Fußball-Taktik

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Das große Ganze
Spieleröffnung und Spielgestaltung

Die Spielgestaltungszentrale wandert nach hinten. In den 1970er und 1980er Jahren, zu Zeiten eines Diego Maradona, Michel Platini, Wolfgang Overath oder Johan Cruyff, war es der geniale, oft charismatische Zehner, ein Einzelkünstler, der den Ball verteilte, der seinem Team Esprit verlieh. Eine Quelle schier unbegrenzten Einfallsreichtums. Doch der klassische Zehner gehört zu einer aussterbenden Spezies. Böse Jäger in Form von Innenverteidigern, Sechsern und anderen Defensivstrategen haben den Spielertypus zunehmend unter Druck gesetzt, ihm durch teils mehrfache Manndeckung die Lust am Spielen genommen, bis er entnervt als zweite Spitze eingesetzt wurde und seiner Stärken beraubt war.

Somit übernahmen die zwei oder der eine Sechser selbst die Aufgabe des Zehners (welch Ironie – oder ein bewusster Putsch zur eigenen Machtübernahme?) und gestalten seither das Spiel, so wie einst Bastian Schweinsteiger oder Xabi Alonso beim FC Bayern. Bei Borussia Dortmund wird bereits Innenverteidiger Mats Hummels eine gestalterische Aufgabe zuteil – wobei Wormuth die Entwicklung noch längst nicht als abgeschlossen ansieht: »Hummels spielt die Eröffnung von hinten heraus. Ich sehe es noch einen Schritt weiter, dass sich der Innenverteidiger den Ball nimmt, ins Mittelfeld reingeht und dann dort kombiniert, während ein Sechser in die Innenverteidigung zurückgeht. So entsteht ein Wechselspiel, bei dem immer wieder ein Verteidiger von hinten vBei der Spielerorrückt und ein zentral-defensiver Mittelfeldspieler sich zur Absicherung fallen lässt.« Geht die Entwicklung so weiter, werden die zentralen Abwehrspieler in naher Zukunft die ersten Spielgestalter sein.

Bei der Spieleröffnung wird oft von »unzähligen Möglichkeiten« gesprochen, in der medialen Berichterstattung, aber auch von dem einen oder anderen Coach. »Nur die Trainer, die hier in der Ausbildung sind, dürfen das nicht mehr sagen«, sagt Wormuth. Denn in der Spieleröffnung eines Innenverteidigers bestehen laut Wormuth genau vierzehn Möglichkeiten, mehr seien zumindest nicht bekannt. Diesen möglichen Varianten werden Namen zugeteilt wie zum Beispiel: »Zwei Drittel«, »Bayern«, »Schweini-Position«, »Schneck« oder »Diametrale Doppelsechs«. »Das ist schon eine ganze Menge. Das können schon mal zu viele Möglichkeiten sein, sodass der Spieler den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Für eine erfolgreiche Umsetzung benötigt er auf jeden Fall Mitspieler, die mitarbeiten, sich freilaufen und anbieten.«

Ideen zur Spieleröffnung sammelte der Fußballlehrer vor allem während der EURO 2012 in Polen und der Ukraine, »wo ich es grandios fand, wie die Außenbahnspieler dort plötzlich nach innen gegangen sind«. Wormuth wollte sich jedoch nicht nur begeistern lassen, sondern die Ideen auch festhalten, planen und bei der U20 umsetzen. Er ermittelte, wie viele Möglichkeiten zur Spieleröffnung bestehen und kam auf ebenjene vierzehn. Seine DFB-Junioren schauten zunächst sparsam, als Wormuth begann, Übungen zur Spieleröffnung mit ins Training einfließen zu lassen: »Spielen wir denn jetzt Schach?« Wormuth nickte und lächelte zufrieden, als seine Spieler bemerkten, wie sie plötzlich mit einfachen Passfolgen von hinten heraus durch das Mittelfeld nach vorne kamen.

Passqualität

Ein wesentlicher Punkt im Angriffsverhalten ist die Passqualität, ebenso wie »Spielen und Gehen« oder »Freilaufen und Anbieten«. Elemente, die schon in der frühen Jugend vermittelt werden. Doch Perfektionist Wormuth sieht bei Passqualität und Ballkontrolle noch Steigerungspotenzial. Nach dem Motto: Was nützt ein schneller, scharf gespielter Pass, wenn dem Annehmenden der Ball verspringt?

Kurz vor unserem Gespräch hatten die angehenden Fußballlehrer gerade den neunten Spieltag der ersten Bundesliga analysiert und etwa 200 Video-Schnitte gemacht. Über 50 von ihnen enthielten eindeutige »unforced errors«, wie sie im Tennis genannt werden, also unerzwungene Fehler, Fehler ohne Druck. Bei größerer Auslegung konnten noch 50 weitere hinzugezählt werden. »Wir entdeckten Pässe, die in den Rücken gespielt wurden, obwohl die Passwege völlig frei waren, bei denen noch nicht einmal die Bodenverhältnisse schuld waren. Ballkontrollfehler, die trotz Ballsicherheit der Bundesligaspieler zu unnötigen Ballverlusten führten, und eigene gute Torgelegenheiten im Keim erstickten. Das sollte eigentlich nicht passieren. Natürlich sind wir alle Menschen und es passiert, doch unsere Aufgabe als Trainer ist es, auf diese Fehler hinzuweisen. Immer wieder das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass ein einziger Fehlpass bereits zum Gegentor führen kann oder eine Chance vernichtet.«

Oder ein anderer klassischer Fall: Eine Mannschaft fährt einen Konter, der Stürmer läuft frei auf den Torwart zu, plötzlich kommt noch ein Verteidiger angesprintet, der Stürmer braucht nur noch nach rechts zu seinem Teamkollegen herüber zu spielen, er spielt zwar, doch er spielt zu weit, bis zur Eckfahne. Die Chance ist vertan. Und wie viele Chancen werden bereits im Ansatz, durch einen Pass im Mittelfeld, der nicht ankommt, zunichte gemacht. Oder durch eine Ballannahme, die nach hinten und nicht nach vorne mitgenommen wird. »Das bemerkt vielleicht kaum jemand von draußen, aber wir Trainer sehen es. Wenn der Spieler den Ball nach vorne mitnimmt, ›dreh auf‹ als Signalwort, dann wäre er vielleicht schon in einer glänzenden Situation gewesen, um eine Torchance zu kreieren. Doch da er den Ball nach hinten mitnimmt, ist die Gelegenheit dahin. Und an solchen Spielszenen arbeiten wir, Tag und Nacht. Die beste Taktik hilft nicht, wenn Passqualität und Ballkontrolle nicht stimmen. Sauberes Passen und die entsprechende Ballkontrolle sind ganz wesentliche Grundlagen im Fußball«, betont Wormuth. Die Anforderung: Ein guter Pass kommt präzise und schnell, lässt dem Gegner somit wenig Zeit zum Reagieren.

Auch bei der U20 setzte Wormuth auf eine offensive Ballmitnahme seiner Spieler. »Doch bei Widerständen wie unter Stress oder Druck fallen sie oft in alte Muster zurück, die sie in früherer Jugend gelernt haben. Da vom DFB auch die Trainer der Nachwuchsleistungszentren ausgebildet werden, bin ich aber zuversichtlich, dass sich neue Automatismen entwickeln werden.«

Die Passqualität auf höchstem Niveau ist inzwischen so groß geworden, dass es bereits auffällt, wenn ein Spieler mal nur 80 Prozent seines Leistungsvermögens abruft. Die Bayern unter Pep Guardiola waren Meister der Ballzirkulation. Wie sie mit der Kugel umgingen, sie auf engstem Raum behaupteten, ständig in Bewegung waren, um sich anzubieten, hat Maßstäbe gesetzt. »Es ist ja nicht nur das Ball annehmen und mitnehmen, sondern auch die Kombination aus: Wo steht mein Mitspieler, wie läuft er sich frei und wie verhält sich der Gegenspieler? Oft fragt man sich als Zuschauer, was mit der Abwehr los ist, weil der Angreifer so frei steht. Aber der hat sich gerade mit einem kurzen Antritt geschickt freigelaufen. Deshalb rede ich gerne vom elementaren Angriffsverhalten und zu dem gehört die Bewegung unbedingt dazu – denn es heißt ja nicht ›spielen und stehen‹.«

Je mehr Fußballer zusammenkommen, die ein hohes technisches Niveau haben, desto besser wird auch die Mannschaft insgesamt. Das ist keine überraschende Erkenntnis, ist aber ein Aspekt für die Dominanz der spanischen Nationalmannschaft sowie von Bayern München während der vergangenen Jahre. Die iberischen Ballvirtuosen haben ihre enormen Fertigkeiten durch ständig wiederholte Übungen auf sehr kleinem Feld erlangt: »Fünf gegen Zwei« oder »Fünf gegen Drei«, bei denen der Ball ständig in Bewegung ist. Diese »rondos«, bei denen derjenige in die Mitte muss, der den Ball verliert, werden in Spanien schon seit der frühesten Jugend gespielt – permanent auf engstem Raum, immer nur mit einem oder zwei Kontakten. Eine intensive Schulung technischer Fertigkeiten, die sich mit der Zeit auszahlt.

Wormuth berichtet von einem Gespräch mit seinem Trainerkollegen Christian Wück, damals zuständig für die deutsche U17-Juniorenauswahl: »Er erzählte von einem Spiel gegen Spaniens Junioren und meinte, es sei ein Klassenunterschied gewesen. Seine Mannschaft habe zwar mit bekannter deutscher Mentalität gespielt, mit Einsatz und Wille, aber bei den Spaniern sei jede Position auch technisch hervorragend besetzt gewesen. ›Sensationell‹ sei das gewesen, sagte Wück, ›wie die Fußball spielen konnten – und zwar alle auf gleichem Niveau.‹ Aber bei uns kommt das jetzt auch immer mehr, denn die Technik wird in der Ausbildung immer wichtiger.«

Noch dominiert in der deutschen Ausbildung die niederländische Schule, die auf Passformen unter sowohl taktischen als auch nichttaktischen Gesichtspunkten abstellt, vorzugsweise zur Spieleröffnung. »Doch stelle ich bei diesen Passübungen nur einen Gegner hinzu, gibt es schon Schwierigkeiten. Und das ist eine Frage der Ballfertigkeit«, gibt Wormuth zu bedenken. Manch ein Trainer fühlt sich ob dieser Anregungen auf den Schlips getreten, doch Wormuth geht es nicht darum, zu kritisieren, sondern zu analysieren und optimieren: »Natürlich jammern wir auf hohem Niveau. Wir reden hier von den letzten zehn Prozent. Doch gut zu sein, heißt ja nicht, dass wir aufhören müssen, uns weiter zu verbessern.«

Das Erfolgsrezept der Spanier, direktes Spielen auf kleinem Feld, setzte der DFB bereits nach dem deutschen Debakel bei der EM 2000 um – noch lange bevor Xavi, Iniesta und Co. die Fußballwelt mit ihrem Ballzauber berauschten. Seit damals wurden verschiedene Maßnahmen zur Förderung des Fußballnachwuchses ergriffen. Eine davon war, deutschlandweit mehr als tausend Minispielfelder zu errichten, kleine und wetterunabhängig bespielbare Kunstrasenplätze. Um die Freude am Fußball zu wecken, aber auch, um auf kleinem Feld an der Technik zu feilen. Kinder und Jugendliche, die regelmäßig auf diesen Plätzen spielen, entwickeln ihr Können am Ball.

 

Nicht nur die Bayern können mit der Kugel umgehen, viele ihrer Bundesligakonkurrenten ebenfalls. Zu selten aber gelingt es, die Passqualität in ähnlicher Form und konstant auf den Platz zu bringen – obwohl die Spieler im Training erstaunliche Ballkünste offenbaren. Wormuths Ansatz: »Dann muss ich am Selbstvertrauen arbeiten und zum Spieler sagen: ›Mach’ dir keine Gedanken, du darfst auch im Spiel Fehler machen, denn die gehören dazu.‹ Vielleicht liegt es auch an der Passqualität, dass die Pässe nicht so scharf sind wie die der Bayern. Oder die Bayern spielen den Mitspieler auf dem Fuß an, der vom Gegner entfernt ist. Allein das reicht bereits aus, um mehr Zeit zu haben. Und bei einer anderen Mannschaft wird der Ball einfach bloß hingespielt. Oder vielleicht werden die Bayern auch nicht so unter Druck gesetzt, weil der Respekt sehr hoch ist.«

Wie wichtig die Passgenauigkeit ist, beweist auch eine Anekdote, von der Wormuth berichtet: »Ich habe einen Bekannten, der mit Xavi vom FC Barcelona mal aus Spaß an der Freude Fußball gespielt hat. Vier gegen Vier. Das Erste, was Xavi ihn fragte, war: ›Welcher ist dein starker Fuß?‹ Er antwortete: ›Ich bin Linksfuß.‹ Daraufhin hat er ihn nur auf dem linken Fuß angespielt, die ganze Spieldauer über immer nur auf dem linken Fuß. Diese Präzision zu besitzen, ist eine sehr hohe Qualität. Das sind die letzten Prozentpunkte, die den Unterschied zwischen guten und sehr guten Spielern ausmachen. Einem Amateurspieler, der gerade anfängt, würde ich natürlich nicht raten, ›spiel’ deinen Mitspieler immer auf dem Fuß an, der gerade gegnerentfernt ist‹. Aber im Spitzenfußball ist das eine mögliche Steigerung.«

Uli Stielike ließ als Co-Trainer der Nationalmannschaft die Spieler mit dem Ball am Fuß jonglieren. Das war Ende der 1990er-Jahre, in einer Phase, in der der deutsche Fußball nicht gerade als Nabel der Welt galt. Die Spieler reagierten naserümpfend bis lustlos. Darüber kann Wormuth sich noch heute echauffieren: »Aber Entschuldigung, das ist die Basis! Wenn ich mit dem Ball jonglieren kann, mit ihm umgehen kann, dann ist das eine der wesentlichsten Fähigkeiten in unserem Sport. Und wenn ich im hohen Tempo den Ball annehme, dann bekomme ich ein Gefühl für ihn, weil ich sein Verhalten kennenlerne. Ich bin aber überzeugt, dass der weit überwiegende Teil der Spieler lernen will. Sicher wird es immer einige geben, die lamentieren, ›warum machen wir das?‹. Aber die bilden die Ausnahme. Fußball ist eben auch eine Sache des permanenten Übens.«

Taktische Flexibilität

Bis vor etwa fünfzehn, zwanzig Jahren orientierten sich Trainer bei der taktischen Ausrichtung ihrer Spieler fast nur an der eigenen Mannschaft. Überspitzt gesagt, interessierte der Gegner zunächst einmal nicht. Inzwischen ist eine Entwicklung zu beobachten, die dazu führt, dass Trainer ihre Vorgaben nicht nur vor einer Partie nach den Stärken und Schwächen des Gegners ausrichten, sondern auch während des Spiels ihre Formation verändern, wenn sie auf Umstellungen ihres Gegenübers reagieren. Thomas Tuchel machte bei Mainz 05 aus einer Mittelfeldlinie plötzlich eine Raute, weil er merkte, dass die Mitte geschlossen werden muss, da der Gegner dort eine Lücke gefunden hatte. Dies wiederum provozierte eine Gegenantwort, denn auch sein Trainer-Pendant musste nun reagieren, sofern er seine Mannschaft taktisch flexibel geschult hatte. Denn durch die gegnerische Umstellung auf eine Raute wurden nun die Außenbahnen freier. Es empfahl sich also, den Angriffsschwerpunkt von der Mitte nach Außen zu verschieben. Das müssen Trainer und das können auch erfahrene Spieler erkennen. Das ist der Anspruch. Es darf also nicht zu Verwunderung führen, wenn das Spiel durch die Mitte nach einer Rautenumstellung des Gegners nicht mehr funktioniert. Eine mögliche Antwort liegt darin, die eigene Mannschaft breiter zu stellen und in 4-4-2-Linien spielen zu lassen.

Die Linien. Oder aus Sicht des Gegners gesprochen, um dort Lücken zu finden: Das Spiel zwischen den Linien. Ein Thema für sich. Bei einer Linie ordnet ein Trainer seine Verteidiger wie in einer Kette an. Der Kerngedanke dieser defensiven Anordnung ist, einen Raum bestmöglich abzudecken und die Laufarbeit der Spieler zu verringern. Wird in Abwehr und Mittelfeld jeweils mit Viererkette gespielt, in einer 4-4-2-Linie, liegt es in der Natur dieser Linien, dass zwischen ihnen Freiräume entstehen, in die der Gegner hineinzustoßen versucht. Schnittstellen lassen sich nie ganz vermeiden, gerade durch ruckartige Bewegungen des Stürmers, denen ein Verteidiger folgen muss. So öffnet sich kurzfristig eine Schnittstelle und dort ist das berühmte Fenster zu finden, in das sich der vielzitierte öffnende Pass hineinspielen lässt. Diese Schnittstelle ist grundsätzlich zwar auch dann zu finden, wenn sich die Verteidiger alle gleichzeitig bewegen und nicht ein einzelner ausschert. Borussia Mönchengladbach gelang dies in der Bundesliga-Hinrunde 2014/15 hervorragend. Aber es fällt dann deutlich schwerer, dort hineinzuspielen, als wenn sich das Fenster kurz öffnet und dieser Moment genutzt wird.


Abb. 2: 4-4-2-Raute mit geschlossener Mitte


Abb. 3: 4-4-2-Linie mit Stärkung der Außen

Wormuth ist ganz in seinem Element, gestikuliert, verschiebt die Magnetpunkte an der Tafel, unsere Köpfe rauchen. »Ist doch ganz einfach, oder?« Wir nicken halbherzig. Doch Wormuth ist geduldig, muss er wohl auch sein in diesem Job, erklärt noch mal anders, wenn er merkt, dass der Stoff noch nicht sitzt. Und er wird noch sitzen, daran lässt er keinen Zweifel. »Solche taktischen Spielereien passieren heute öfter. Pep Guardiola ist dafür prädestiniert. Er verändert die Formation seiner Mannschaft während des Spiels binnen kürzester Zeit, immer wieder. Auf diese Weise war der FC Bayern kaum auszurechnen. Guardiola brauchte zwar eine Weile, den Spielern diese vollkommene Flexibilität, bei der sie ständig neue Positionen einnehmen, klarzumachen, aber letztlich funktionierte es. Von außen nimmt man die Veränderungen nicht immer wahr, denn manchmal sind sie nur sehr klein – können aber entscheidend sein, wenn durch die Umstellung von Dreier- auf Viererkette plötzlich in der Spieleröffnung ein Mann mehr als Anspielstation im Mittelfeld zur Verfügung steht und die Mannschaft besser in ihren Spielfluss kommt. Denn wenn beide Außenverteidiger hoch stehen, hat die Dreierkette sieben Spieler vor sich und die Viererkette acht.«


Pep Guardiola erwartet nicht nur von sich das Maximum, er verlangt auch seinen Spielern alles ab. Das Fachmagazin kicker stellte nach 21 Bayern-Pflichtspielen der Saison 2014/15, in denen Guardiola elf verschiedene Systeme spielen ließ, die Frage: »Wirrwarr oder Wunderwerk?« Es ist müßig zu diskutieren, ob der FC Bayern weniger erfolgreich gewesen wäre, hätte er nahezu konstant auf ein System gesetzt – wie zum Beispiel dem 4-2-3-1 unter Louis van Gaal oder später auch unter Jupp Heynckes. Immerhin eine Variante, mit der Heynckes die Bayern 2013 zum historischen Triple aus Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League führte. Guardiola will Nachhaltigkeit, kontinuierlichen Erfolg. Und dafür darf seine Mannschaft nicht ausrechenbar, nicht greifbar sein. Doch jedes System wird mit der Zeit entschlüsselt. Da ist es in der Tat nützlich, variabel zu sein, nach Belieben auf verschiedene Konzepte zurückgreifen zu können. Und genau daran arbeitete Guardiola auch in München tagtäglich. Vorbei waren die Zeiten, als der Gegner »nur« Franck Ribéry und Arjen Robben aus dem Spiel nehmen musste und der FC Bayern entzaubert war. Guardiola wusste sicher einen Plan B. Oder C. Oder D. Oder …

Wormuth verneint, dass taktische Flexibilität nur auf allerhöchstem Niveau erreichbar ist. »Sie müssen nur die Möglichkeit haben, sie mit ihrer Mannschaft konsequent zu erarbeiten. Ich habe das schon vor 25 Jahren in der Verbandsliga von meiner Mannschaft praktizieren lassen und gesagt: Wir brauchen ein Grundsystem, ein Grundverhalten, und davon gibt es eine offensive und eine defensive Version, je nach Spielstand. Wenn wir führen und der Gegner Druck macht, wir also tiefer stehen, spielen wir einen sogenannten ›Tannenbaum‹ in der Grundordnung 4-3-2-1 (Anmerkung: läuft nach oben hin immer spitzer zu, daher der Name, vgl. Abb. 4), dann haben wir die Mitte zu und der Gegner muss über außen kommen, was für ihn schwieriger wird. Wenn wir hingegen in den letzten zehn Minuten ein Tor erzielen müssen, dann spielen wir »Harakiri«, mit drei Spitzen im Zentrum und zwei dahinter. Dann bilden wir im defensiven Mittelfeld keine Doppel-Sechs, sondern spielen mit einer Sechs und zwei Zehnern, damit bei den ›zweiten Bällen‹ die zwei Zehner die Kugel aufnehmen können. Das sind alles Spitzfindigkeiten, die aber wichtig werden können.«


Abb. 4: Tannenbaum-System


Abb. 5: »Harakiri-System«, um die Chance auf den zweiten Ball zu erhöhen

Die Spitzfindigkeiten werden einstudiert und den Spielern immer wieder bewusst gemacht. Damit eine Umstellung während der Hektik des Spiels reibungslos klappt, sucht sich der Trainer drei, vier Spieler als Adressaten seiner Anweisungen aus, die zentral agieren und die die taktische Flexibilität verinnerlicht haben. Eine Umstellung wird von der Bank mit Signalworten eingeleitet. Ralf Rangnick, unter anderem Trainer beim SSV Ulm, VfB Stuttgart, Hannover 96, Schalke 04 und 1899 Hoffenheim, gab mit den Fingern Zeichen wie »Du spielst die Sechs«. Wormuth macht anschaulich deutlich, warum es wichtig ist, leicht verständliche Anweisungen zu erarbeiten: »Andernfalls müssten Sie einem eingewechselten Spieler sagen: ›Pass auf, du spielst jetzt auf der linken Seite, nicht ganz weit draußen, nein, komm’ ein bisschen mehr nach innen, stopp, ja, so könnte es gehen …‹ Das geht eben nicht. Vielmehr müssen Sie ihm sagen können, ›Du spielst die Elf‹ und er weiß sofort, wo genau auf dem Platz die Position Elf wie zu spielen hat. Das müssen Sie im Training üben und es sollten auch alle Spieler mal auf der Elf gespielt haben. Und diese Zeit zum Üben steht innerhalb einer Trainingswoche auch genügend zur Verfügung.« Ein geradezu fließender Übergang zu einem weiteren Thema, das Wormuth sehr am Herzen liegt:

»Manchmal höre ich bei taktischen Übungen ein Aufstöhnen: ›Och, wir haben doch Englische Woche, muss das jetzt sein?‹ Ja, muss es. Ich kann doch Montag und Dienstag zweimal trainieren, dann habe ich bereits vier Einheiten absolviert. Dann kann ich auf dem Platz noch Gehübungen für ein besseres taktisches Verständnis machen, oder an der Taktiktafel arbeiten, Videoszenen zeigen. Ich kann mit den Spielern doch acht Stunden am Tag arbeiten! Da besteht auch keine Gefahr, dass Spieler übertrainiert werden. Die Profiklubs arbeiten mit professionellen Fitnesscoaches, die berücksichtigen, dass der eine etwas mehr und ein anderer etwas weniger Belastung benötigt. Das ist alles eine Frage der Steuerung. Diese Scheu vor dem Acht-Stunden-Tag finde ich kurios.« So wird es Wormuth nachträglich mit Genugtuung erfüllt haben, als die abstiegsgefährdeten Klubs Hamburger SV und VfB Stuttgart ankündigten, ebenjenen Acht-Stunden-Tag zur Rückrunde der Saison 2014/15 einzuführen.