Ein feines Haus

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Z serii: Die Rougon-Macquart #10
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Viertes Kapitel

Gleich vom folgenden Tage an befaßte sich Octave mit Valérie. Er kundschaftete aus, was sie gewöhnlich um die Zeit tat, da er Aussicht hatte, ihr auf der Treppe zu begegnen; und er richtete es so ein, daß er oft in sein Zimmer hinaufstieg, machte sich das Mittagessen zunutze, das er bei Campardons einnahm, entschlüpfte nötigenfalls unter einem Vorwand aus dem »Paradies der Damen«. Bald bemerkte er, daß die junge Frau, die ihr Kind in den Jardin des Tuileries17 auszuführen pflegte, alle Tage gegen zwei Uhr durch die Rue Gaillon ging. Da pflanzte er sich dann in der Ladentür auf, er wartete auf sie, grüßte sie mit dem ihm eigenen galanten Lächeln eines schönen Verkäufers. Bei jeder ihrer Begegnungen grüßte Valérie höflich mit einem Kopfnicken zurück, ohne jemals stehenzubleiben; aber er sah ihren schwarzen Blick vor Leidenschaft brennen, in ihrem vergrämten Gesicht und im geschmeidigen Wiegen ihrer Taille entdeckte er etwas, das ihn ermutigte.

Sein Plan stand bereits fest, der kühne Plan eines Verführers, der gewohnt ist, mit der Tugend der Ladenmädchen rücksichtslos umzuspringen. Es drehte sich einfach darum, Valérie in sein Zimmer im vierten Stock hinaufzulocken; die Treppe war stets menschenleer und feierlich, dort oben würde sie niemand entdecken; und er ergötzte sich bei dem Gedanken an die moralischen Ermahnungen des Architekten, denn eine Frau aus dem Hause nehmen war ja etwas anderes als Frauen mitbringen.

Doch ein Umstand beunruhigte Octave. Die Küche der Familie Pichon war durch den Gang von ihrem Eßzimmer getrennt, wodurch sie genötigt waren, ihre Tür häufig offenzulassen. Gleich um neun Uhr pflegte Herr Pichon ins Büro zu gehen, um erst gegen fünf Uhr wieder heimzukehren; und alle zwei Tage ging er in der Woche nach dem Abendessen noch weg, um von acht Uhr bis Mitternacht Bücher zu führen. Übrigens schlug die junge Frau, sobald sie Octaves Schritt hörte, die Tür zu, denn sie war sehr zurückhaltend, fast scheu. Er erblickte sie nur von hinten und gleichsam fliehend, mit ihrem blassen, in einen schmalen Knoten zusammengezwängten Haar. Durch diese diskreterweise stets nur einen Spalt breit geöffnete Tür hatte er bisher lediglich einige Winkel der Häuslichkeit erhascht, traurige und saubere Möbel, Wäschestücke, deren Weiß im grauen Tageslicht eines Fensters, das er nicht sehen konnte, glanzlos geworden war, die Ecke eines Kinderbetts hinten in einem zweiten Zimmer, die ganze monotone Einsamkeit einer Frau, die von morgens bis abends den stets gleichen Obliegenheiten eines Beamtenhaushalts nachgeht. Niemals übrigens ein Geräusch; das Kind schien stumm und müde zu sein wie die Mutter; kaum war dann und wann das leise Summen eines schmachtenden Liedes zu hören, das die Mutter stundenlang mit ersterbender Stimme vor sich hin trällerte. Aber nichtsdestoweniger war Octave wütend auf diese Zicke, wie er sie, nannte. Vielleicht spionierte sie ihm nach. Auf jeden Fall würde Valérie niemals hinaufkommen können, wenn die Tür von Pichons dauernd so aufging.

Gerade wähnte er die Angelegenheit im besten Zuge. Eines Sonntags war er, während der Gatte gerade abwesend war, so geschickt zu Werke gegangen, daß er sich in dem Augenblick auf dem Treppenflur des ersten Stocks befand, als die junge Frau im Morgenrock aus der Wohnung ihrer Schwägerin kam, um in ihre eigene Wohnung zurückzukehren; und sie hatte mit ihm sprechen müssen, sie waren einige Minuten verweilt und hatten ein paar höfliche Redensarten gewechselt. Kurzum, er hoffte, beim nächsten Mal in ihre Wohnung vorzudringen. Das weitere pflegte bei einer Frau mit solchem Temperament ganz von selbst zu gehen.

An diesem Abend wurde bei Campardons während des Abendessens Valérie vorgenommen. Octave suchte das Ehepaar zum Reden zu bringen. Da Angèle aber lauschte und Lisa, die im Begriff war, mit ernster Miene eine Hammelkeule aufzutragen, verstohlene Blicke zuwarf, ergingen sich die Eltern zunächst in Lobeserhebungen. Übrigens verteidigte der Architekt jederzeit die »Achtbarkeit« des Hauses mit der Überzeugung eines eitlen Mieters, der daraus eine ungeteilte Ehrbarkeit seiner eigenen Person herzuleiten schien.

»Oh, mein Lieber, anständige Leute ... Sie haben sie ja bei Josserands gesehen. Der Mann ist kein Dummkopf: er steckt voller Ideen, am Ende wird er noch etwas ganz Bedeutendes herausbringen. Was die Frau angeht, so hat sie ihr eigenes Gepräge, wie wir Künstler sagen.«

Frau Campardon, die sich seit dem Vortage wieder schlechter fühlte und halb und halb bettlägerig war, wenngleich ihre Krankheit sie nicht daran hinderte, dicke, innen noch blutige Scheiben Roastbeef zu essen, murmelte ihrerseits matt: »Der arme Herr Théophile, ihm gehtʼs wie mir, er schleppt sich so dahin ... Wahrhaftig, es ist verdienstvoll von Valérie, denn eine Freude ist es nicht, unaufhörlich einen vor Fieber zitternden Mann neben sich zu haben, den die Krankheit meistens quengelig und ungerecht macht.«

Beim Nachtisch erfuhr der zwischen dem Architekten und seiner Frau sitzende Octave mehr darüber, als er begehrte. Sie vergaßen Angèle, sie sprachen in Andeutungen, mit kurzen Blicken, die den Doppelsinn der Sätze unterstrichen; und wenn ihnen der passende Ausdruck fehlte, beugten sie sich abwechselnd zu ihm hinüber und sagten das, was sie ihm Vertrauliches mitteilen wollten, ihm unverblümt ins Ohr. Alles in allem sei dieser Théophile ein Trottel und obendrein impotent, der es verdiene, daß ihn seine Frau so behandelte. Was Valérie angehe, so tauge sie nicht viel; selbst wenn ihr Mann sie befriedigen könnte, würde sie sich ebenso schlecht aufführen, so sehr gehe die Natur mit ihr durch. Alle Welt wisse übrigens ganz genau, daß sie sich in ihrer Verzweiflung darüber, niemals ein Kind zu bekommen, und in der Furcht, ihren Anteil an der Hinterlassenschaft des alten Vabre einzubüßen, falls Théophile etwa sterben sollte, ihren kleinen Camille zwei Monate nach ihrer Verheiratung von einem Fleischergesellen aus der Rue Sainte-Anne hatte machen lassen.

Campardon neigte sich ein letztes Mal zu Octaves Ohr.

»Wissen Sie, mein Lieber, mit einem Wort: eine hysterische Frau!« Und in dieses Wort legte er die ganze schmutzige Phantasie eines Spießbürgers, das genüßliche wurstlippige Lächeln eines Familienvaters, der, plötzlich losgelassen, sich an orgiastischen Bildern weidet.

Angèle sah, als hätte sie verstanden, auf ihren Teller nieder und vermied es, Lisa anzublicken, um nicht lachen zu müssen.

Aber das Gespräch nahm eine andere Wendung, man unterhielt sich jetzt über Pichons, und die Lobesworte wollten kein Ende nehmen.

»Oh, die! Was für rechtschaffene Leute!« sagte Frau Campardon immer wieder. »Manchmal erlaube ich Marie, wenn sie mit ihrer kleinen Lilitte ausgeht, Angèle mitzunehmen. Und das schwöre ich Ihnen, Herr Mouret, all und jedem vertraue ich meine Tochter nicht an; ich muß der Moral der Leute unbedingt sicher sein ... Nicht wahr, Angèle, du hast Marie doch gern?«

»Ja, Mama«, erwiderte Angèle.

Es folgten weitere Einzelheiten. Es sei unmöglich, eine Frau zu finden, die besser und in strengeren Grundsätzen erzogen worden sei. So müsse man denn auch sehen, wie glücklich der Mann sei! Ein so nettes und sauberes einfaches Ehepaar, das einander anbete und bei dem niemals der geringste Streit zu hören sei!

»Übrigens würde man sie nicht im Hause behalten, wenn sie sich schlecht aufführten«, sagte der Architekt ernst und vergaß dabei, was er Vertrauliches über Valérie von sich gegeben hatte. »Hier wünschen wir nur ehrbare Leute ... Mein Ehrenwort, an dem Tage, da meine Tochter der Gefahr ausgesetzt wäre, Weibsbildern auf der Treppe zu begegnen, würde ich kündigen.«

An diesem Abend wollte er mit der Cousine Gasparine heimlich in die Opéra-Comique gehen. Daher holte er auch gleich seinen Hut, wobei er allerdings von einem Geschäft sprach, das ihn bis in die späte Nacht aufhalten würde.

Rose jedoch mußte über diese Geschichte Bescheid wissen, denn als ihr Mann sie mit seiner gewohnten überströmenden Zärtlichkeit küßte, hörte Octave, wie sie mit ihrer ergebenen und mütterlichen Stimme leise sagte: »Amüsiere dich gut und erkälte dich nicht nach Schluß der Vorstellung.«

Am Tage darauf kam Octave ein Gedanke: nämlich mit Frau Pichon Freundschaft zu schließen, indem er ihr gutnachbarliche Gefälligkeiten erwies; so würde sie, falls sie Valérie jemals ertappte, beide Augen zudrücken. Und noch am gleichen Tage bot sich eine Gelegenheit. Frau Pichon pflegte Lilitte, die jetzt anderthalb Jahre alt war, in einem Korbwägelchen spazierenzufahren, über das Herr Gourd in Zorn geriet; nie hatte der Concierge darin eingewilligt, daß der Wagen über die Haupttreppe hinaufgeschafft wurde, er mußte über den Dienstbotenaufgang getragen werden; und da die Wohnungstür oben zu schmal war, mußten jedesmal Räder und Deichsel abmontiert werden, was viel Arbeit machte. An diesem Tage nun kam Octave gerade nach Hause, als seine Nachbarin sich damit abmühte, die Muttern zu lösen, wobei ihr ihre Handschuhe hinderlich waren. Als sie merkte, daß er hinter ihr stand und darauf wartete, daß sie den Treppenflur frei machte, verlor sie völlig den Kopf, und ihre Hände zitterten.

»Aber Madame, warum machen Sie sich diese ganze Mühe?« fragte er schließlich. »Es wäre doch einfacher, diesen Wagen hinten im Gang hinter meine Tür zu stellen.«

Sie antwortete nicht in ihrer übermäßigen Schüchternheit, die sie in hockender Stellung verharren ließ, weil sie nicht die Kraft hatte, sich wieder aufzurichten; und er sah, wie unter dem Halbschleier ihres Huts glühende Röte den Nacken und die Ohren überflutete. Da ließ er nicht locker.

»Ich schwöre Ihnen, Madame, es würde mich keineswegs stören.« Ohne abzuwarten, nahm er den Wagen, trug ihn ganz selbstverständlich davon.

 

Sie mußte ihm folgen; aber sie blieb so verwirrt, so verstört über dieses in ihrem platten Alltagsleben recht beachtliche Erlebnis, daß sie bei seinem Tun zusah und nichts als Bruchstücke von gestammelten Sätzen hervorbrachte: »Mein Gott, das macht doch zuviel Mühe, mein Herr ... Ich bin beschämt, Sie werden sich den Platz verstellen ... Mein Mann wird sehr froh sein ...«

Und sie kehrte in ihre Wohnung zurück; von einer Art Scham erfüllt, schloß sie diesmal fest hinter sich zu.

Octave hielt sie für dämlich. Der Wagen störte ihn sehr, denn er war ihm beim öffnen seiner Tür hinderlich, und er mußte sich schräg in sein Zimmer zwängen. Aber seine Nachbarin schien gewonnen, zumal Herr Gourd dank Campardons Fürsprache gern diese Mißlichkeit hinten in diesem entlegenen Gang zuließ.

Jeden Sonntag kamen Maries Eltern, Herr und Frau Vuillaume, um den Tag bei ihr zu verbringen. Als Octave am nächsten Sonntag fortging, erblickte er die ganze Familie beim Kaffeetrinken; und taktvoll beschleunigte er seine Schritte, da stand Herr Pichon, nachdem sich die junge Frau rasch zu seinem Ohr hinübergebeugt hatte, eilends auf und sagte:

»Entschuldigen Sie, mein Herr, ich bin immer außer Hause, ich habe Ihnen noch nicht danken können. Aber mir liegt sehr daran, Ihnen zum Ausdruck zu bringen, wie glücklich ich war ...«

Octave wehrte ab. Kurzum, er mußte eintreten. Obgleich er bereits Kaffee getrunken hatte, nötigte man ihn, eine Tasse anzunehmen. Um ihm eine Ehre zu erweisen, hatte man ihn zwischen Herrn und Frau Vuillaume gesetzt. Gegenüber, auf der anderen Seite des runden Tisches, überkam Marie wieder eine jener Anwandlungen von Verwirrung, die ihr alle Augenblicke ohne sichtlichen Anlaß alles Blut des Herzens ins Gesicht trieb. Er betrachtete sie, denn er hatte sie sich noch nie in aller Muße ansehen können. Aber sie war, wie Trublot zu sagen pflegte, nicht sein Ideal: er fand, sie sei dürftig, farblos, habe ein ausdrucksloses Gesicht, schütteres Haar, aber feine und hübsche Züge.

Als sie sich ein wenig gefaßt hatte, lachte sie mehrmals leise und sprach wieder von dem Wagen, über den sie sich nicht genug auslassen konnte.

»Jules, wenn du gesehen hättest, wie der Herr ihn auf seinen Armen davontrug ... Ach ja, das ging ruck, zuck!«

Pichon bedankte sich abermals. Er war groß und mager, sah kränklich aus, war schon gebeugt vom maschinemäßigen Büroleben, und in seinen trüben Augen lag die stumpfsinnige Ergebenheit eines Schulpferdes.

»O bitte! Reden wir nicht weiter davon«, sagte Octave schließlich. »Das ist wirklich nicht der Mühe wert ... Madame, Ihr Kaffee ist vorzüglich, ich habe niemals so guten Kaffee getrunken.«

Sie errötete abermals, und zwar so heftig, daß selbst ihre Hände rosig wurden.

»Setzen Sie ihr keine Flausen in den Kopf, mein Herr«, sagte Herr Vuillaume ernst. »Ihr Kaffee ist gut, aber es gibt besseren. Und Sie sehen ja, daß sie sich gleich etwas drauf eingebildet hat!«

»Eingebildetsein taugt nichts«, erklärte Frau Vuillaume. »Wir haben sie stets zu Bescheidenheit ermahnt.«

Beide waren sie klein und dürr, sehr alt und sahen grau im Gesicht aus; die Frau war in ein schwarzes Kleid gezwängt, der Mann trug einen dünnen Überrock, auf dem nur der Fleck eines breiten, roten Ordensbandes zu sehen war.

»Herr Mouret«, fing Herr Vuillaume wieder an, »mir ist im Alter von sechzig Jahren an dem Tag das Kreuz der Ehrenlegion18 verliehen worden, als ich in Pension ging, nachdem ich neununddreißig Jahre lang Schriftführer im Unterrichtsministerium gewesen bin. Nun, mein Herr, an diesem Tag habe ich wie an allen anderen Tagen zu Abend gegessen, ohne daß mich Hochmut von meinen Gewohnheiten abgebracht hätte ... Das Kreuz stand mir zu, das wußte ich. Ich war lediglich von Dankbarkeit erfüllt.« Sein Dasein war klar, jedermann sollte es kennenlernen. Nach fünfundzwanzig Dienstjahren war sein Jahresgehalt auf viertausend Francs erhöht worden. Seine Pension betrug demnach zweitausend Francs. Da ihre kleine Marie aber erst spät zur Welt gekommen war, als Frau Vuillaume keine Kinder mehr zu bekommen hoffte, hatte er als Expedient mit fünfzehnhundert Francs wieder arbeiten gehen müssen. Jetzt, da das Kind versorgt war, lebten sie von der Pension, indem sie sich in der Rue Durantin auf dem Montmartre, wo das Leben weniger teuer war, mit einer kleinen Wohnung begnügten. »Ich bin sechsundsiebzig Jahre alt«, sagte er zum Abschluß, »und so istʼs eben, lieber Schwiegersohn, so istʼs eben!«

Schweigsam und müde, die Augen auf seinen Orden geheftet, sah Pichon ihn an. Ja, das würde auch seine Geschichte sein, wenn das Glück ihm hold war. Er war der jüngste Sohn einer Obsthändlerin, die ihren Laden durchgebracht hatte, damit er das Abitur machen konnte, weil das ganze Stadtviertel ihm große Klugheit nachsagte; und acht Tage vor seinem Triumph an der Sorbonne19 war sie zahlungsunfähig gestorben. Nachdem er sich drei Jahre kümmerlich bei einem Onkel hatte durchschlagen müssen, hatte er das unverhoffte Glück gehabt, ins Ministerium eintreten zu können, das ihn zum Erfolg führen sollte und wo man ihm bereits zur Heirat verholfen hatte.

»Man tut seine Pflicht, die Regierung tut die ihre«, murmelte er, während er die mechanische Rechnung aufstellte, daß er noch sechsunddreißig Jahre zu warten hatte, bis er mit dem Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde und zweitausend Francs Pension erhielt. Dann wandte er sich zu Octave: »Sehen Sie, mein Herr, eine Last sind vor allem die Kinder.«

»Allerdings«, sagte Frau Vuillaume. »Hätten wir noch ein zweites bekommen, wären wir niemals ausgekommen ... Denken Sie deshalb auch daran, Jules, was ich verlangt habe, als ich Ihnen Marie zur Frau gab: ein Kind, nicht mehr, oder wir würden Ärger miteinander bekommen! Nur die Arbeiter hecken Junge, so wie die Hühner Eier legen, unbesorgt darum, was das mal kostet. Freilich lassen sie sie dann ja auch draußen rumlaufen; wahre Viehherden, die mich auf den Straßen anekeln.«

Octave hatte Marie angeblickt, da er meinte, dieses heikle Thema werde ihre Wangen purpurrot färben. Aber sie blieb blaß, sie pflichtete ihrer Mutter mit der Seelenruhe eines unschuldigen Mädchens bei. Octave langweilte sich tödlich und wußte nicht, auf welche Art und Weise er sich entfernen sollte. So also pflegten diese Leute den Nachmittag in dem kleinen, kalten Eßzimmer zu verbringen, indem sie alle fünf Minuten langsam ein paar Worte kauten, in denen nur von ihren eigenen Angelegenheiten die Rede war. Selbst das Dominospiel fanden sie zu aufregend.

Jetzt setzte Frau Vuillaume ihre Ansichten auseinander. Nach einem langen Stillschweigen, das allen vieren keinerlei Verlegenheit bereitete, als hätten sie das Bedürfnis verspürt, sich neue Gedanken zurechtzulegen, meinte sie:

»Sie haben kein Kind, mein Herr? Das kommt noch ... Ach, es bedeutet Verantwortung, besonders für eine Mutter! Als die Kleine da geboren wurde, war ich neunundvierzig Jahre alt, mein Herr, ein Alter, in dem man sich glücklicherweise zu benehmen weiß. Ein Junge wächst ja noch von selbst auf, aber ein Mädchen! Und ich habe wenigstens den Trost, meine Pflicht getan zu haben, o ja!«

Nun trug sie in kurzen Sätzen ihren Erziehungsplan vor. Zunächst einmal Ehrbarkeit. Keine Spielereien auf der Treppe, die Kleine stets zu Hause und sorgfältig beaufsichtigt halten, denn die Gassenmädel haben nur Schlechtigkeiten im Sinn. Die Türen geschlossen, die Fenster zu, nur kein Luftzug, der garstige Dinge von der Straße hereinbringt. Draußen keinesfalls die Hand des Kindes loslassen, es daran gewöhnen, die Augen niedergeschlagen zu halten, um jedem schlechten Anblick zu entgehen. In Sachen der Religion keine Übertreibung, gerade so viel, wie als sittlicher Kern notwendig ist. Wenn das Mädchen dann größer geworden, Hauslehrerinnen nehmen, es nicht in Pensionate stecken, wo die Unschuldigen verdorben werden; und obendrein muß man dem Unterricht beiwohnen, auf das achtgeben, was das Kind nicht wissen darf, die Zeitungen selbstverständlich verstecken und den Bücherschrank abschließen. Ein kleines Fräulein erfährt davon noch immer zuviel, erklärte die alte Dame abschließend.

Während ihre Mutter sprach, schaute Marie mit verschwommenem Blick ins Leere. Sie sah die klösterlich abgesperrte kleine Wohnung wieder, diese engen Räume in der Rue Durantin, wo sie sich nicht mit den Ellbogen aufs Fensterbrett lehnen durfte. Es war eine verlängerte Kindheit, allerlei Verbote, die sie nicht begriff, Zeilen, die ihre Mutter in ihrer Modezeitung mit Tinte durchstrich und deren schwarze Balken sie zum Erröten brachten, von Anstößigkeiten gereinigte Lektionen, die selbst ihre Lehrerinnen in Verlegenheit setzten, wenn sie diese ausfragte. Eine sehr sanfte Kindheit im übrigen, ein schlaffes und laues Heranwachsen wie in einem Treibhaus, ein Wachtraum, in dem die Wörter der Sprache und die täglichen Begebenheiten zu albernen Bedeutungen entstellt wurden. Und noch jetzt, da sie, von diesen Erinnerungen erfüllt, verloren vor sich hin blickte, schwebte auf ihren Lippen das Lachen eines Kindes, das in der Ehe unwissend geblieben war.

»Sie können mir wirklich glauben, wenn es Ihnen beliebt, mein Herr«, sagte Herr Vuillaume, »meine Tochter hatte mit über achtzehn Jahren noch keinen einzigen Roman gelesen ... Nicht wahr, Marie?«

»Ja, Papa.«

»Ich besitze«, fuhr er fort, »die sehr schön eingebundenen gesammelten Werke von George Sand20, und trotz der Befürchtungen ihrer Mutter habe ich mich entschlossen, ihr ein paar Monate vor ihrer Verheiratung zu erlauben, den ›André21‹ zu lesen, ein ungefährliches, phantasievolles Werk, das die Seele erhebt ... Ich, ich bin für eine freisinnige Erziehung. Die Literatur hat gewiß ihre Berechtigung ... Diese Lektüre hat eine außerordentliche Wirkung auf unsere Tochter ausgeübt, mein Herr. Sie weinte nachts im Schlafe: ein Beweis dafür, daß zum Begreifen des Genies nichts besser geeignet ist als eine reine Phantasie.«

»Es ist so schön!« murmelte die junge Frau, deren Augen glänzten.

Aber nachdem Pichon die folgende Theorie dargelegt hatte: vor der Ehe keine Romane, in der Ehe alle Romane, schüttelte Frau Vuillaume den Kopf. Sie lese niemals und befände sich doch wohl dabei.

Nun sprach Marie leise von ihrer Einsamkeit.

»Mein Gott, bisweilen nehme ich ein Buch zur Hand. Übrigens sucht Jules sie für mich in der Leihbücherei in der Passage Choiseul aus ... Wenn ich wenigstens noch Klavier spielen könnte!«

Octave verspürte schon lange das Bedürfnis, einen Satz anzubringen.

»Wie, Madame!« rief er aus. »Sie spielen nicht Klavier?«

Es entstand Verlegenheit. Die Eltern schützten eine Verkettung unglücklicher Umstände vor, da sie nicht eingestehen wollten, daß sie die Kosten gescheut hatten. Übrigens versicherte Frau Vuillaume, Marie könne von Geburt aus richtig singen; als junges Mädchen habe sie allerlei sehr hübsche Lieder singen können, sie hätte die Melodien nur einmal zu hören brauchen, um sie zu behalten; und die Mutter erinnerte an jenes spanische Lied – die Geschichte einer Gefangenen, die sich nach ihrem Herzliebsten sehnt –, das sie als Kind so ausdrucksvoll vorzutragen pflegte, daß auch den verstocktesten Herzen Tränen entlockt wurden.

Aber Marie blieb untröstlich. Die Hand nach dem Nebenzimmer ausstreckend, wo ihr Töchterlein schlief, beteuerte sie: »Ach, ich schwöre feierlich, daß Lilitte Klavier spielen lernen wird, und wenn ich die größten Opfer bringen müßte!«

»Denke zunächst einmal daran, sie so zu erziehen, wie wir dich selber erzogen haben«, sagte Frau Vuillaume streng. »Gewiß, ich habe nichts gegen die Musik, sie entfaltet das Gemüt. Vor allem aber gib auf deine Tochter acht, halte die schlechte Luft von ihr fern, sieh zu, daß sie ihre Unwissenheit bewahrt ...« Sie begann wieder von vorn, sie legte sogar noch mehr Nachdruck auf die Religion, legte fest, wie oft ein Mädchen im Monat zur Beichte zu gehen habe, bestimmte die Messen, die man unbedingt besuchen müsse, und das alles unter dem Gesichtspunkt der Schicklichkeit.

Da sprach Octave erschöpft von einer Verabredung, die ihn nötige aufzubrechen. Seine Ohren sausten vor Langeweile, er war sich klar, daß dieses Gespräch in solcher Weise bis zum Abend weitergehen würde. Und er flüchtete, mochten doch die Vuillaumes und die Pichons vor immer denselben langsam ausgetrunkenen Tassen Kaffee sitzen und sich untereinander erzählen, was sie sich Sonntag für Sonntag aufs neue wiederholten. Als er ein letztes Mal grüßte, wurde Marie mit einem Schlag und ohne Grund purpurrot.

Von diesem Nachmittag an beschleunigte Octave sonntags vor der Tür der Pichons seine Schritte, besonders wenn er Herrn und Frau Vuillaumes rechthaberische Stimmen hörte. Im übrigen war er ganz mit Valéries Eroberung beschäftigt. Trotz der flammenden Blicke, deren Ziel er zu sein glaubte, wahrte sie eine unerklärliche Zurückhaltung; und darin sah er das Spiel einer koketten Frau. Eines Tages begegnete er ihr sogar wie zufällig im Jardin des Tuileries, wo sie seelenruhig über ein Gewitter vom Tage zuvor zu plaudern begann, was ihn vollends darin bestärkte, daß verteufelt viel mit ihr los sei. So ging er denn überhaupt nicht mehr von der Treppe weg und paßte den Augenblick ab, da er, zur Brutalität entschlossen, in ihre Wohnung eindringen konnte.

 

Sooft er jetzt vorüberging, lächelte Marie errötend. Sie wechselten freundnachbarliche Grüße. Als er ihr eines Tages gegen Mittag einen Brief hinaufbrachte, womit Herr Gourd ihn betraut hatte, um sich die vier Treppen zu ersparen, fand er sie in arger Verlegenheit: gerade hatte sie Lilitte im Hemd auf den runden Tisch gesetzt und war bemüht, sie wieder anzukleiden.

»Was gibtʼs denn?« fragte der junge Mann.

»Ach, es ist wegen der Kleinen hier!« erwiderte sie. »Mir ist der unselige Einfall gekommen, sie auszuziehen, weil sie jammerte. Und nun weiß ich nicht mehr weiter, ich weiß nicht mehr weiter!«

Er blickte sie verwundert an. Sie drehte einen Rock hin und her, suchte die Häkchen. Dann setzte sie hinzu:

»Sie verstehen, ihr Vater hilft mir doch immer morgens, bevor er geht, sie zurechtzumachen ... Allein finde ich mich in ihren Sachen ja nie zurecht. Das ärgert mich, das regt mich auf ...«

Die Kleine, die es satt hatte, im Hemd dazusitzen, und durch Octaves Anblick erschreckt war, zappelte und warf sich auf dem Tisch hintenüber.

»Geben Sie acht!« rief er. »Sie wird gleich runterfallen.«

Es war eine Katastrophe. Marie sah ganz so aus, als wage sie die nackten Glieder ihrer Tochter gar nicht zu berühren. Sie betrachtete sie unausgesetzt mit der Verblüffung einer Jungfrau, die bestürzt darüber ist, daß sie so was hat machen können. Und außer der Furcht, der Kleinen Schaden zuzufügen, gesellte sich zu ihrer Ungeschicklichkeit ein unbestimmter Widerwille vor diesem lebenden Fleisch. Doch mit Hilfe Octaves, der sie beruhigte, kleidete sie Lilitte wieder an.

»Was machen Sie bloß, wenn Sie erst ein Dutzend haben?« sagte er lachend.

»Aber wir werden ja nie mehr eins bekommen!« erwiderte sie verstört.

Da scherzte er: es sei nicht recht von ihr, das zu beschwören, ein Kind sei so schnell gemacht!

»Nein, nein!« sagte sie immer wieder hartnäckig. »Sie haben Mama neulich gehört. Sie hat es Jules doch verboten ... Sie kennen sie nicht; es gäbe endlose Streitigkeiten, wenn noch ein zweites käme.«

Octave hatte seinen Spaß an der Gelassenheit, mit der sie diese Frage erörterte. Er setzte ihr weiter zu, ohne daß es ihm gelang, sie verlegen zu machen.

Sie mache übrigens, was ihr Mann wolle. Freilich, sie liebe Kinder; hätte sich ihr Mann noch welche wünschen dürfen, so hätte sie nicht nein gesagt. Und unter dieser Willfährigkeit, die sich den Befehlen der Mutter unterordnete, stach die Gleichgültigkeit einer Frau hervor, deren Mütterlichkeit noch nicht erwacht war. Lilitte nahm sie nicht mehr in Anspruch als ihr Haushalt, den sie aus Pflichtgefühl führte. Hatte sie das Geschirr abgewaschen und die Kleine spazierengefahren, so setzte sie ihr altes, von schläfriger Leere erfülltes Jungmädchenleben fort, eingewiegt von der unbestimmten Erwartung einer Freude, die nicht kommen wollte. Als Octave gesagt hatte, immer so allein müsse sie sich doch langweilen, schien sie überrascht zu sein; nein, sie langweile sich niemals, die Tage flössen ja trotz alledem dahin, ohne daß sie beim Schlafengehen wisse, mit welcher Arbeit sie sie verbracht habe. Außerdem gehe sie sonntags zuweilen mit ihrem Mann aus; ihre Eltern kämen, oder sie lese auch. Würde sie vom Lesen keine Kopfschmerzen bekommen, so hätte sie jetzt, da sie alles lesen durfte, von morgens bis abends gelesen.

»Ärgerlich ist nur«, meinte sie, »daß sie in der Leihbücherei in der Passage Choiseul nichts haben ... So wollte ich ›André‹ haben, um ihn noch einmal zu lesen, so sehr hat es mich damals zu Tränen gerührt. Nun ja, gerade ist ihnen der Band gestohlen worden ... Dazu schlägt mir mein Vater seinen eigenen ab, weil Lilitte die Bilder zerreißen könnte.«

»Aber mein Freund Campardon«, sagte Octave, »hat die ganze George Sand ... Ich werde ihn um ›André‹ für Sie bitten.«

Sie errötete, ihre Augen glänzten. Wahrhaftig, er sei zu liebenswürdig!

Und als er sie verließ, stand sie mit baumelnden Armen, den Kopf ohne jeden Gedanken, vor Lilitte, in der Haltung, die sie ganze Nachmittage lang beibehielt. Nähen verabscheute sie, sie häkelte, und zwar immerzu die gleichen Spitzendeckchen, die auf den Möbeln herumlagen.

Am Tage darauf, einem Sonntag, brachte Octave ihr das Buch. Pichon hatte fortgehen müssen, um eine Visitenkarte bei einem seiner Vorgesetzten abzugeben. Und da der junge Mann Marie fertig angekleidet antraf – sie war gerade von einem Gang in die Nachbarschaft zurückgekehrt –, fragte er sie aus Neugierde, ob sie aus der Messe zurückkäme, denn er hielt sie für fromm.

Sie verneinte. Bevor ihre Mutter sie verheiratet hatte, habe sie sie ganz regelmäßig hingeführt. Während des ersten halben Jahres ihrer Ehe sei sie, da sie sich daran gewöhnt hatte, wieder hingegangen, in der ständigen Furcht, zu spät zu kommen. Als sie dann einige Messen versäumt habe, habe sie – warum, wisse sie nicht – den Fuß nicht mehr in eine Kirche gesetzt. Ihr Mann könne die Priester nicht ausstehen, und ihre Mutter sage zu ihr jetzt nicht einmal mehr ein Sterbenswort davon. Allerdings war sie durch Octaves Frage bewegt, als hätte er in ihr soeben Dinge wachgerufen, die unter den Trägheiten ihres Daseins begraben lagen.

»Ich muß doch demnächst mal morgens in die Kirche Saint-Roch gehen«, sagte sie. »Eine Beschäftigung, die einem fehlt, das ruft sogleich eine Leere hervor.« Und auf diesem blassen Gesicht eines spät zur Welt gekommenen, von zu alten Eltern gezeugten Mädchens tauchte die krankhafte Sehnsucht nach einem anderen Dasein auf, das einst im Land der Phantasiegebilde erträumt worden war. Sie konnte nichts verheimlichen, alles stieg ihr ins Gesicht, unter diese Haut, die wie bei Bleichsucht fein und durchsichtig war. Dann wurde sie gerührt, mit einer vertraulichen Gebärde ergriff sie Octaves Hände. »Ach, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie mir dieses Buch gebracht haben! Kommen Sie morgen nach dem Mittagessen. Ich werde es Ihnen zurückgeben und Ihnen sagen, welchen Eindruck es auf mich gemacht hat ... Das wird Spaß machen, nicht wahr?«

Als Octave sie verließ, dachte er, sie sei doch immerhin drollig. Sie interessierte ihn allmählich, er wollte mit Pichon sprechen, um ihn aufzutauen und zu veranlassen, sie ein bißchen aufzurütteln; denn sicherlich brauchte dieses Frauchen nur aufgerüttelt zu werden. Gerade am folgenden Tag traf er den Beamten, als der eben fortging; und er begleitete ihn auf die Gefahr hin, selber eine Viertelstunde zu spät ins »Paradies der Damen« zu kommen. Aber Pichon erschien ihm noch weniger aufgeschlossen als seine Frau, er steckte voller beginnender Wunderlichkeiten, sein ganzes Sinnen war darauf gerichtet, sich bei Regenwetter nicht die Schuhe zu beschmutzen. Er ging auf den Zehenspitzen und sprach dabei fortwährend von seinem stellvertretenden Bürovorsteher. Octave, der in dieser Angelegenheit von brüderlichen Absichten beseelt war, ließ ihn schließlich in der Rue Saint-Honoré laufen, nachdem er ihm geraten hatte, Marie oft ins Theater zu führen.