“

Seine Kollegin hatte sich in die Mitte des Raumes gestellt. „Keine Ahnung. Alles wirkt so trostlos hier.“

„Es ist nicht jeder so modern eingerichtet wie du.“

„Woher willst du das wissen, du warst doch noch nie bei ...“ Sie verstummte.

„Warum findest du es trostlos? Nur weil die Tapete alt und abgenutzt ist? Muss deshalb auch das Leben des Mannes trostlos gewesen sein? Wir kennen ihn doch noch gar nicht. Vielleicht hat er einfach andere Priorität gesetzt. Hast du zum Beispiel die Tasche gesehen?“

„Welche Tasche?“

„Die Sporttasche im Flur mit einem Schläger, sieht nach Badmintonschläger aus. Der Mann ist gerade beim Sport gewesen oder wollte hin. Badminton spielt man nicht alleine. Er ist gesellig.“

Marion verschränkte die Arme. „Der Schläger ist aber so gut wie neu, wenn du richtig hingesehen hast, und kann nicht wirklich oft benutzt worden sein. Außerdem ist unser Mann übergewichtig. Sport?“

„Er will etwas ändern in seinem Leben.“

„Ja, genau. Weil es so eintönig ist.“

Emil ließ sich den Gedanken auf der Zunge zergehen. Er arbeitete gerne mit Marion zusammen, weil sie jede Menge brauchbarer Ideen lieferte. Und sich zum Glück nicht so schnell einschüchtern ließ. Seine nächste Frage war die nach möglichen Hinweisen, dass sich gewaltsam Zutritt zum Haus verschafft worden war.

„Gewaltsam nicht. Die Haustür ist laut den Kollegen vom KK3 von innen verschlossen gewesen. Dafür hat die Tür, die vom Garten direkt in den Keller führt, sperrangelweit offen gestanden.“

„Kann man das von der Straße aus einsehen?“

„Nein. Im Dunkeln schon gar nicht.“

Dass man eine Kellertür aufließ, solange man selber zuhause war, fand Emil nicht ungewöhnlich, zumindest tagsüber. Nachts sollte man sie auch im Kreis Höxter lieber verriegeln.

„Soll ich es dir zeigen?“ Bevor er etwas dazu sagen konnte, verbesserte sich Marion: „Natürlich willst du dir dein eigenes Urteil bilden. Dann hier entlang.“

Im Flur kam ihnen ein junger Beamter in Uniform entgegen, der sich räusperte, bevor er zu reden begann: „Ich soll Bescheid geben, dass wir im Schlafzimmer was entdeckt haben.“

Emil und seine Kollegin warfen sich erwartungsvolle Blicke zu und folgten ihm durch eine Glastür über die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Dachschrägen reduzierten die nutzbare Wohnfläche ungemein. Links befand sich ein Badezimmer, den winzigen, schwarzweißen Kacheln nach zu urteilen, die im Türspalt zum Vorschein kamen, dahinter ein weiterer Raum. Das Schlafzimmer lag rechts.

Emil registrierte die Kälte, die ihn dort empfing: sicher keine fünfzehn Grad und damit unterhalb der empfohlenen Schlaftemperatur, was erholsamen Schlaf unmöglich machte. Prompt überkam ihn der Drang zu gähnen, was er unterdrückte. Als Zweites fiel ihm auf, dass nur die linke Hälfte des Ehebetts bezogen war. Ein untrügliches Zeichen, dass Lothar Menne das Haus allein bewohnte, ohne Partnerin oder Partner. Tapete und Möblierung passten zur Etage darunter.

Seine Kollegin schüttelte den Kopf, als würde sie nicht verstehen, dass jemand auf diese Weise leben konnte.

„Und, was habt ihr Schönes für uns?“, fragte Emil in die Runde.

Einer der uniformierten Beamten zeigte auf die Wand über einer Kommode im Stile Gelsenkirchener Barock: „Da!“

Der rechteckige Abdruck auf der Tapete, etwa dreißig mal vierzig Zentimeter groß und dunkel, ließ keinen Zweifel, was er meinte. Der Nagel steckte noch. „Das könnte was zu bedeuten haben. Gute Arbeit“, sagte Emil.

Marion betrachtete die Ränder genauer, allerdings mit gerunzelter Stirn. „Entschuldige mal. Nur, weil dort mal ein Bilderrahmen gehangen hat, muss das nicht gleich heißen, dass ...“

„Es muss nicht, aber es kann. Und unten stehen mehrere Schranktüren und Schubladen offen. Mich würde es nicht wundern, wenn noch mehr fehlt.“

„Heißt das, ich soll Verstärkung anfordern? Ok, ich fordere Verstärkung an.“

„Was ist mit dem Kleiderschrank da, schon mal reingeschaut?“

Die Männer vom KK3 verneinten. „Das wollten wir, aber ... Er klemmt.“

„Jungs, lasst mich mal.“ Demonstrativ schob Marion ihre Ärmel hoch und stemmte ihren Körper gegen die Schranktür, während sie den Schlüssel umdrehte. Ohne Widerstand ließ die Tür sich öffnen. „So, kann ich sonst was für euch tun?“, fragte sie und trat zur Seite.

Emil betrachtete den Inhalt des Möbelstücks. Die Anziehsachen waren penibel einsortiert, oben Pullover, an der Stange Anzüge, Hemden und Freizeithosen und unten die Strümpfe und Unterwäsche. Die Krawatten hingen der Farbe nach über einem Bändchen auf der Innenseite der Tür. Sagte das etwas über Lothar Mennes Charakter aus? Durfte man die Ordnung eines Kleiderschranks überhaupt interpretieren? Wenn er an seine eigenen Klamotten dachte, dann unbedingt.

Zufällig beobachtete er durchs Fenster, wie sich im Nachbarhaus ein Vorhang bewegte. „Wohnt dort die Frau, die uns gerufen hat?“

„Frau Krull“, antwortete Marion. „Sie hat eine etwas merkwürdige Aussage gemacht.“

„Weiß sie schon, was passiert ist?“

„Von mir nicht.“

„Dann komm, bringen wir es hinter uns.“