Der Bauch von Paris: mehrbuch-Weltliteratur

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Gavards Haltung gegenüber Florent war von einer Freude am Verbotenen erfüllt. Er zwinkerte ihm ständig mit den Augen zu, sprach leise, um ihm die harmlosesten Dinge zu sagen, und legte in jeden Händedruck freimaurerische vertrauliche Mitteilungen. Endlich war er also einem Abenteuer begegnet. Er hatte einen wirklich gefährdeten Kumpel; er konnte, ohne allzusehr zu lügen, von Gefahren sprechen, denen er sich aussetzte. Er empfand sicherlich eine uneingestandene Angst angesichts dieses Burschen, der aus dem Zuchthaus zurückkehrte und dessen Magerkeit von langen Leiden berichtete; aber diese köstliche Angst ließ ihn über sich selbst hinauswachsen und redete ihm ein, er begehe eine sehr erstaunliche Handlung, indem er sich einen der gefährlichsten Menschen zum Freunde nahm. Florent wurde heilig, er schwor nur bei Florent, erwähnte Florents Namen, wenn es ihm an Argumenten mangelte und er die Regierung ein für allemal zerschmettern wollte.

Gavard hatte in der Rue SaintJacques wenige Monate nach dem Staatsstreich seine Frau verloren. Die Bratküche behielt er bis zum Jahre 1856. Um diese Zeit ging das Gerücht um, er habe beträchtliche Summen verdient, indem er sich mit einem Kolonialwarenhändler, seinem Nachbarn, zusammentat, der mit einer Lieferung von Trockengemüse für die Orientarmee beauftragt war. Tatsache war, daß er ein Jahr lang von seinen Zinsen lebte, nachdem er die Bratküche verkauft hatte. Aber er sprach nicht gern von dem Ursprung seines Vermögens; das war ihm peinlich und hinderte ihn, über den Krimkrieg26, den er als ein abenteuerliches Unternehmen bezeichnete, »einzig durchgeführt, um den Thron zu festigen und gewisse Taschen zu füllen«, rundheraus seine Meinung zu sagen. Nach einem Jahr langweilte er sich tödlich in seiner Junggesellenwohnung. Da er den QuenuGradelles fast täglich einen Besuch abstattete, zog er näher zu ihnen und nahm sich eine Wohnung in der Rue de la Cossonnerie. Dort war es, wo ihn die Hallen mit ihrem Lärm und ihrem ungeheuren Klatsch in ihren Bann zogen. Er entschloß sich, in der Geflügelhalle einen Stand zu mieten, lediglich um sich zu zerstreuen und seine leeren Tage mit dem Tratsch des Marktes auszufüllen. Nun lebte er mitten in diesem endlosen Geschwätz, war über den geringsten Skandal im Viertel auf dem laufenden, und der Kopf summte ihm von dem unausgesetzten Stimmengekreisch um ihn. Er kostete dort tausend prickelnde Freuden, war selig, sein Element gefunden zu haben und sich mit den Wonnen eines in der Sonne schwimmenden Karpfens darin zu versenken. Manchmal kam Florent ihm an seinem Stand die Hand drücken. Die Nachmittage waren noch sehr heiß. Längs der schmalen Gänge saßen die Frauen und rupften. Sonnenstreifen fielen zwischen die hochgezogenen Markisen; die Federn flogen gleich tanzendem Schnee in der glühenden Luft und im Goldstaub der Strahlen unter den Fingern davon. Zurufe, ein ganzes Kielwasser von Angeboten und Schmeichelworten folgten Florent. »Eine schöne Ente, mein Herr? – Kommen Sie zu mir sehen ... Ich habe wunderschöne fette Hühner ... Mein Herr, mein Herr, kaufen Sie mir dieses Taubenpaar ab ...« Er riß sich los, belästigt, halb taub. Die Frauen rupften weiter und stritten sich dabei um ihn. Wolken feiner Flaumfedern senkten sich herab, benahmen ihm mit einem vom strengen Geruch des Geflügels gleichsam erhitzten und stickig gewordenen Dunst den Atem. Schließlich fand er in der Mitte des Ganges bei der Wasserleitung Gavard, der in Hemdsärmeln, die Arme über dem Latz seiner blauen Schürze gebeugt, vor seinem Stand hochtrabend daherredete. Dort herrschte er inmitten einer Gruppe von zehn, zwölf Weibern und sah dabei aus wie ein leutseliger Fürst. Er war der einzige Mann auf dem Markt. Er hatte ein so ausdauerndes Mundwerk, daß er, nachdem er sich mit fünf oder sechs Mädchen, die er nacheinander einstellte, damit sie ihm den Laden führten, überworfen hatte, sich entschloß, seine Ware selber zu verkaufen, weil, wie er kindlich sagte, diese dummen Gänse den lieben langen Tag mit Klatschen verbrächten und er nicht zurechtkommen könne. Da aber jemand auf seinen Stand aufpassen mußte, wenn er abwesend war, hatte er Marjolin aufgelesen, der auf den Straßen herumbummelte, nachdem er alle kleinen Beschäftigungen in den Hallen versucht hatte. Manchmal blieb Florent eine ganze Stunde bei Gavard, aufs höchste verwundert von seinem unerschöpflichen Geklatsche, seiner Unverfrorenheit und seiner Ungezwungenheit unter all diesen Weibern, mit der er der einen das Wort abschnitt, sich mit einer anderen auf zehn Stände Entfernung herumstritt, einer dritten einen Kunden wegnahm und er allein mehr Krach machte als die über hundert schwatzenden Nachbarinnen, deren Geschrei die Eisenplatten der Halle erschütterte und sie wie ein Tamtam klingend erbeben ließen.

Die ganze Verwandtschaft des Geflügelhändlers bestand nur noch aus einer Schwägerin und einer Nichte. Als seine Frau starb, beweinte ihre ältere Schwester, Frau Lecœur, die seit einem Jahr Witwe war, sie in übertriebener Weise und kam fast jeden Abend den unglücklichen Gatten trösten. Sie mußte wohl damals die Absicht hegen, ihm zu gefallen und den noch warmen Platz der Verstorbenen einzunehmen. Aber Gavard konnte hagere Frauen nicht ausstehen; er sagte, es täte ihm weh, die Knochen unter der Haut zu fühlen. Er streichelte nur sehr fette Katzen und Hunde und genoß ein persönliches Behagen an den runden und wohlgenährten Rücken. Frau Lecœur, die gekränkt und wütend war, zu sehen, daß ihr die Hundertsousstücke des Bratkochs entgingen, speicherte tödlichen Groll in sich auf. Ihr Schwager wurde ihr Feind, mit dem sie sich alle Stunden beschäftigte. Als sie sah, daß er sich in den Markthallen niederließ, zwei Schritt von der Halle entfernt, wo sie Butter, Käse und Eier verkaufte, beschuldigte sie ihn, er habe das ausgeheckt, um sie zu ärgern und ihr Unglück zu bringen. Seitdem jammerte sie, wurde noch gelber, brachte sich so um den Verstand, daß sie schließlich tatsächlich ihre Kundschaft einbüßte und schlechte Geschäfte machte. Sie hatte lange Zeit die Tochter einer ihrer Schwestern bei sich gehabt, einer Bäuerin, die ihr die Kleine geschickt und sich nicht weiter um sie gekümmert hatte. Das Kind wuchs in den Markthallen auf. Da sie mit Familiennamen Sarriet hieß, nannte man sie bald kurzweg die Sarriette. Mit sechzehn Jahren war sie ein so ausgekochtes Ding, daß Herren ihren Käse einzig, um sie zu sehen, kaufen kamen. Dabei machte sie sich nichts aus den Herren; mit ihrem blassen Gesicht einer dunklen Madonna und ihren Augen, die wie glühende Scheite brannten, war sie mehr für die unteren Schichten. Einen Lastträger erkor sie sich, einen Burschen aus Ménilmontant, der für ihre Tante Besorgungen erledigte. Als sie sich mit zwanzig Jahren mit Vorschüssen, deren Herkunft man niemals richtig erfuhr, als Obsthändlerin selbständig machte, begann ihr Liebhaber, den man Herr Jules nannte, seine Hände zu pflegen, nur noch saubere Kittel und eine Samtmütze zu tragen und erst am Nachmittag in Pantoffeln in die Hallen zu kommen. Sie wohnten zusammen in der Rue Vauvilliers im dritten Stock eines großen Hauses, dessen Erdgeschoß ein düsteres Café einnahm. Die Undankbarkeit der Sarriette verbitterte Frau Lecœur vollends, die sie mit einer Flut zotigster Ausdrücke belegte. Sie überwarfen sich miteinander, die Tante war außer sich, und die Nichte erfand mit Herrn Jules allerhand Geschichten, die er in der Butterhalle erzählen ging. Gavard fand die Sarriette spaßig; er zeigte sich ihr gegenüber voller Nachsicht und tätschelte ihr die Wangen, wenn er sie traf, denn sie war mollig und köstlich im Fleisch.

Eines Nachmittags, als Florent, erschöpft von den vergeblichen Laufereien, die er am Morgen auf der Stellungssuche gemacht hatte, in der Fleischerei saß, kam Marjolin herein. Dieser große Bursche mit seiner flämischen Schwerfälligkeit und Gutmütigkeit war Lisas Schützling. Sie sagte, er sei nicht schlecht, ein bißchen dumm, stark wie ein Pferd, durchaus interessant übrigens, da man weder seinen Vater noch seine Mutter kenne. Sie war es auch, die ihn bei Gavard untergebracht hatte.

Lisa saß am Ladentisch, ärgerlich über Florents schmutzige Stiefel, die auf den weißen und rosa Fliesen Flecke hinterließen. Schon zweimal war sie aufgestanden, um Sägemehl in den Laden zu streuen. Sie lächelte Marjolin zu.

»Herr Gavard«, sagte der junge Mann, »schickt mich, ich soll Sie fragen ...« Er hielt inne, sah um sich und senkte die Stimme. »Er hat mir eingeschärft, zu warten, bis niemand im Laden ist, und Ihnen die Worte auszurichten, die er mich hat auswendig lernen lassen: ›Frage sie, ob keine Gefahr besteht und ob ich kommen kann, um mit Ihnen über das Bewußte zu sprechen.‹«

»Sage Herrn Gavard, daß wir ihn erwarten«, antwortete Lisa, die an das geheimnisvolle Gebaren des Geflügelhändlers gewöhnt war.

Aber Marjolin ging noch nicht fort; er blieb mit einem Ausdruck schmeichlerischer Unterwürfigkeit verzückt vor der schönen Fleischersfrau stehen.

Gleichsam gerührt von dieser stummen Verehrung fuhr Lisa fort:

»Gefällt es dir bei Herrn Gavard? Das ist kein schlechter Mensch; du wirst gut daran tun, ihn zufriedenzustellen.«

»Ja, Madame Lisa.«

»Bloß, du bist unvernünftig; ich habe dich noch gestern auf den Dächern der Hallen gesehen; außerdem verkehrst du mit einem Haufen übler Kerle und Frauenzimmer. Du bist jetzt ein Mann; du mußt doch an deine Zukunft denken.«

»Ja, Madame Lisa!«

Sie mußte einer Dame antworten, die ein Pfund Koteletts mit Pfeffergurken bestellen kam. Sie verließ den Ladentisch und trat an den Hackklotz hinten im Laden. Dort trennte sie mit einem schmalen Messer drei Koteletts von einem Schweinsrippenstück ab; und, mit einem Hackmesser ausholend, führte sie aus ihrem nackten und kräftigen Handgelenk heraus drei kurze Schläge. Hinten hob sich bei jedem Schlag ein wenig ihr Rock aus Merinowolle, während sich die Fischbeinstäbe ihres Korsetts auf dem straff gespannten Stoff des Mieders abzeichneten. Sie war sehr ernst, hatte zusammengekniffene Lippen und helleuchtende Augen, als sie die Koteletts aufnahm und gemächlich abwog.

 

Als die Dame gegangen war und Lisa Marjolin bemerkte, der entzückt war, daß er sie diese drei knappen und straffen Schläge mit dem Hackmesser hatte führen sehen, rief sie aus:

»Wie! Du bist noch immer hier?«

Und er schickte sich gerade an, aus dem Laden zu gehen, da hielt sie ihn zurück.

»Höre mal«, sagte sie zu ihm, »wenn ich dich noch einmal mit dieser kleinen Schlampe, der Cadine, sehe ... Streite das nicht ab! Heute früh wart ihr noch zusammen auf dem Kaldaunenmarkt zusehen, wie den Hammeln die Köpfe eingeschlagen werden ... Ich verstehe nicht, wie so ein hübscher Mann wie du an dieser Herumtreiberin, an diesem Straßenmädchen Gefallen finden kann ... Los, geh, sage Herrn Gavard, daß er sofort herkommen soll, solange niemand da ist.«

Verwirrt und mit verstörtem Gesicht ging Marjolin, ohne zu antworten.

Die schöne Lisa blieb am Ladentisch stehen, den Kopf ein wenig den Markthallen zugewandt. Überrascht, sie so schön zu finden, betrachtete Florent sie stumm. Er hatte sie bis jetzt nicht richtig gesehen; er verstand es nicht, Frauen anzuschauen. Da erschien sie ihm über den Fleischwaren auf dem Ladentisch. Vor ihr waren auf weißen Porzellanschalen angeschnittene Arleser und Lyoneser Würste zur Schau gestellt, Zungen und Stücken gekochtes Pökelfleisch, Schweinekopfsülze in Gelee, ein offener Topf mit feingehacktem, in Schmalz gebratenem Schweinefleisch und eine Büchse Sardinen, deren Metall aufgeschnitten war und einen See von Öl sehen ließ, ferner rechts und links auf Brettchen Lebersülze und Preßkopf, ein gewöhnlicher blaßrosa Schinken, ein Yorker Schinken mit blutigem Fleisch unter breiter Fettschwarte. Außerdem standen da noch runde und ovale Schalen mit nappierter Zunge, getrüffelte Sülze, Wildschweinskopf mit Pistazien, während ganz dicht bei ihr unter ihren Händen gespicktes Kalbfleisch, Leberpastete und Hasenpastete in gelben Terrinen standen. Da Gavard noch nicht kam, ordnete sie den Brustspeck auf der kleinen Marmoretagere am Ende des Ladentisches, stellte den Topf mit Schweineschmalz und den mit Bratenfett in eine Linie, wischte die beiden neusilbernen Waagschalen ab und befühlte den Würstchenkessel, dessen Wärmpfanne im Ausgehen war; und schweigend wandte sie wieder den Kopf und begann von neuem zu den Hallen hinüberzublicken. Der Fleischduft stieg auf; in ihrer trägen Ruhe war sie vom Duft der Trüffeln wie benommen. An diesem Tage hatte sie eine prächtige Frische; das Weiß ihrer Schürze und ihrer Ärmel bildete die Fortsetzung vom Weiß der Platten bis zu ihrem üppigen Hals, ihren rosigen Wangen, wo die zarten Farbtöne der Schinken und die Blässe der durchscheinenden Fette wieder auflebten. Eingeschüchtert, je länger er sie ansah, beunruhigt durch diese untadelige Selbstsicherheit, musterte Florent sie schließlich verstohlen in den Spiegeln rings im Laden. Sie wurde darin von hinten, von vorn und von der Seite widergespiegelt; sogar an der Decke fand er sie wieder, den Kopf nach unten, mit ihrem festen Haarknoten und ihren schmalen, an den Schläfen wie angeklebten Strähnen. Das waren unzählige Lisas, die die Breite der Schultern, den gewaltigen Ansatz der Arme zeigten und die wohlgerundete Brust, die so stumm und straff war, daß sie keinerlei fleischliche Gedanken erweckte und einem Bauch ähnelte. Er verweilte und fand Gefallen besonders bei einem ihrer Profile, das er neben sich in einem Spiegel zwischen zwei halben Schweinen sah. Längs der Marmorplatten und der Spiegel hingen an Stangen mit Wolfszähnen Schweine und Speckseiten zum Spicken; und Lisas Profil mit seinem starken Hals, seinen runden Linien, dem vorstehenden Busen stand wie das Bildnis einer genudelten Königin inmitten dieses Specks und dieses rohen Fleischs. Dann neigte sich die schöne Fleischersfrau vor und lächelte freundlich den beiden Goldfischen zu, die in dem Aquarium in der Auslage unaufhörlich herumschwammen.

Gavard trat ein. Mit wichtigtuerischem Gesicht ging er Quenu aus der Küche holen. Als er sich schräg auf einen kleinen Marmortisch gesetzt hatte, während Florent auf seinem Stuhl und Lisa hinter ihrem Ladentisch blieb und sich Quenu mit dem Rücken gegen ein halbes Schwein lehnte, verkündete er schließlich, daß er für Florent eine Stelle gefunden habe, und es sei zum Lachen, der Regierung werde ein hübsches Schnippchen geschlagen!

Aber er unterbrach sich plötzlich, als er Fräulein Saget eintreten sah, die die Ladentür aufstieß, nachdem sie vom Fahrdamm aus die zahlreiche Gesellschaft bemerkt hatte, die bei den QuenuGradelles schwatzte. Die kleine Alte im verschossenen Kleid, den schwarzen Handkorb, von dem sie nicht zu trennen war, am Arm, auf dem Kopf den bänderlosen schwarzen Strohhut, der ihr weißes Gesicht tief in tückisches Dunkel tauchte, hatte einen leichten Gruß für die Männer und ein spitzes Lächeln für Lisa. Sie war eine Bekannte und wohnte noch in dem Hause in der Rue Pirouette, in dem sie seit vierzig Jahren zweifellos von einer kleinen Rente lebte, über die sie nicht sprach. Eines Tages hatte sie jedoch Cherbourg erwähnt und hinzugefügt, daß sie dort geboren sei. Niemals erfuhr man mehr darüber. Sie redete nur über andere, erzählte von deren Leben, nannte sogar die Anzahl der Hemden, die sie im Monat waschen ließen, und trieb ihr Bedürfnis, in das Dasein der Nachbarn einzudringen, so weit, daß sie an den Türen horchte und Briefe erbrach. Von der Rue SaintDenis bis zur Rue JeanJacques Rousseau und von der Rue Saint Honoré bis zur Rue Mauconseil war ihre Zunge gefürchtet. Während des ganzen Tages streifte sie mit ihrem leeren Handkorb herum unter dem Vorwand, Besorgungen zu machen, kaufte nichts, tratschte Neuigkeiten aus, hielt sich über die unbedeutendsten Ereignisse auf dem laufenden und erreichte auf diese Weise, in ihrem Kopf die vollständige Geschichte aller Häuser, aller Wohnungen und aller Menschen des Viertels unterzubringen. Quenu hatte sie immer beschuldigt, es unter die Leute gebracht zu haben, daß Onkel Gradelle auf dem Hacktisch gestorben sei; seitdem grollte er ihr. Sie wußte übrigens über Onkel Gradelle und die Quenus sehr gut Bescheid; sie beschrieb sie in allen Einzelheiten, nahm sie an allen Enden vor, kannte sie »auswendig«. Aber seit vierzehn Tagen brachte Florents Ankunft sie durcheinander, verbrannte sie mit einem wahren Neugierfieber. Sie wurde krank, wenn irgendeine unvorhergesehene Lücke in ihren Registrierungen entstand. Und dabei hätte sie schwören können, diesen langen Kerl schon irgendwo einmal gesehen zu haben.

Sie blieb vor dem Ladentisch stehen, betrachtete die Platten eine nach der andern und sagte mit ihrer piepsigen Stimme:

»Man weiß nicht mehr, was man essen soll. Wenn es Nachmittag wird, fühle ich mich wegen des Essens wie eine arme Seele im Fegefeuer ... Dann habe ich wieder auf nichts Appetit ... Haben Sie wohl noch panierte Koteletts, Madame Quenu?« Ohne die Antwort abzuwarten, hob sie einen Deckel des neusilbernen Würstchenkessels hoch. Es war die Seite mit den Leberwürsten, den Würstchen und den Blutwürsten. Die Wärmpfanne war kalt, und auf dem Rost lag nur noch eine gewöhnliche Wurst, die man vergessen hatte.

»Sehen Sie auf der andern Seite nach, Mademoiselle Saget«, meinte die Fleischersfrau, »dort liegt noch ein Kotelett, glaube ich.«

»Nein, das sagt mir nicht zu«, brummelte die kleine Alte, die nichtsdestoweniger ihre Nase unter den zweiten Deckel steckte. »Ich hatte mich darauf gespitzt, aber panierte Koteletts sind am Abend doch zu schwer ... Ich würde auch lieber etwas nehmen, was ich nicht erst heiß machen muß.«

Sie hatte sich nach der Seite gewandt, wo Florent saß, betrachtete ihn, betrachtete Gavard, der mit den Fingern auf dem Marmortisch den Zapfenstreich trommelte, und forderte sie mit einem Lächeln auf, in ihrer Unterhaltung fortzufahren.

»Warum nehmen Sie nicht ein Stück gekochtes Pökelfleisch?« fragte Lisa.

»Ein Stück gekochtes Pökelfleisch, ja wirklich ...« Sie nahm die Gabel mit dem Weißmetallgriff, die am Rande der Schüsles lag, mäkelte und stocherte an jedem Stück gekochten Pökelfleischs herum. Sie klopfte leicht auf die Knochen, um auf ihre Dicke zu schließen, drehte alles hin und her, musterte die paar rosa Fleischstücke und wiederholte mehrmals: »Nein, nein, das sagt mir nicht zu.«

»Dann nehmen Sie doch eine Zunge, ein Stück Schweinskopf, eine Scheibe gespicktes Kalbfleisch«, sagte die Fleischersfrau geduldig.

Aber Fräulein Saget schüttelte den Kopf. Sie blieb noch einen Augenblick stehen und verzog über den Platten angewidert das Gesicht; als sie dann merkte, daß man bestimmt nicht reden und sie nichts in Erfahrung bringen würde, ging sie und meinte dabei:

»Nein, sehen Sie, ich hatte Appetit auf ein paniertes Kotelett, aber das, was Sie noch haben, ist zu fett ... Ein andermal.«

Lisa neigte sich vor, um ihr zwischen den Fettnetzstücken in der Auslage hindurch nachzublicken. Sie sah sie den Fahrdamm überqueren und in die Obsthalle gehen.

»Alte Ziege!« brummte Gavard. Und als sie allein waren, berichtete er, welche Stellung er für Florent gefunden hatte. Es war eine ganze Geschichte. Einer seiner Freunde, Herr Verlaque, der Seefischhallenaufseher, war so leidend, daß er sich gezwungen sah, Urlaub zu nehmen. Gerade diesen Morgen hatte der arme Mann zu ihm gesagt, daß es ihm sehr lieb wäre, wenn er selber einen Vertreter vorschlagen könnte, um sich die Stellung zu sichern, wenn es ihm besser ginge.

»Ihr versteht«, fügte Gavard hinzu, »Verlaque hat keine sechs Monate mehr zu leben. Florent wird die Stellung behalten. Es ist ein hübscher Posten ... Und die Polizei wird von uns reingelegt! Die Stellung untersteht der Präfektur27. Na, das wird recht spaßig, daß Florent von seinen Gefängniswärtern sein Geld bezieht.« Er fand das urkomisch und lachte voller Behagen.

»Ich will diese Stellung nicht«, erklärte Florent rundheraus. »Eher krepiere ich vor Hunger, als daß ich in den Dienst der Präfektur trete. Das ist unmöglich, verstehen Sie, Gavard!«

Gavard verstand und war ein wenig betroffen. Quenu hatte den Kopf gesenkt. Lisa aber hatte sich umgedreht und sah Florent scharf an, während ihr Hals anschwoll und ihr Busen fast das Mieder sprengte. Sie wollte gerade den Mund aufmachen, als die Sarriette eintrat. Erneut entstand Stillschweigen.

»Ah, ja!« rief die Sarriette mit ihrem lieblichen Lachen. »Ich habe doch Speck zu kaufen vergessen ... Madame Quenu, schneiden Sie mir zwölf Scheiben ab, aber hübsch dünn, nicht wahr? Für Lerchen ... Jules wollte Lerchen essen ... Na geht's gut, Onkel?« Sie erfüllte den Laden mit ihren närrischen Röcken. Von einer milchigen Frische, die Haare vom Wind in den Hallen auf einer Seite zerzaust, lächelte sie jeden an. Gavard hatte ihre Hände ergriffen, und sie meinte in ihrer Unverfrorenheit: »Ich wette, daß ihr von mir gesprochen habt, als ich hereinkam. Was haben Sie denn gesagt, Onkel?«

Lisa rief sie zu sich heran.

»Sehen Sie, ist das so dünn genug?« Sie schnitt die Speckscheiben fein säuberlich auf einem Brettchen vor ihr ab. Dann schlug sie sie in Papier ein und fragte: »Brauchen Sie sonst noch irgend etwas?«

»Richtig, da ich mich schon einmal aufgemacht habe«, meinte die Sarriette, »so geben Sie mir noch ein Pfund Schweineschmalz ... Ich schwärme nun einmal für Pommes frites, für zwei Sous mache ich mir ein Mittagessen aus Pommes frites und einem Bund Radieschen ... Ja, ein Pfund Schmalz, Madame Quenu.«

Die Fleischersfrau hatte ein stärkeres Blatt Papier auf eine Waagschale gelegt. Sie nahm mit einem Buchsbaumspatel das Schmalz aus dem Topf unter der Etagere, erhöhte mit zarter Hand in kleinen Klecksen den Fetthaufen, der sich ein wenig verbreitete. Als die Waagschale heruntersank, nahm sie das Papier in die Hand, faltete es zusammen und drückte kräftig mit den Fingerspitzen die Ecken ein.

»Vierundzwanzig Sous hierfür«, sagte sie, »und sechs Sous die Speckscheiben, das macht zusammen dreißig Sous ... Sonst brauchen Sie nichts weiter?«

Die Sarriette verneinte. Sie bezahlte, immer noch lachend, ihre Zähne zeigend und den Männern ins Gesicht schauend, während sie dastand mit ihrem grauen verdrehten Rock und ihrem roten, schlecht festgesteckten Brusttuch, das in der Mitte die weiße Linie ihres Busens sehen ließ. Bevor sie hinausging, drohte sie Gavard und wiederholte:

»Also Sie wollen mir nicht sagen, was sie erzählt haben, als ich hereinkam? Ich habe Sie von der Mitte der Straße aus lachen sehen ... Oh, so ein Heimlichtuer. Ich mag Sie gar nicht mehr.« Sie ging aus dem Laden und überquerte eilig die Straße.

 

Die schöne Lisa meinte trocken:

»Die hat uns Mademoiselle Saget hergeschickt.«

Dann dauerte das Schweigen weiter. Gavard war bestürzt darüber, wie Florent seinen Vorschlag aufgenommen hatte.

Als erste ergriff die Fleischersfrau mit sehr freundlicher Stimme wieder das Wort:

»Sie tun unrecht, Florent, diese Stellung als Seefischhallenaufseher auszuschlagen ... Sie wissen, wie mühselig es ist, eine Beschäftigung zu finden. Und Sie sind in einer Lage, in der Sie nicht wählerisch sein sollten.«

»Ich habe doch meine Gründe gesagt«, erwiderte er.

Sie zuckte die Achseln.

»Schauen Sie mal, das ist doch kein ernsthafter Einwand ... Ich verstehe allenfalls, daß Sie die Regierung nicht mögen. Aber das hindert einen doch nicht, sein Brot zu verdienen; das wäre doch zu töricht ... Und dann, mein Lieber, der Kaiser ist doch kein schlechter Mensch! Ich lasse es gelten, wenn Sie von Ihrem Leiden erzählen. Bloß, hat er denn davon gewußt, wenn Sie verschimmeltes Brot und verdorbenes Fleisch zu essen bekamen? Er kann nicht überall sein, der Mann ... Sie sehen, uns hat er doch auch nicht gehindert, unseren Geschäften nachzugehen ... Sie sind nicht gerecht, nein, ganz und gar nicht gerecht.«

Gavard wurde es immer unbehaglicher. Er konnte in seiner Gegenwart solche Lobeshymnen auf den Kaiser nicht ausstehen.

»Oh, nein, nein, Madame Quenu«, brummte er, »Sie gehen zu weit, das dürfen Sie nicht sagen. Das ist alles ein Pack ...«

»Oh! Sie«, unterbrach ihn die schöne Lisa, sich ereifernd, »Sie werden nicht eher zufrieden sein, als bis Sie sich mit Ihren Geschichten um Kopf und Kragen gebracht haben. Reden wir nicht von Politik, das bringt mich in Wut ... Es handelt sich lediglich um Florent, nicht wahr? Nun, ich meine, daß er unbedingt diesen Aufseherposten annehmen soll. Ist das nicht deine Meinung auch, Quenu?«

Quenu, der kein Sterbenswörtchen sagte, war diese unvermittelte Frage seiner Frau sehr unangenehm.

»Das ist ein guter Posten«, erwiderte er, ohne sich etwas zu vergeben.

Und als erneut verlegenes Schweigen eintrat, sagte Florent:

»Ich bitte euch, lassen wir das. Mein Entschluß steht fest. Ich werde warten.«

»Sie werden warten!« rief Lisa, die die Geduld verlor. Zwei rote Flammen waren ihr in die Wangen gestiegen. Mit breiten Hüften stand sie festgewurzelt da in ihrer weißen Schürze und mußte sich beherrschen, um nicht ausfallend zu werden.

Wieder kam jemand herein, der ihren Zorn ablenkte. Es war Frau Lecœur.

»Könnten Sie mir ein halbes Pfund gemischten Aufschnitt geben, zu fünfzig Sous das Pfund?« fragte sie.

Zuerst tat sie, als sehe sie ihren Schwager nicht; dann begrüßte sie ihn, ohne ein Wort zu sagen, mit einem Kopfnicken. Sie musterte die drei Männer vom Kopf bis zu den Füßen und hoffte zweifellos, ihrem Geheimnis auf Grund der Art und Weise, wie sie auf ihr Fortgehen warteten, auf die Spur zu kommen. Sie fühlte, daß sie sie störte; das machte sie in ihren glatt herunterfallenden Röcken, mit ihren langen Spinnenarmen, ihren verschlungenen Händen, die sie unter der Schürze hielt, noch eckiger und säuerlicher. Als sie ein wenig hustete, fragte Gavard, den das Schweigen bedrückte:

»Sind Sie erkältet?«

Sie antwortete mit einem recht trockenen Nein. An den Stellen, wo die Knochen ihr Gesicht durchstachen, war die gespannte Haut ziegelrot, und die dumpfe Flamme, die ihre Lider versengte, kündete von irgendeiner Leberkrankheit, zu der ihre neidischen Gallensäfte den Keim in sich trugen. Sie wandte sich zum Ladentisch zurück und verfolgte jede Handbewegung der sie bedienenden Lisa mit dem mißtrauischen Auge einer Kundin, die überzeugt ist, daß man sie bestehlen will.

»Geben Sie mir keine Zervelatwurst«, sagte sie. »Aus der mache ich mir nichts.«

Lisa hatte ein schmales Messer genommen und schnitt Wurstscheiben ab. Dann ging sie zum geräucherten Schinken und zum gekochten und trennte, ein wenig vorgebeugt, die Augen auf das Messer gerichtet, dünne Scheiben ab. Ihre molligen, lebhaft rosigen Hände, die das Fleisch mit weicher Anmut berührten, behielten davon eine Art fettiger Geschmeidigkeit in den an den Gelenken bauchigen Fingern zurück. Sie schob eine Schüssel vor und fragte:

»Sie wollen doch auch gespickten Kalbsbraten, nicht wahr?«

Frau Lecœur schien lange zu überlegen; dann bejahte sie.

Die Fleischersfrau schnitt nun vom Inhalt der Schüsseln ab. Auf das Ende eines Messers mit breiter Klinge nahm sie Scheiben gespickten Kalbsbraten und Hasenpastete und legte jede Scheibe in die Mitte des Papierbogens auf der Waagschale.

»Geben Sie mir denn keinen Wildschweinskopf mit Pistazien?« bemerkte Frau Lecœur mit ihrer boshaften Stimme. Lisa mußte Wildschweinskopf mit Pistazien dazulegen. Aber die Butterhändlerin wurde anspruchsvoll. Sie wollte zwei Scheiben Sülze; die mochte sie gern. Lisa, die bereits ärgerlich geworden war und ungeduldig mit dem Griff des Messers spielte, sagte vergeblich, daß die Sülze getrüffelt sei und sie davon nur zum Aufschnitt zu drei Francs das Pfund geben könne. Die andere fuhr fort, in den Platten herumzuschnüffeln und nach dem, was sie noch verlangen wollte, zu suchen. Als der Aufschnitt abgewogen war, mußte die Fleischersfrau noch Gelee und Pfeffergurken hinzutun. Der Berg Gelee, der die Form eines Napfkuchens hatte und mitten auf einer Porzellanplatte lag, zitterte unter der vor Wut brutalen Hand Lisas, und als sie mit den Fingerspitzen zwei große Pfeffergurken aus dem Topf hinter dem Würstchenkessel nahm, verspritzte sie den Essig.

»Das macht fünfundzwanzig Sous, nicht wahr?« fragte Frau Lecœur, ohne sich zu beeilen. Sie sah Lisas dumpfe Erregung ganz genau. Sie kostete sie aus und zog langsam ihr Geld heraus, gleichsam verloren unter den Zweisousstücken in ihrer Tasche. Dabei betrachtete sie heimlich Gavard, weidete sich an dem verlegenen Schweigen, das ihre Anwesenheit in die Länge zog, schwor sich, nicht zu gehen, weil man »Geheimniskrämereien« vor ihr machte. Aber die Fleischersfrau drückte ihr schließlich ihr Paket in die Hand, und sie mußte sich schon zurückziehen.

Frau Lecœur entfernte sich ohne ein weiteres Wort, nur mit einem langen Blick, den sie durch den ganzen Laden schweifen ließ.

Als sie nicht mehr da war, platzte Lisa los:

»Das ist wieder die Saget, die uns die da geschickt hat! Will die alte Herumtreiberin denn die ganzen Markthallen hier vorbeiziehen lassen, um herauszubekommen, wovon wir sprechen! – Und wie ausgekocht sie sind! Hat man jemals gesehen, daß jemand abends um fünf Uhr panierte Koteletts und gemischten Aufschnitt kauft! Sie wollen sich lieber den Magen verderben, als etwas nicht zu erfahren ... Wahrhaftig, wenn mir die Saget noch eine herschickt, sollt ihr einmal sehen, wie ich sie empfange! Und wenn es meine eigene Schwester wäre, würde ich sie vor die Tür setzen!«

Angesichts von Lisas Zorn schwiegen die drei Männer. Gavard stützte sich mit den Ellbogen auf die Schaufensterbrüstung mit dem Kupfergeländer; er war in Gedanken versunken und drehte an einer Docke aus geschliffenem Kristall, die sich aus ihrer Messingleiste gelöst hatte. Dann hob er den Kopf und meinte:

»Ich für meinen Teil hatte das als einen hübschen Streich aufgefaßt.«

»Was denn?« fragte Lisa, immer noch ganz aufgebracht.

»Den Aufseherposten in der Seefischhalle.«

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