Der Bauch von Paris: mehrbuch-Weltliteratur

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Hinter ihm wurde auf dem Pflaster der Rue Rambuteau Obst verkauft. Reihen von Körben mit und ohne Henkel standen ausgerichtet da, mit Stroh oder Leinwand zugedeckt; und es roch nach überreifen Mirabellen. Eine sanfte und ruhige Stimme, die er schon eine Weile hörte, ließ ihn den Kopf wenden. Er erblickte eine entzückende kleine brünette Frau, die auf der Erde saß und feilschte.

»Nun sag schon, Marcel, verkaufst du's für hundert Sous?«

Der in seinen Mantel vergrabene Mann gab keine Antwort, und nach fünf langen Minuten begann die junge Frau wieder:

»Also, Marcel, hundert Sous für diesen Korb hier und vier Francs für den andern macht zusammen neun Francs, die du zu bekommen hast?«

Erneut trat Schweigen ein.

»Was hast du nun also zu bekommen?«

»Ach was! Zehn Francs! Du weißt es doch; ich habe es dir bereits gesagt ... Und dein Jules, was machst du mit ihm, Sarriette?«

Die junge Frau lachte auf und holte eine große Handvoll Geld hervor.

»Ach!« entgegnete sie. »Der schläft bis in den hellichten Tag ... Er behauptet, daß die Männer nicht zum Arbeiten geschaffen sind.« Sie bezahlte und trug die beiden Körbe in die Obsthalle, die eben geöffnet wurde.

Die Markthallen bewahrten ihre schwarze Schwerelosigkeit mit den tausend Flammenstreifen der Jalousien; Leute zogen durch die breiten, überdachten Straßen, während die weiter entfernten Hallen inmitten des zunehmenden Gewimmels auf den Bürgersteigen menschenleer blieben. An der Pointe SaintEustache nahmen die Bäcker und Weinhändler ihre Fensterläden ab; längs der grauen Häuser wirkten die roten Kaufläden mit ihren brennenden Gaslampen wie Löcher in der Finsternis. Florent betrachtete links in der Rue Montorgueil eine Bäckerei, die ganz angefüllt und ganz vergoldet war mit frischem Gebäck, und er glaubte geradezu den guten Duft des warmen Brotes zu spüren. Es war halb fünf.

Inzwischen war Frau François ihre Ware losgeworden. Es blieben ihr noch einige Bund Möhren, als Lacaille mit seinem Sack wieder erschien.

»Na, geht es für einen Sou?« fragte er.

»Ich war sicher, daß Sie noch einmal zurückkommen«, antwortete die Frau ruhig. »Also nehmen Sie meinen Rest. Es sind siebzehn Bund.«

»Das macht siebzehn Sous?«

»Nein, vierunddreißig.«

Sie einigten sich auf fünfundzwanzig. Frau François wollte nach Hause. Als sich Lacaille mit den Möhren in seinem Sack entfernt hatte, sagte sie zu Florent:

»Sehen Sie, er hat mir aufgelauert. Auf dem ganzen Markt feilscht er herum, ohne etwas zu kaufen; manchmal wartet er bis zum letzten Glockenschlag, um für vier Sous Ware zu erstehen ... Ach, diese Pariser! Die streiten sich wegen eines halben Sous und gehen dann zum Weinausschank ihr ganzes Geld versaufen.«

Wenn Frau François über Paris sprach, war sie voller Spott und Geringschätzung; sie behandelte es als eine weit entlegene, durch und durch lächerliche und verachtungswürdige Stadt, in die sie nur nachts den Fuß zu setzen gesonnen war.

»Jetzt kann ich fortgehen«, redete sie weiter und setzte sich wieder neben Florent auf das Gemüse einer Nachbarin.

Florent senkte den Kopf, er hatte eben einen Diebstahl verübt. Als Lacaille davongegangen war, hatte er auf dem Erdboden eine Möhre liegen sehen. Er hatte sie aufgehoben und hielt sie in seiner rechten Hand umklammert. Hinter ihm verströmten Selleriebündel und Petersilienhaufen verwirrende Gerüche, die ihn an der Kehle packten.

»Ich werde jetzt gehen«, wiederholte Frau François.

Sie nahm Anteil an diesem Unbekannten; sie fühlte, wie er litt auf diesem Bürgersteig, von dem er sich nicht weggerührt hatte. Sie bot ihm von neuem ihre Hilfe an, aber er lehnte wieder ab mit noch starrerem Stolz als vorher. Er stand sogar auf, hielt sich gerade, um zu beweisen, daß er munter und guter Dinge war. Und als sie den Kopf wandte, steckte er die Möhre in den Mund. Aber er mußte sie einen Augenblick still halten, trotz des schrecklichen Verlangens, mit den Zähnen zuzubeißen; die Bäuerin blickte ihm wieder ins Gesicht und stellte ihm mit der Neugierde einer biederen Frau Fragen. Um nicht zu sprechen, antwortete er mit Kopfbewegungen. Dann aß er vorsichtig und langsam die Möhre.

Die Gemüsebäuerin schickte sich entschieden an aufzubrechen, als dicht neben ihr eine laute Stimme sagte:

»Guten Morgen, Madame François.«

Es war ein dürrer, bärtiger Bursche mit groben Knochen, einem mächtigen Kopf, feiner Nase und kleinen hellen Augen. Er trug einen schwarzen, fuchsig gewordenen Filzhut, der seine Form verloren hatte, und war tief in einen riesigen Überzieher eingeknöpft, der einst zart kastanienbraun gewesen war und den der Regen in langen breiten grünlichen Streifen verfärbt hatte. Ein wenig gebeugt und von dem üblichen Schauer nervöser Unruhe geschüttelt, blieb er wie festgewurzelt in seinen groben Schnürschuhen stehen, und seine zu kurzen Hosen ließen seine blauen Strümpfe sehen.

»Guten Morgen, Herr Claude«, antwortete freundlich die Gemüsebäuerin. »Sie wissen, ich habe Sie am Montag erwartet; und weil Sie nicht gekommen sind, habe ich Ihr Bild in Verwahrung genommen und in meiner Stube an einem Nagel aufgehängt.«

»Sie sind zu gütig, Madame François; dieser Tage werde ich meine Studie beendigen kommen ... Am Montag konnte ich nicht ... Hat Ihr großer Pflaumenbaum noch alle seine Blätter?«

»Gewiß.«

»Ich will ihn nämlich in eine Ecke des Bildes setzen. Links vom Hühnerstall wird er sich gut machen. Die ganze Woche habe ich darüber nachgedacht ... Ah! Das schöne Gemüse heute morgen! Ich bin früh heruntergekommen, weil ich ahnte, daß es über diesen Bergen von Kohl einen herrlichen Sonnenaufgang geben wird.« Er zeigte mit einer Handbewegung auf die ganze Länge des Pflasters.

Die Gemüsebäuerin sagte noch:

»Nun also, ich gehe. Lebt wohl ... Auf bald, Herr Claude!« Und als sie aufbrach, stellte sie Florent dem jungen Maler vor: »Das hier ist ein Herr, der von weither zurückkommt, wie es scheint, und der sich in Ihrem lumpigen Paris nicht mehr zurechtfindet. Vielleicht können Sie ihm eine richtige Auskunft geben.« Endlich ging sie, glücklich, die beiden Männer zusammen zurückzulassen.

Claude betrachtete Florent mit Anteilnahme; diese lange, dünne und schwankende Gestalt kam ihm irgendwie eigentümlich vor. Die Vorstellung durch Frau François genügte; und mit der Unbefangenheit eines an zufällige Begegnungen jeder Art gewöhnten Straßenbummlers meinte er gelassen zu ihm:

»Ich werde Sie begleiten. Wohin gehen Sie?«

Florent blieb gehemmt. Er war wenig mitteilsam; aber seit seiner Ankunft hatte er eine Frage auf den Lippen. Endlich wagte er sich damit hervor; er fragte und hatte dabei Angst vor einer verdrießlichen Antwort:

»Ist die Rue Pirouette noch vorhanden?«

»Natürlich«, sagte der Maler. »Ein höchst reizvoller Winkel des alten Paris, diese Straße! Sie dreht sich wie eine Tänzerin, und die Häuser da haben Bäuche schwangerer Frauen ... Ich habe von dieser Straße eine Radierung gemacht, die nicht allzu schlecht ist. Wenn Sie zu mir kommen, zeige ich sie Ihnen ... Dorthin wollen Sie also?«

Erleichtert und aufgemuntert durch die Nachricht, daß die Rue Pirouette noch vorhanden war, beteuerte Florent, er wolle nicht dorthin, und versicherte, er müsse nirgendwohin. Sein ganzes Mißtrauen erwachte wieder bei Claudes Beharrlichkeit.

»Das macht nichts«, erklärte der, »gehen wir trotzdem zur Rue Pirouette. Nachts ist sie von einer Farbe! Kommen Sie, es sind nur zwei Schritt.«

Florent mußte ihm folgen. Sie gingen Seite an Seite wie zwei Kameraden und stiegen dabei über die Körbe und das Gemüse hinweg. Auf dem Pflaster der Rue Rambuteau lagen riesige Stapel von Blumenkohlköpfen, die mit überraschender Regelmäßigkeit wie Kanonenkugeln aufgeschichtet waren. Das weiße und zarte Fleisch des Kohls erblühte wie ungeheure Rosen inmitten der dicken grünen Blätter, und die Haufen glichen auf Riesenblumentischen aufgereihten Brautsträußen. Claude blieb stehen und stieß leise Bewunderungsrufe aus.

Dann zeigte er auf die vor ihnen liegende Rue Pirouette und erklärte jedes Haus. Eine einzige Gaslaterne brannte an einer Ecke. Die zusammengehäuften, ausgebauchten Häuser streckten unten ihre Regenschutzdächer vor die »Bäuche schwangerer Frauen«, wie sich der Maler ausgedrückt hatte, neigten sich mit ihren Giebeln zurück und stützten sich gegenseitig mit den Schultern. Drei oder vier dagegen, die ganz hinten in dem dunklen Loch standen, schienen jeden Augenblick auf die Nase fallen zu wollen. Die Gaslaterne beleuchtete eines davon, das ganz weiß und neu getüncht war, mit seiner Gestalt einer alten gebrechlichen und schlaff gewordenen Frau, die über und über weiß gepudert und grell geschminkt ist wie ein junges Mädchen. Dahinter erstreckte sich die verbeulte Reihe der anderen und versank in tiefes Schwarz, rissig und grün geworden durch den abfließenden Regen, und in solch einem Durcheinander von Farben und Formen, daß Claude vor Entzücken darüber lachte. Florent war an der Ecke der Rue Mondétour gegenüber dem vorletzten Haus zur Linken stehengeblieben. Die drei Stockwerke mit ihren zwei Fenstern ohne Jalousien und ihren kleinen weißen, hinter den Scheiben sorgfältig zugezogenen Vorhängen schliefen. Oben ging hinter den Vorhängen eines schmalen Giebelfensters ein Licht hin und her. Aber der Laden unter dem Regenschutzdach schien Florent in ungewöhnliche Erregung zu versetzen. Eben wurde er geöffnet. Es war ein Laden, in dem es gekochtes Gemüse gab. Im Hintergrund glänzten Kochkessel. Spinat und Schikoreepasteten in Terrinen auf dem Auslagetisch waren abgerundet und liefen spitz aus, bereits aufgeschnitten mit kleinen Schaufeln, von denen nur der blanke Metallgriff zu sehen war. Bei diesem Anblick blieb Florent wie festgenagelt stehen. Er erkannte den Laden wohl nicht wieder. Er las den Namen des Kaufmanns Godebœuf auf einem roten Schild und verharrte bestürzt. Die Arme hängen lassend, betrachtete er die Spinatpasteten mit dem verzweifelten Gesicht eines Menschen, dem ein außerordentliches Mißgeschick widerfährt.

 

Inzwischen hatte sich das Giebelfenster geöffnet; eine kleine alte Frau beugte sich heraus, blickte nach dem Himmel und dann weiter zu den Markthallen hinüber.

»Sieh einmal an! Mademoiselle Saget ist ja früh auf«, sagte Claude, der in die Höhe gesehen hatte. Und er fügte hinzu, sich an seinen Begleiter wendend: »Ich habe eine Tante in diesem Hause gehabt. Das ist hier vielleicht eine Klatschbude ... Ah! Jetzt regt es sich bei Méhudins; im zweiten Stock brennt Licht.«

Florent wollte Fragen an ihn richten, aber er fand ihn besorgniserregend in seinem weiten, verschossenen Mantel; er folgte ihm weiter, ohne ein Wort zu sagen, während der andere von Méhudins erzählte. Sie seien Fischhändlerinnen. Die ältere sei prachtvoll, die jüngere, die Süßwasserfische verkaufe, ganz blond und ähnele inmitten ihrer Karpfen und Aale einer Madonna von Murillo. Und ärgerlich bemerkte er dabei, daß Murillo8 doch wie ein toller Bursche male. Dann blieb er plötzlich mitten auf der Straße stehen:

»Also, wohin gehen Sie nun eigentlich?«

»Ich will im Augenblick nirgendwohin«, antwortete Florent niedergedrückt. »Gehen wir, wohin Sie wollen.«

Als sie aus der Rue Pirouette kamen, wurde Claude von einer Stimme hinten aus dem Laden eines Weinhändlers an der Ecke angerufen. Claude trat ein und zog Florent mit sich. Nur an der einen Seite waren die Fensterläden abgenommen. Das Gas brannte in der noch schläfrigen Luft des Raums; ein vergessener Lappen und Karten vom Abend vorher lagen auf den Tischen herum, und der Luftzug von der großen offenen Tür drang frisch und scharf in den warmen, eingeschlossenen Weindunst. Der Wirt, Herr Lebigre, bediente die Gäste in einer Unterjacke, seine Bartkrause noch ganz zerzaust und sein grobes, regelmäßiges Gesicht ganz blaß vom Schlaf. Männer mit blauen Rändern um die Augen standen in Gruppen vor der Theke, tranken hustend und spuckend und machten sich mit Weißwein und Schnaps vollends wach. Florent erkannte Lacaille, dessen Sack jetzt von Gemüse überquoll. Er war bei der dritten Runde mit einem Kumpel, der lang und breit vom Kauf eines Korbes Kartoffeln erzählte. Als er sein Glas geleert hatte, ging er mit Herrn Lebigre in ein kleines verglastes Gelaß im Hintergrund, wo das Gas nicht angezündet war, etwas besprechen.

»Was wollen Sie trinken?« fragte Claude Florent.

Beim Eintreten hatte er dem Mann, der ihn hereingerufen, die Hand geschüttelt. Es war dies ein kräftiger, gut aussehender Bursche von höchstens zweiundzwanzig Jahren, der rasiert war, nur einen kleinen Schnurrbart trug und fidel aussah mit seinem weiten kreidebeschmierten Hut und seinem Nackenschutz aus Teppichstoff, dessen Gurte seine blaue Jacke zusammenschnürten. Claude redete ihn mit Alexandre an, schlug ihm auf die Arme und fragte ihn, wann sie nach Charentonneau gehen würden. Und sie sprachen von einem großen Ausflug, den sie zusammen in einem Boot auf der Marne unternommen hatten. Am Abend hatten sie dann Kaninchen gegessen.

»Also, was trinken Sie?« fragte Claude von neuem.

Florent sah sehr verlegen auf die Theke. An dem einen Ende wurden mit Kupferreifen versehene Teekannen mit Punsch und Glühwein über den kleinen blauen und rosa Flammen eines Gaskochers heiß gemacht. Er gestand schließlich, daß er gern etwas Heißes zu sich nehmen würde. Herr Lebigre brachte drei Gläser Punsch. Bei den Teekannen stand ein Korb mit Butterbrötchen, die soeben gebracht worden waren und noch dampften. Aber die anderen nahmen nicht davon, und Florent trank sein Glas Punsch; er fühlte das Getränk in seinen leeren Magen hinabfallen wie einen Strahl geschmolzenes Blei. Alexandre bezahlte.

»Ein guter Kerl, dieser Alexandre«, meinte Claude, als sie beide wieder auf dem Bürgersteig der Rue Rambuteau standen. »Bei Ausflügen aufs Land ist er sehr spaßig; er macht Kraftstücke. Außerdem ist er prachtvoll, der Bengel; ich habe ihn nackt gesehen, und wenn er mir Modell stehen wollte im Freien ... Jetzt wollen wir, wenn Sie mögen, einen Gang durch die Markthallen machen.«

Florent folgte ihm und ließ sich völlig willenlos führen. Ein heller Schein hinten in der Rue Rambuteau kündigte den Tag an. Die mächtige Stimme der Markthallen grollte lauter; für Augenblicke durchschnitten Glockenschläge aus einer entfernten Halle diesen rollenden und anschwellenden Lärm. Die beiden betraten eine der überdachten Straßen zwischen der Seefischhalle und der Geflügelhalle. Florent blickte hoch und betrachtete das hohe Gewölbe, dessen innere Holzverkleidung zwischen den schwarzen Kanten der Eisengerüste aufleuchtete. Als er in den großen Mittelgang einbog, mußte er an eine seltsame Stadt denken mit ihren unterschiedlichen Vierteln, ihren Vorstädten, ihren Dörfern, ihren Promenaden und ihren Straßen, ihren Plätzen und ihren Kreuzungen, die aus einer gigantischen Laune heraus an einem Regentage ganz und gar unter einen Schuppen gebracht worden ist. Der in den Ausbuchtungen des Daches schlummernde Schatten vervielfachte den Wald der Pfeiler, dehnte die zarten Rippen, die sich abhebenden Emporen und die durchsichtigen Jalousien ins Unendliche; und über der Stadt bis in die Tiefe des Dunkels hinein war alles ein Wuchern, ein Blühen, ein ungeheuerliches Entfalten von Metall, dessen spindelartig hochsteigende Stämme, dessen sich windende und einander umschlingende Äste eine Welt mit dem anmutigen Laub eines hundertjährigen Hochwaldes bedeckten. Ganze Viertel schliefen noch hinter ihren verschlossenen Gittern. In der Butterhalle und der Geflügelhalle standen die kleinen vergitterten Stände in einer Linie und dehnten sich die menschenleeren Gassen unter den Reihen der Gaslaternen. Soeben war die Seefischhalle geöffnet worden. Frauen schritten über die weißen, vom Schatten der Körbe und liegengelassener Lappen gefleckten Steinplatten. Beim Grobgemüse, bei den Blumen und beim Obst wurde der Lärm immer stärker. Nach und nach erfaßte das Erwachen die Stadt, von dem volkreichen Viertel an, wo sich der Kohl von vier Uhr morgens an aufhäuft, zum trägen und reichen Viertel, an dessen Häusern die Masthühnchen und Fasanen erst gegen acht Uhr aufgehängt werden.

In den großen überdachten Straßen aber strömte das Leben. Längs der Bürgersteige standen auf beiden Seiten noch die Gemüsebauern, kleine Landwirte, die aus der Umgebung von Paris gekommen waren und in Körben ihre Ernte vom Abend vorher ausbreiteten, ein paar Bund Gemüse, einige Handvoll Obst. Mitten durch das unaufhörliche Hin und Her der Menge fuhren die Wagen, den dröhnenden Trapp ihrer Pferde verlangsamend, in die Gewölbe ein. Zwei von diesen Wagen, die man quer hatte stehenlassen, versperrten die Straße. Florent mußte sich, um vorbeizukommen, auf einen der grauen Säcke stützen, die aussahen wie Kohlensäcke und unter deren riesiger Last sich die Wagenachsen bogen. Die Säcke waren feucht und strömten einen frischen Duft nach Seetang aus; einer von ihnen, der an einem Ende geplatzt war, ließ einen schwarzen Haufen großer Miesmuscheln herausrutschen. Bei jedem Schritt mußten sie jetzt stehenbleiben. Die Seefische trafen ein; die Lastwagen folgten einer auf den andern und fuhren hohe Holzgestelle mit Deckelkörben heran, die die Eisenbahn vollbeladen vom Ozean herbringt. Um dem immer dichter und beunruhigender werdenden Gedränge der Wagen mit den Seefischen auszuweichen, flüchteten sie sich zwischen die Räder der Wagen mit Butter, Eiern und Käse, großen gelben vierspännigen Fuhrwerken mit bunten Laternen. Lastträger bemächtigten sich der Kisten mit Eiern, der Körbe mit Käse und Butter und brachten sie in die Versteigerungshalle, wo Angestellte in Mützen beim Schein des Gaslichts in kleine Notizbücher Eintragungen machten. Claude war entzückt von diesem Getümmel; er vergaß alles um sich bei einer Lichtwirkung, bei einer Gruppe Kittel, beim Abladen eines Wagens. Endlich rissen sie sich los. Da sie noch immer die große Straße hinuntergingen, schritten sie in einem herrlichen Duft dahin, der um sie her aufstieg und ihnen zu folgen schien. Sie befanden sich mitten im Schnittblumenmarkt. Rechts und links auf dem Pflaster saßen Frauen, vor sich viereckige Körbe voller Bunde von Rosen, Veilchen, Dahlien, Margeriten. Die Bunde wurden düster gleich Blutflecken und erbleichten sanft in ungemein zarten silbrigen grauen Tönungen. Neben einem Korb brannte eine Kerze und brachte in all das Schwarz ringsum einen gellenden Farbensang, die lebhaften weißen Flecken der Margeriten, das blutige Rot der Dahlien, das Blau der Veilchen, die lebendige Sinnlichkeit der Rosen. Und nichts war süßer und frühlingshafter als die Liebkosungen dieses Duftes, die einem auf dem Bürgersteig begegneten, wenn man aus den scharfen Ausdünstungen der Seefische und dem verpesteten Geruch von Butter und Käse kam.

Claude und Florent gingen schlendernd wieder zurück und verweilten inmitten der Blumen. Neugierig blieben sie vor Frauen stehen, die Farnkrautbündel und Päckchen von Weinblättern, schön regelmäßig je fünfundzwanzig zusammengelegt, verkauften. Dann bogen, sie in ein überdachtes Straßenstück ein, das fast menschenleer war und in dem ihre Schritte wie unter einem Kirchengewölbe hallten. Dort fanden sie ein ganz kleines Eselchen, das vor einen Wagen, so groß wie ein Handkarren, gespannt war, sich zweifellos langweilte und bei ihrem Anblick so laut und langgedehnt zu schreien begann, daß die riesigen Bedachungen der Markthallen davon erzitterten. Pferdewiehern antwortete; es gab ein Stampfen, ein Getöse in der Ferne, das anschwoll, weiterrollte und sich verlor. Inzwischen sah man ihnen gegenüber in der Rue Berger in den weit offenstehenden kahlen Buden der Makler im grellen Schein des Gaslichts zwischen den drei schmutzigen, mit Bleistiftadditionen bedeckten Wänden Haufen von Körben und Obst. Und als sie dort waren, bemerkten sie eine gutgekleidete Dame, die mit dem Ausdruck glücklicher Ermattung in der Ecke einer mitten im Gedränge des Fahrdamms verlorenen Kutsche kuschelte und sich heimlich aus dem Staube machte.

»Aschenbrödel, das ohne Pantoffeln heimkehrt«, meinte Claude mit einem Lächeln.

Als sie nun in die Markthallen zurückgingen, plauderten sie. Die Hände in den Taschen, pfiff Claude vor sich hin und erzählte von seiner großen Liebe für die Nahrungsmittelflut, die jeden Morgen mitten in Paris ansteigt. Ganze Nächte streife er auf dem Pflaster herum und träume von riesigen Stilleben und unerhörten Gemälden. Eins habe er sogar angefangen, zu dem ihm sein Freund Marjolin und diese Hure Cadine Modell gestanden hatten; aber es sei schwer, es sei zu schön, diese verteufelten Gemüse und das Obst und die Fische und das Fleisch! Florent lauschte der Begeisterung des Künstlers, während sich ihm der Bauch zusammenkrampfte. Offenbar dachte Claude in diesem Augenblick nicht einmal daran, daß diese schönen Dinge zum Essen da waren. Er liebte sie wegen ihrer Farben. Plötzlich schwieg er, zog mit einer ihm eigentümlichen Bewegung den langen roten Gürtel, den er unter seinem grünlichen Überzieher trug, enger und fuhr mit verschmitzter Miene fort:

»Außerdem frühstücke ich hier, wenigstens mit den Augen, und das ist immer noch besser, als gar nichts zu sich zu nehmen. Manchmal, wenn ich am Abend vorher zu essen vergessen habe, verderbe ich mir am nächsten Morgen den Magen, wenn ich all diese guten Dinge ankommen sehe. An solchen Morgen hege ich noch mehr Liebe für mein Gemüse ... Nein, sehen Sie, es ist empörend, es ist ungerecht, daß diese verfluchten Bourgeois das alles auffressen!«

Er erzählte von einem Abendessen, das ein Freund bei Baratte für ihn an einem glanzvollen Tag bezahlt hatte; es hatte Austern gegeben, Fisch, Wild. Aber Baratte sei sehr heruntergekommen; der ganze Karneval des alten Marché des Innocents9 sei jetzt zu Grabe getragen. Man habe ihn in den Zentralmarkthallen, in diesem Eisenkoloß, in dieser neuen, so eigenartigen Stadt. Die Schwachköpfe mochten sagen, was sie wollten, das ganze Zeitalter sei da enthalten. Und Florent wußte nicht mehr, ob er die malerische Gegend oder das gute Essen bei Baratte verwünschte. Dann schimpfte Claude auf die Romantik; er zog seine Kohlhaufen dem Plunder des Mittelalters vor. Schließlich warf er sich seine Radierung von der Rue Pirouette vor wie eine Schwäche. Die alten Buden solle man dem Erdboden gleichmachen und Modernes schaffen.

»Hier«, sagte er stehenbleibend, »sehen Sie an der Ecke des Bürgersteigs! Ist das nicht ein richtiges Gemälde, das menschlicher wäre als deren vermaledeite schwindsüchtige Malereien?«

 

Längs der überdachten Straße verkauften Frauen jetzt Kaffee und Suppe. An der Ecke des Bürgersteigs hatte sich um eine Händlerin, die Kohlsuppe ausschenkte, ein großer Kreis von Kunden gebildet. Der verzinnte Weißblecheimer mit Brühe dampfte auf einem kleinen, niedrigen Kohlenbecken, dessen Löcher einen fahlen Glutschein ausstrahlten. Die Frau war mit einem Schöpflöffel ausgerüstet, schwappte die Suppe in gelbe Tassen und entnahm einem mit Leinwand ausgeschlagenen Korb dünne Brotscheiben. Sehr reinliche Händlerinnen, Gemüsebauern in Kitteln, schmutzige Lastträger in Überziehern, die von den auf den Schultern herumgeschleppten Lebensmittelladungen speckig waren, zerlumpte arme Teufel, alle, die morgens Hunger hatten in den Markthallen, standen dort, aßen, verbrannten sich, streckten das Kinn ein wenig vor, um sich nichts vom Löffel auf die Kleidung tropfen zu lassen. Entzückt kniff der Maler die Augen zusammen und suchte den Blickpunkt, um das Gemälde auf eine gute Gesamtwirkung hin zu gliedern. Aber diese verteufelte Kohlsuppe verbreitete einen entsetzlichen Gestank. Belästigt durch die vollen Tassen, die die Essenden stillschweigend mit dem scheelen Blick mißtrauischer Tiere leerten, wandte Florent den Kopf ab. Claude selber wurde mürbe, als die Frau einen Neuangekommenen bediente und ihm der starke Dampf eines Löffels voll Suppe mitten ins Gesicht wehte.

Lächelnd und unwillig zog er seinen Gürtel enger; beim Weitergehen meinte er dann, auf das von Alexandre gespendete Glas Punsch anspielend, halblaut zu Florent:

»Das ist komisch. Es muß Ihnen auch schon aufgefallen sein? – Immer findet man jemand, der einem was zu trinken bezahlt, aber man begegnet niemand, der einem was zu essen bezahlt.«

Der Tag brach an. Am Ende der Rue de la Cossonnerie standen ganz schwarz die Häuser des Boulevard Sébastopol; und oberhalb der deutlichen Linie der Schieferdächer schnitt das hohe Bogengerüst der großen überdachten Straße einen Halbmond von Helligkeit aus dem fahlen Blau. Claude hatte sich über einige vergitterte Luken gebeugt, die sich in Höhe des Bürgersteigs über den Kellertiefen auftaten, in denen trübe Gaslichter brannten, und schaute jetzt zwischen den hohen Pfeilern hindurch in die Luft und suchte etwas auf den blau wirkenden Dächern am Rande des hellen Himmels. Schließlich blieb er abermals stehen, die Augen auf eine der dünnen eisernen Leitern gerichtet, die die beiden Dachgeschosse miteinander verbinden und den Zugang zu ihnen ermöglichen.

Florent fragte ihn, was er da oben sehe.

»Dieser verteufelte Marjolin«, sagte der Maler, ohne darauf zu antworten. »Sicher liegt er in irgendeiner Dachrinne, wenn er nicht gar die Nacht mit den Tieren im Geflügelkeller verbracht hat ... Ich brauche ihn für eine Studie.« Und er erzählte, daß sein Freund Marjolin eines Morgens von einer Händlerin in einem Kohlhaufen gefunden worden und ungebunden auf der Straße aufgewachsen sei. Als man ihn in die Schule schicken wollte, wurde er krank; und man mußte ihn in die Markthallen zurückbringen. Er kannte ihre kleinsten Schlupfwinkel, liebte sie mit der Zärtlichkeit eines Sohnes, hauste mit der Behendigkeit eines Eichhörnchens inmitten dieses Eisenwaldes. Sie gaben ein hübsches Paar ab, er und dieses Frauenzimmer, die Cadine, die Mutter Chantemesse eines Abends an der Ecke des alten Marché des Innocents aufgelesen hatte. Er war prächtig, dieser große dumme Junge, goldbraun wie ein Rubens, mit einem rötlichen Bartflaum, in dem das Tageslicht hängenblieb; sie, die Kleine, war schmächtig und gerissen und hatte ein neckisches Frätzchen unter dem schwarzen Gestrüpp ihres Kraushaars.

Beim Sprechen beschleunigte Claude seine Schritte. Er brachte seinen Begleiter zur Pointe SaintEustache zurück, der sich hier in der Nähe des Omnibusbüros auf eine Bank fallen ließ und dem die Beine wieder wie zerschlagen waren. Die Luft wurde frischer. Hinten in der Rue Rambuteau war der milchige Himmel von rosigem Schein geädert und weiter oben von großen grauen Rissen zersäbelt. Von dieser Morgenröte ging ein so balsamischer Duft aus, daß Florent für einen Augenblick glaubte, draußen auf dem Lande zu sein, auf irgendeinem Hügel. Aber Claude zeigte ihm auf der anderen Seite der Bank den Gewürzmarkt. Längs des Kaldaunenmarktes hätte man meinen können, in Feldern von Thymian, Lavendel, Lauch und Schalotten versetzt zu sein; und um die jungen Platanen auf dem Bürgersteig hatten die Händlerinnen lange Lorbeerzweige geschlungen, die Trophäen von Grün abgaben. Der kräftige Duft des Lorbeers überwog alles.

Das beleuchtete Zifferblatt von SaintEustache verblich, starb hin wie ein vom Morgen überraschtes Nachtlicht. Bei den Weinhändlern hinten in den benachbarten Straßen erloschen eine nach der andern die Gaslampen wie in Licht fallende Sterne. Und Florent sah zu, wie die großen Hallen aus dem Dunkel, aus dem Traum hervortraten, in dem er sie gesehen hatte, und ihre Paläste sich grenzenlos im Tageslicht dehnten. Sie nahmen feste Formen von grünlichem Grau an, wurden noch riesenhafter mit ihrem gewaltigen Mastwerk, das die unendlichen Flächen ihrer Dächer trug. Sie schichteten ihre geometrischen Körper aufeinander, und als alle innere Helligkeit erloschen war und sie viereckig und gleichförmig im aufgehenden Tageslicht badeten, erschienen sie wie eine über alles Maß hinausgehende große moderne Maschine, wie eine Dampfmaschine, ein für die Verdauung eines ganzen Volkes bestimmter Kessel, ein riesiger metallischer Bauch, verbolzt, vernietet, aus Holz, Glas und Eisen zusammengesetzt, von der Eleganz und Leistungsfähigkeit eines Antriebmotors, der dort in Tätigkeit war mit der Hitze der Heizung, dem schwindelnden Drehen, dem rasenden Beben der Räder.

Claude aber war vor Begeisterung auf die Bank gestiegen. Er zwang seinen Begleiter, den über dem Gemüse aufgehenden Tag zu bewundern. Es war ein Meer, das sich zwischen den beiden Gruppen der Hallen von der Pointe SaintEustache bis zur Rue des Halles erstreckte. Und an beiden Enden, an den beiden Kreuzungen, stieg die Flut noch an, überschwemmte das Gemüse das Pflaster. Langsam erhob sich der Tag in ganz zartem Grau und wusch alle Dinge in einem hellen Aquarellton. Diese wie dichte Wellen wogenden Haufen und dieser Strom von Grün, der in der Eindeichung des Fahrdamms zu fließen schien gleich dem Hereinbrechen der Herbstregen, nahmen zarte und beperlte Schatten, weiches Veilchenblau, milchig getöntes Rosa, in Gelb ertrunkenes Grün, alle bleichen Farben an, die beim Sonnenaufgang den Himmel zu schillernder Seide werden lassen; und in dem Maße, wie der Brand des Morgens in Stichflammen hinten in der Rue Rambuteau emporstieg, erwachte das Gemüse mehr und mehr und stach ab von der tiefen Bläue, die sich schwer über die Erde hinzog. Salat, Endivie, Lattich, Schikoree zeigten, noch von der fetten Gartenerde bedeckt, ihre strahlenden Herzen; die Spinat und Ampferpacken, die Artischockensträuße, die Bohnen und Erbsenhaufen, die Stapel von mit Strohhalmen zusammengebundenem römischem Salat sangen die ganze Tonleiter des Grüns vom Lackgrün der Schoten bis zum derben Grün der Blätter, eine anhaltende Tonleiter, die erst bei den Flecken der Selleriestengel und den Porreebunden erstarb. Aber die gellendsten Töne, die am lautesten erklangen, waren noch immer die lebhaften Flecke der Möhren und die reinen Flecke der Kohlrüben, die in ungeheurer Menge über den ganzen Markt verstreut waren und ihn mit der grellen Zusammenstellung ihrer beiden Farben erhellten. An der Kreuzung der Rue des Halles türmte sich der Kohl zu Bergen: riesige Köpfe Weißkohl, fest und hart wie Kugeln aus bleichem Metall, Wirsingkohl, dessen große Blätter flachen Bronzebecken ähnelten, Rotkohl, den die Morgenröte in herrliche weinrote Blütenpracht mit karmin und dunkelpurpur Druckstellen verwandelte. Am anderen Ende, an der Kreuzung bei der Pointe SaintEustache, war der Zugang zur Rue Rambuteau durch eine Barrikade von orangefarbenen Kürbissen versperrt, die sich in zwei Reihen zur Schau stellten und ihre Bäuche vorstreckten. Und hier und da entflammten der Goldkäferlack eines Korbes Zwiebeln, das blutige Rot eines Haufens Tomaten, das verwischte Gelb einer Ladung Gurken, das dunkle Violett einer Traube Eierfrüchte, während große, zu Trauertüchern nebeneinandergelegte Schwarzrettiche Löcher von Finsternis inmitten der bebenden Freuden des Erwachens übrigließen.