Kochwut

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»Da habe ich kein Problem mit«, meinte er zu seinem Freund. Im Gegenteil, bei einem guten Essen und einem Glas Wein fand der Kommissar meist seinen Seelenfrieden wieder, wenn ein Fall ihn bis in sein Privatleben verfolgte. Ein echtes Problem sah Georg darin, Astrid erklären zu müssen, warum er sich früher von der Geburtstagsfeier ihrer Schwester Sigrid würde verabschieden müssen. Doch er hatte mit David und Steffen einfach keinen anderen Termin finden können.

»Moin allerseits! Dürfen wir mal? Wir haben hier einen Kunden abzuholen.«

Das laute Auftreten des Mannes, der da die Kommissare von hinten ansprach, passte nicht so recht zu seiner gediegenen Aufmachung. Er und sein Kollege steckten in schicken grauen Jacketts und schwarzen Hosen mit akkurater Bügelfalte.

»Okay, Steffen, dann erst mal danke«, verabschiedete sich Angermüller. »Wir hören von dir.«

Rasch räumten die beiden Kommissare die Kühlzelle und machten Platz für die Mitarbeiter des Bestattungsinstituts mit ihrem Metallsarg.

Im Flur trafen sie auf die Kollegin Kruse und den Kollegen Teschner, die ziemlich durchgefroren waren.

»Ihr braucht euch nicht zu beschweren! In der Kühlzelle sind’s minus 20, sach ich nur! Kommt lieber mit in die Küche und erzählt, ob ihr weitergekommen seid«, forderte Jansen die beiden auf.

»Außer den beiden im Herrenhaus gibt es hier auf dem Gut noch sechs Wohnungen in den Nebengebäuden des Torhauses«, berichtete Teschner, als sie am großen Küchentisch Platz genommen hatten. »Wir haben mit einer jungen Mutter und einem Rentnerpaar dort gesprochen. War ziemlich unergiebig. Interessant ist vielleicht eine Beobachtung, die eine ältere Dame gemacht hat: Gestern gegen Abend soll der Sohn des Opfers hier auf dem Gut gewesen sein. Zumindest hat die Zeugin ein Auto gesehen, das seines gewesen sein könnte. Ansonsten war in den anderen Wohnungen niemand zu Hause. Und dann ist da noch das Verwalterhaus, das etwas versteckt zwischen Herrenhaus und Scheune liegt. Aber da war auch keiner.«

»Dann klärt das ab mit dem Wagen des Sohnes und findet raus, wo der sich aufhält. Das ist schon der zweite Hinweis auf den. Klingt nicht uninteressant«, meinte Angermüller.

»Im Hof hatten wir dann noch eine Begegnung der anderen Art«, grinste Anja-Lena Kruse. »Wir sind mit einem Herrn Mientau aneinandergeraten, der kam mit seinem Trecker angebrettert und hätte uns beinah umgenietet! Als er mitkriegte, dass wir von der Polizei sind, wurde er noch wütender.«

»Wenn das man nicht der Typ war, wegen dem ich vorhin schon eine Notbremsung hinlegen musste! Was macht der hier?«

»Der hat das Land gepachtet, das zum Gut gehört, und züchtet eine spezielle Rinderrasse, und zwar exklusiv für Güldenbrook, jedenfalls schien der eine Mordswut auf den Grafen zu haben. Der und Lebouton, das wären allesamt Halsabschneider und Gangster, die hätten ihn über den Tisch gezogen und so weiter und so weiter.«

»Könnte der Typ was mit der Sache zu tun haben?«, fragte Jansen. Kriminalobermeisterin Kruse zuckte unschlüssig mit den Schultern.

»Ich weiß nicht. Der ist so ein typischer Hochdruckmensch, einer von denen, die gleich laut werden. Kann natürlich sein, dass er dann auch mal so ausrastet, dass er tätlich wird. Angeblich ist er gestern den ganzen Tag nicht hier auf dem Gut gewesen. Sein Hof liegt einen knappen Kilometer von hier entfernt, im Dorf Güldenbrook. Wir haben jedenfalls seine Daten und geben die gleich an Thomas zur Inpol-Abfrage weiter. Danach sprechen wir wieder mit dem.«

»Und sonst?«

Teschner sah auf seinen kleinen Notizblock.

»Ach so, ja. Da sind noch die beiden Bedienungen im Torhaus. Kann man vergessen. Die sind erst heute Morgen gekommen, wohnen in Dörfern in der Umgebung. Das kleine Restaurant und der Laden sind außerhalb der Saison immer nur tagsüber von Freitag bis Sonntag geöffnet.«

»Na gut. Dann habt ihr ja noch einiges zu tun. Wir sehen uns spätestens heute Abend zur Kommissariatsbesprechung.«

»Wann war das noch?«

»18 Uhr.«

»Alles klar«, mit beiden Händen strich Kriminaloberkommissar Teschner über seine kalten Arme. Es klopfte.

»Jetzt könnte ich gut einen heißen Kaffee vertragen«, sagte Teschner und sah sehnsüchtig zu der glänzenden italienischen Kaffeemaschine hinüber. »War verdammt kalt da draußen!«

Der Kopf eines jungen Mannes sah um die Ecke der geöffneten Küchentür.

»Guten Tag!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, kam er herein und ging geradewegs auf die Beamten zu.

»Guten Tag!«, sagte er noch einmal freundlich und gab allen die Hand. »Ich bin Anatol. Anatol Kerbel, wie das Kraut.«

Seine Mütze hatte er in den Gürtel der Kochjacke geschoben, und die dunklen, halblangen Haare waren glatt nach hinten gekämmt. Er trug einen sehr schmalen Bart, der in einem akkuraten Streifen rund um Wangen und Kinn lief und auch die Oberlippe zierte.

»Soll ich Ihnen vielleicht einen Kaffee machen? Ich mein nur, weil ich das gerade gehört habe … Ich weiß, wie man die Maschine bedient.«

Die Beamten sahen sich an.

»Das Angebot nehmen wir dankbar an«, sagte Angermüller dann zu dem jungen Mann, »und anschließend kannst du uns gleich noch ein paar Fragen beantworten.«

»Ja klar, deshalb bin ich ja hergekommen. Ernie und Thorsten haben mir eben gesagt, dass Sie hier sind. Wie hätten Sie Ihren Kaffee denn gern?«

»Kannst du mir bitte einen großen Milchkaffee machen?«, fragte Angermüller. »Darf ich dich überhaupt duzen?«

»Kein Problem!«, grinste Anatol. »Und was darf ich den anderen Herrschaften servieren?«

Bald duftete die ganze Küche nach frisch gemahlenem Espresso, und die Beamten genossen die aromatischen Getränke, ganz nach ihren Wünschen, stärker oder schwächer, mit oder ohne Milch, mit oder ohne Zucker. Der junge Mann gab sich Mühe, ein perfekter Gastgeber zu sein.

Anatol Kerbel war 21, genauso alt wie Thorsten Bauer, wirkte aber auf Angermüller um vieles erwachsener und reifer. Seine Angaben über den Vorabend deckten sich mit denen seiner beiden Kumpel, und er hatte von Güldenbrook ebenfalls das letzte Mal am gestrigen Nachmittag gesehen, als er mit seinem Auto auf den Hof fuhr. Auch er hatte mit dem Grafen eher wenig zu tun gehabt.

»Ab und zu tauchte er auf und kritisierte unseren zu großzügigen Umgang mit den teuren Zutaten. Aber Pierre war eigentlich nie seiner Meinung.«

»Und wie kommst du so klar mit euerm Chef?«, wollte Angermüller wissen.

»Gut, würde ich sagen«, nickte Anatol, als wolle er sich selbst seine Aussage bestätigen. »Man kann eine Menge von ihm lernen. Es ist eine Riesenchance.«

»Ist der nicht manchmal ein bisschen schwierig, der Herr Lebouton?«

»Wenn sich einer dämlich anstellt, dann kann er schon mal ausrasten. Man muss halt gut sein.«

Anatol lächelte breit und zeigte seine makellosen Zähne. Sein Aussehen erinnerte Angermüller an die Popstars, die seine 13-jährigen Töchter auf Plakaten an den Wänden ihrer Zimmer hängen hatten. Er war ein ausnehmend hübscher Junge, und wie ein Kochlehrling sah er nach landläufiger Vorstellung jedenfalls nicht aus.

»Und du bist gut?«

»Ja, ich glaub schon«, nickte Anatol und sah Angermüller dabei direkt an. Solch eine unverschämte Selbstsicherheit konnte man wohl nur in diesem Alter an den Tag legen, dachte Angermüller amüsiert.

»Ich bin der Einzige, der schon öfter Auftritte in der Show hatte. Und auch die Zuschauer fanden mich gut.«

»Aha. Woher weißt du das?«

»Na ja, es kamen halt Mails und Anrufe. Die Leute wollten wissen, wer ich bin und so, und ob ich noch öfter dabei sein werde.«

»Was hast du denn gekocht?«

»Gekocht habe ich nicht direkt. Ich habe assistiert.«

Und sogleich zählte der junge Mann so einiges auf, um seine Fähigkeiten ins rechte Licht zu setzen.

»Ich habe zum Beispiel Orangen filettiert, einen Tafelspitz aus einer Rinderkeule geschnitten, Nudelteig gemacht, einen Seewolf portioniert – das ist vor laufender Kamera nicht ganz leicht.«

»Da gebe ich dir recht. Das ist auch ohne Kamera nicht einfach«, nickte Angermüller. »Und was ist dein Glanzstück? Was gelingt dir beim Kochen am besten?«

»Eigentlich gelingt mir immer alles«, auf Anatols Gesicht erschien wieder dieses unwiderstehliche Lächeln. »Aber wenn ich wählen dürfte, würde ich einen schönen Tafelspitz kochen und dazu mein Kartoffel-Pastinaken-Püree mit gerösteten Walnüssen.«

»Ach, und wie würdest du den Tafelspitz zubereiten?«

Jetzt war Angermüllers Interesse geweckt. Vielleicht würde er ja hier einen Tipp für ein neues Rezept entdecken, mit dem er Steffens Variante, die er am nächsten Abend kennenlernen sollte, noch übertreffen könnte.

»So wie der Chef, in Pinot Noir, nur mit erstklassigen Zutaten. Das ist das A und O. Und Geduld.«

»Würdest du mir denn das Rezept verraten?«

»Oh Mann!«, rief Jansen in gespielter Verzweiflung. »Sind wir mal wieder beim Thema?«

»Also wir haben jetzt keine Zeit, Kochrezepte zu sammeln. Die Pflicht ruft.«

Teschner und Anja-Lena Kruse erhoben sich.

»Der Kaffee war gut, danke!«, meinte Teschner dann noch zu Anatol.

»Freut mich«, nickte der und wandte sich wieder an Angermüller.

»Sehen Sie auch immer unsere Sendung?«

»Äh, nicht direkt. Ich koche nur ab und zu ganz gern.«

»Ach so.«

Diese Aussage schien Anatol eher enttäuschend zu finden, und er erläuterte: »Weil ich wahrscheinlich demnächst den Tafelspitz in der Sendung kochen darf. Dann finden Sie das Rezept sowieso im Internet.«

»Na gut. Dann danke für den Tipp! Was möchtest du denn machen, wenn deine Ausbildung beendet ist?«

 

»Fernsehkoch.«

»Anatol!«

»Ja, Chef?«

Kaum war vom Flur Leboutons Stimme zu hören, sprang der Junge hoch und lief zur Tür.

»Ah, hier steckst du!«, Lebouton kam herein und gab seinem Lehrling einen leichten Klaps hinters Ohr. »Da kann ich ja lange suchen.«

Aber es war wohl nett gemeint, denn er zeigte auf Anatol und fügte an: »Hier meine Herren: mein bestes Pferd im Stall! Und jetzt ab ins Studio, du wolltest doch noch was für den Spargel vorbereiten, dachte ich!«

Fragend sah Anatol zu den Kommissaren.

»Wir waren ja eh fertig. Dann wollen wir dich nicht länger aufhalten!«

»Tja, dieser hübsche junge Mann wird es einmal weit bringen. Nicht nur weil ihm die Mädchen begeisterte Mails schreiben. Er ist nämlich ein echtes Naturtalent!«, meinte Lebouton und blickte Anatol nach, als er gegangen war. »Er ist ehrgeizig, experimentierfreudig, hungrig auf Neues. Ein wenig erinnert er mich an mich selbst, als ich so jung war wie er …«, nachdenklich sah er zu Boden. »Ist lange her.«

Zum ersten Mal wirkte der berühmte Koch ein wenig menschlicher, nicht mehr so glatt und perfekt. Er strich sich mit der Hand über die Augen. Eine gewisse Müdigkeit schimmerte durch.

»Sind Sie fertig mit der Aufzeichnung?«

»Mit der zweiten heute meinen Sie? Leider noch nicht. Wir mussten unterbrechen, weil unser Kandidat aus der Endrunde sich beim Gemüseschneiden verletzt hat.«

»Oh, so schlimm?«

»Nicht so dramatisch. Es hat halt geblutet, und jetzt muss er erst einmal verarztet werden. Mal sehen, wie wir das hinkriegen, wo die Zuschauer doch glauben sollen, die Sendung wäre live. Na ja, das soll nicht mein Problem sein. Das muss die Regie reparieren.«

»Ihre Sendung ist sehr beliebt«, stellte Angermüller fest.

»Ja, ›Voilà Lebouton!‹ ist auch nach sieben Jahren immer noch sehr erfolgreich.«

Lebouton straffte sich und setzte sein Profilächeln auf.

»Aber man muss auch was dafür tun, dass die Quote stimmt. Von allein läuft da gar nichts, glauben Sie mir. Der Erfolg ist ein zweischneidiges Schwert …«

»Sagen Sie, Herr Lebouton, ich muss noch einmal auf meine Frage von vorhin zurückkommen, die geschäftliche Lage Ihres Unternehmens … Wir haben gehört, Sie hätten mit Ihrem Partner von Güldenbrook in letzter Zeit häufiger Auseinandersetzungen gehabt, wobei es immer um die Finanzen gegangen sein soll. Gibt es Schwierigkeiten?«, formulierte Angermüller sorgfältig.

Die Miene des Starkochs wurde eisig.

»Wer kolportiert solche Dinge? Na ja, ich kann mir schon denken, aus welcher Ecke das kommt. Die Leute haben keine Ahnung. Die Marke Lebouton ist fest im Markt etabliert, und unsere Firmen entwickeln sich für heutige Verhältnisse prächtig.«

»Und Ihr häufiger Streit mit Christian von Güldenbrook in den letzten Wochen?«

»Was heißt hier in den letzten Wochen?«, Lebouton ließ ein trockenes Lachen hören. »Wir haben uns immer heftig auseinandergesetzt! Nur das Wort Streit ist völlig fehl am Platze. Mit Christian konnte man nicht streiten, dazu war er viel zu beherrscht, zu wenig emotional. Ihm ging es nur um die Sache. Christian war ein Buchhalter, ein äußerst korrekter, ein sehr sparsamer! Seiner norddeutschen Puritanerseele war aller Überfluss zuwider, und das mit einer Gourmetküche in Einklang zu bringen, die nur von besten Zutaten lebt und aus dem Vollen schöpft, war ein äußerst schwieriger Prozess. Immer wieder! Er konnte um jedes Stück Butter kämpfen. Und wissen Sie, was ich glaube?«, Pierre Lebouton hielt einen Moment inne und sah zum ersten Mal eindringlich von Angermüller zu Jansen. »Ich glaube, das war das Geheimnis unserer erfolgreichen Zusammenarbeit, dass jeder wieder und wieder seine Argumente überprüfen musste, denn am Schluss haben wir uns ja doch immer geeinigt.«

»Es läuft also alles bestens, und alles war wie immer, nach Ihrer Meinung, und was uns von den verschiedenen Zeugen gesagt wurde …«

»Sind alles aus der Luft gegriffene Gerüchte. Erfolg produziert Neid, besonders bei den Erfolglosen. Es ist verlorene Zeit, darüber zu reden.«

Lebouton sah auf seine Armbanduhr.

»Ich muss jetzt wieder ins Studio. Sie entschuldigen mich …«

Er fragte nicht, ob er gehen könne. Es war klar, dass er bestimmte, wann er wie lange den Beamten Rede und Antwort stand. Schon hatte er die Hand am Türgriff.

»Sind Sie manchmal etwas unbeherrscht, Herr Lebouton?«, fragte Angermüller. Der andere ließ den Türgriff wieder los.

»Wie meinen Sie das?«

»So wie ich es sage: Können Sie aufbrausend sein, sehr wütend werden, vielleicht auch einmal lauter in Auseinandersetzungen oder wenn Sie sich ärgern? Werden Sie handgreiflich oder schmeißen Sie mit Gegenständen?«

»Was soll das? Meinen Sie, ich gehe mit einem Messer auf andere los?«

»Wir haben gehört, dass Sie manchmal etwas impulsiv reagieren.«

»Lehrjahre sind keine Herrenjahre, wenn Sie das meinen. Ich habe noch nie jemandem körperlichen Schaden zugefügt.«

»Na gut, dann wollen wir Sie nicht länger aufhalten. Sind Sie so nett und schicken uns kurz den Regisseur, den Herrn Prantl, herein?«

»Aber wirklich nur kurz, meine Herren! In einer Viertelstunde wollen wir weiterarbeiten.«

Angermüller nickte.

»Ach, Herr Lebouton, eine allerletzte Frage noch …«

Dem Kommissar war plötzlich etwas eingefallen.

»Sagt Ihnen der Name Carola Dohse etwas?«

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Lebouton ungehalten. »Wer soll das sein?«

»Das ist eine Dame, die Restaurantkritiken schreibt und über alle möglichen Gourmetthemen berichtet, für die Lübecker Zeitung und noch so ein paar Lokalmedien. Ihr Kürzel ist CD.«

Das Gesicht des Meisterkochs drückte Gleichgültigkeit aus.

»Den Namen der Dame habe ich noch nie gehört, und abgesehen davon: Dieses Journalistengeschmiere inte­ressiert mich sowieso nicht. Guten Tag, meine Herren!«

Kapitel III

Nach dem langen Spaziergang durch die Kälte spürte Hilde Dierksen, wie nun ihr Kreislauf wieder richtig in Gang kam. Sie legte ihre Strickjacke ab, die sie über das Flanellhemd gezogen hatte, und bearbeitete die Mischung aus Grießteig, Eiern und Butter im Topf auf dem Herd weiter kräftig mit dem Holzlöffel. Bis auf den leisen metallischen Klang, wenn der Holzlöffel gegen die Topfwand schlug, und ein regelmäßiges Schnarchen war es still im Raum. Hinrich Dierksen saß in seinem Lehnstuhl am Fenster, und auf seinem Schoß lag der Kater. Die Zeitung war auf den Boden gerutscht, die Lesebrille hatte Hilde vor dem gleichen Schicksal bewahrt. Hinrich hielt seinen ausgiebigen Mittagsschlaf. Fragte ihn jemand danach, dann meinte er, dass er hin und wieder mal ein kurzes Nickerchen machen würde, in Wahrheit schlief er jeden Nachmittag ein bis zwei Stunden. Doch das hätte er nie zugegeben, niemand sollte ihn mit seinen 86 Jahren für einen hinfälligen Greis halten. Ja, er war immer noch sehr eitel, ihr Herr Vater.

Hilde lächelte in sich hinein und gab reichlich Rosinen in den Teig. Dann holte sie die alte Puddingform, den durchwachsenen Räucherspeck und das Semmelmehl aus der Speisekammer. Vater hatte sich zum Abendessen einen Großen Hans gewünscht. Sie hatte gestern noch mitten in der Nacht die Aufzeichnungen der Mutter durchstöbert, um das alte Familienrezept zu finden, da sie sonst wieder lange Diskussionen durchzustehen hätte. War er sonst auch sehr offen für Neues, beim Essen war Hinrich Dierksen pingelig. Er wollte genau den Großen Hans essen, der ihm Zeit seines Lebens vertraut gewesen war. Hilde war froh, sich mit dieser Aufgabe ablenken zu können von dem schrecklichen Ereignis, das diesen Tag auf Gut Güldenbrook zu einem traurigen Tag machte. Auf der anderen Seite überlegte sie, wann und wie sie ihrem Vater die Nachricht von Christians Tod beibringen sollte. Der Arzt hatte gesagt, er solle sich nicht aufregen, das sei nicht gut für ihn und sein Herz. Und sie wusste, dass er sich sehr aufregen würde.

Es war früher Nachmittag, und kraftlos stand die Wintersonne über der kahlen Landschaft. Zwar hatte man an Weihnachten die Talsohle der dunklen Jahreszeit durchschritten, doch bis Licht und Helligkeit zurückkehrten und das Land wieder weit und offen wurde, wie sie es liebte, würden noch ein paar Wochen vergehen.

Vor drei Jahren war Hilde Dierksen aus Berlin hierher gezogen, an den Ort, wo sie geboren und aufgewachsen war. Lange Zeit hatte sie geglaubt, nie wieder auf dem Land leben zu können, erinnerte sich daran, wie beengt sie den Alltag hier gefunden hatte, wo nichts los war, man immer nur die gleichen Leute traf und jeder jeden kannte. Doch mit zunehmendem Alter hatte sich das geändert, und dann hatte es sich einfach so ergeben. Ihre Mutter, auch mit ihren 80 Jahren eine kraftvolle und unverwüstlich wirkende Frau, zog sich einen komplizierten Beinbruch zu, der nicht heilen wollte, weshalb sie schließlich zum Pflegefall wurde. Das nahm Hilde zum Anlass, hierher zurückzukommen.

»Alles passte«, wie Hilde immer gern sagte, wenn die Dinge sich scheinbar nahtlos ineinanderfügten. Auch damals. Sie hatte sich gerade von ihrem langjährigen Lebensgefährten getrennt, mit dem sie nur noch aus Gewohnheit zusammen war, wie sie irgendwann festgestellt hatte. In der Firma, in der sie fast 30 Jahre als Büroleiterin gearbeitet hatte, hatte sich vieles verändert in jüngster Zeit, nicht zum Besseren, und als man ihr eine kleine Abfindung bot, wenn sie freiwillig gehen würde, gab sie den Job ohne Bedauern auf. So nutzte sie die Chance des Augenblicks, die Weichen für ihre Zukunft neu zu stellen, und sah darin einen seltenen Glücksfall des Schicksals. Natürlich war ihr Bruder, der mit Frau und Kind in München lebte, unendlich erleichtert, dass Hilde die Verantwortung für die Eltern einfach so auf sich nahm. Anfangs war sie ein bisschen unsicher, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, doch das Leben mit den beiden alten Leuten gab ihr so viel zurück, dass sie sich ausgefüllt fühlte wie lange nicht mehr. Im letzten Jahr war dann ihre Mutter gestorben, und Hinrich hatte sofort gesagt, jetzt gehe er ins Heim.

»Ach Vadder, meinst du nicht, wir zwei kommen auch allein ganz gut miteinander aus?«, hatte sie ihn da gefragt.

»Wenn du das mit mir tüddeligem alten Kerl aushältst, min Deern, dann bleib ich wohl gern bei dir hier auf Güldenbrook. Wird ja man auch nicht mehr ewig dauern«, war seine Antwort.

Und nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten kamen sie inzwischen sehr gut miteinander aus. Nie hätte Hilde gedacht, dass der Vater, der ihr früher oft autoritär und ungerecht vorkam, im Alter einmal so tolerant und erstaunlich selbstkritisch werden würde. Sie sprachen über alle Entscheidungen, die ihren gemeinsamen Hausstand betrafen, und konnten sich meist schnell einigen. Es war mit ihm viel einfacher als damals mit den Jungs in ihrer Wohngemeinschaft in Kreuzberg. Wahrscheinlich gab es doch so etwas wie Weisheit im Alter, jedenfalls bei manchen Menschen.

Auch als sie im Haus einige bauliche Veränderungen vorschlug, hatte er keine Einwände. Sie hatten die Wand zwischen Wohnstube und Küche entfernen lassen, sodass der neue Raum unter der niedrigen Decke eine bisher unbekannte Großzügigkeit ausstrahlte und durch die hinzugekommenen Fenster viel heller geworden war, was auch dem Vater gefiel. Außerdem war er nicht allein, wenn Hilde in der Küche zu tun hatte, und brauchte trotzdem seinen gemütlichen Sessel nicht zu verlassen. Das elterliche Schlafzimmer, das jetzt sein alleiniges war, hatten sie vom ersten Stock ins Parterre verlegt und daneben noch ein Bad einbauen lassen, was Hinrich das beschwerliche Treppensteigen ersparte. Und der erste Stock war Hildes Reich. Es war mehr als genug Platz für ihr Schlafzimmer und ihren ›Salon‹, wie sie es nannte, wo eine Biedermeiergarnitur und ihr Schreibtisch standen, ihre Bücher und ihre Musikanlage. Außerdem gab es hier oben noch ein Gästezimmer und eine Wäschekammer. Sie hatte ihr eigenes Badezimmer, und unter den schrägen Wänden des alten Reetdaches war es im Winter gemütlich warm und im Sommer angenehm kühl.

Hilde fettete die Puddingform, kleidete sie mit Semmelmehl aus und gab großzügig den in Scheiben geschnittenen Speck hinein. Dann griff sie nach dem Topf mit dem Grießteig. Wie so oft beim Kochen wollten ihre Gedanken nicht ruhen. Sie dachte dabei gern über alles Mögliche nach, und gerade in diesen letzten Wochen war vieles passiert. Vieles, das schön war für sie. Aber warum musste auf etwas Schönes immer gleich wieder etwas Trauriges folgen, fragte sie sich.

 

Sie stellte die Puddingform in einem großen, mit Wasser gefüllten Topf auf den Herd und machte die Flamme an. Vom ersten Moment, als sie hierher zurückgekommen war, hatte sie sich auf Güldenbrook richtig zu Hause gefühlt, war zufrieden, ihre Tage waren ausgefüllt mit Arbeit im Haus, im Garten, manchmal half sie im Hofladen – es gab immer irgendetwas zu tun. Dass sie sich noch einmal verlieben würde, damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet, nicht einmal theoretisch darüber nachgedacht. Eigentlich hatte sie nach der Trennung von Paul mit dem Thema Liebe für sich abgeschlossen. Ihr gefiel ihre Unabhängigkeit, ihr neues Leben, sie vermisste nichts. In diesem Jahr wurde sie 60, lebte mit ihrem alten Vater hier auf dem Lande – wo in Dreiteufelsnamen sollte sie da auch jemanden kennenlernen? Und dann war es doch passiert. Letztes Silvester.

Es klingelte. Der Kater hob den Kopf, und Hinrich schrak kurz zusammen. Sein Schnarchen stolperte, doch er hatte sogleich seinen alten Rhythmus wiedergefunden. Als Hilde durch den Flur zur Haustür ging, sah sie durch die Scheibe zwei Männer im Windfang stehen, und sie konnte sich schon denken, weshalb sie kamen. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und öffnete. Der große, dunkle mit den lockigen Haaren stellte sich und seinen Begleiter, einen Typ mit Allerweltsgesicht in Jeans und Lederjacke, kurz vor, und wie erwartet waren sie von der Polizei.

»Ich würde Sie ja gern hereinbitten, aber mein Vater macht gerade seinen Mittagsschlaf …« Nervös sah sich Hilde nach hinten um.

»Das ist kein Problem. Wir haben nur ein paar kurze Fragen, Frau Dierksen. Sie wissen, was passiert ist, dass Herr von Güldenbrook …?«, fragte der Dunkelhaarige ernst. Sie nickte. Er sah ganz sympathisch aus. Hilde schätzte ihn so um die 40, sein Kollege war bestimmt ein paar Jahre jünger. Mit seinen kurz geschorenen Haaren hatte er etwas Freches, Jungenhaftes. Einen seriösen Polizeibeamten hatte sie sich eigentlich anders vorgestellt. So wie den Älteren allerdings auch nicht.

»Hilde!«

»Ja, Vadder, ich komme gleich!«

Jetzt war er also doch wach geworden. Wahrscheinlich hatte er die Stimmen auf dem Flur gehört. Seine Ohren waren erstaunlich gut für sein Alter. Nun müsste sie den Beamten erklären, warum sie überhaupt nicht wollte, dass ihr Vater etwas von Christians Tod erfahren sollte, jedenfalls nicht jetzt. Doch es war zu spät. Die Tür zur Stube öffnete sich, der Kater marschierte auf die Besucher zu, und dahinter erschien Hinrichs Gestalt.

»Hilde, mit wem sprichst du? Warum steht ihr da in der Kälte? Bitte die Herrschaften doch herein!«

Hinrich hatte nicht nur gute Ohren, er wollte auch immer Bescheid wissen, was vor sich ging. Nun ließ es sich nicht mehr ändern.

»Vadder, es ist etwas passiert. Die Herren sind von der Polizei«, sagte Hilde, während sie die Beamten eintreten ließ. »Komm, wir setzen uns am besten erst mal.«

Sie führte den alten Mann in die Stube, wobei er ihr einen erschrockenen Blick zuwarf. Der Kater folgte mit hoch aufgestelltem Schwanz und sprang elegant auf Hinrichs Lehnstuhl.

»Hilde, was ist denn geschehen?«, fragte der alte Mann ein wenig atemlos, als sie alle um den Esstisch Platz genommen hatten.

»Ich wollte dir das eigentlich schonender beibringen, Vadder«, Hilde seufzte und nahm seine beiden Hände. »Der Christian ist tot.«

»Was?«

Hinrich sah seine Tochter ungläubig an.

»Hatte er einen Unfall? Was ist passiert?«

»Er ist ermordet worden.«

»Um Gottes willen!«

Er bemühte sich sichtlich um Haltung. Doch er quetschte plötzlich Hildes Hände, dass es schmerzte. Sein Atem ging stoßweise.

»Wer hat das getan?«

»Das versuchen wir herauszufinden, Herr Dierksen«, sagte der Beamte mit Namen Angermüller schnell. »Die Tat ist gestern Abend oder gestern Nacht verübt worden, Genaueres wissen wir noch nicht, aber vielleicht können Sie uns sagen, ob Sie irgendwelche Beobachtungen gemacht haben, ob Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen ist?«

Er ist bestimmt kein Norddeutscher, so wie er spricht, dieser Kommissar, dachte Hilde.

»Gestern Morgen waren wir beim Arzt und zum Einkaufen in Oldenburg, dort haben wir auch eine Kleinigkeit zu Mittag gegessen. Danach waren Vater und ich den ganzen Nachmittag zu Hause. Es war ruhig auf dem Gut. Ich habe niemand Fremden gesehen, auch keinen Lärm gehört oder so. Also, ich wüsste nicht, dass hier gestern etwas anders gewesen wäre als sonst. Du Vadder?«

Hinrich Dierksen schüttelte den Kopf. Die erstaunliche Vitalität, die er für sein Alter ausstrahlte, schien ihn plötzlich verlassen zu haben.

»Ich mag das gar nicht glauben. Der Herr Graf tot. Ermordet.«

In sich zusammengesunken, saß der alte Mann auf seinem Stuhl. Er hatte Christian von Güldenbrook nie anders genannt als den ›Herrn Grafen‹. In der dritten Generation seiner Familie hatte Hinrich Dierksen das Amt des Verwalters auf Güldenbrook innegehabt, erst bei Christians Vater, dann bei Christian selbst, bevor er vor über 20 Jahren in Rente ging. Einen Nachfolger brauchte man nicht, denn das Land war mittlerweile verpachtet und Gut Güldenbrook kein großer landwirtschaftlicher Betrieb mehr.

»Wer tut so was?«, fragte er wieder.

Ratlos sah er von einem zum andern. Mit dem Handrücken versuchte er, den Tränenfluss aus seinen Augen einzudämmen. Er räusperte sich.

»Wie meine Tochter schon sagte, wir beide waren ab dem frühen Nachmittag hier, und dann, so bei 20 Uhr rum, kam der Herr Lebouton zu uns zum Essen. Für mich ist das ja man ein bisschen spät für das Abendbrot, aber wenn Gäste kommen, muss man auch mal zurückstecken.«

Liebevoll sah Hilde ihren Vater an. Wie er sich klaglos allen möglichen Gepflogenheiten anpasste und sich nie beschwerte oder meckerte, war wirklich erstaunlich. Von anderen wusste sie, dass die alten Leute oft sehr starrköpfig und nicht bereit waren, auch nur einen Deut von ihren alt eingefahrenen Gewohnheiten abzuweichen und jede Veränderung als ›modernen Kram‹ abkanzelten.

»Wie lange war der Herr Lebouton denn bei Ihnen?«

»So von 20 bis 22 Uhr etwa, würde ich sagen. Ich bin dann gleich zu Bett gegangen«, sagte er, »und meine Tochter hat noch in der Küche klar Schiff gemacht. Ich bin ihr da leider keine große Hilfe.«

»Du weißt doch, ich bin in meinem Reich sowieso lieber allein, Vadder«, lächelte Hilde, obwohl ihr nicht danach zumute war. Sie hatte nicht nur den Tisch abgedeckt und die Küche aufgeräumt, sie hatte danach auch noch Besuch empfangen. Doch davon wusste ihr Vater nichts. Sie wollte auch nicht, dass er es erfuhr – jedenfalls nicht jetzt und nicht so. Das war im Grunde idiotisch. Sie war mehr als erwachsen und hatte niemandem Rechenschaft abzulegen über ihre privaten Beziehungen, doch sie war sich auch noch nicht ganz sicher, was sich aus dieser Liaison entwickeln würde. Es war alles noch so neu und so aufregend. Ein kurzer, angenehmer Schauer lief ihr über den Rücken. Gerade mal erst sechs Wochen waren seit Silvester vergangen.

»Was ist Pierre Lebouton für ein Mensch? Sie kennen ihn gut?«

»Nee, das würd ich man nich so sagen«, Hinrich Dierksen schüttelte den Kopf. »Wir sind zwar Nachbarn seit langen Jahren, aber Herr Lebouton ist viel unterwegs, und wenn er hier ist, hat er auch meistens gut zu tun. Erst seit die Hilde und ich allein sind, kommt er hin und wieder mal zum Essen zu uns. Meine Tochter ist eine sehr gute Köchin, wissen Sie.«

Hilde wehrte ab.

»Na ja, ich koche ganz gern, und Pierre ist von Berufs wegen an allen Küchen interessiert, auch an der schleswig-holsteinischen Landesküche, und die kann er hier bei uns studieren.«

Das Geräusch kochenden Wassers kam vom Herd herüber und dann hörte man kurze, dumpfe Schläge.

»Entschuldigung!«

Hilde sprang auf, lief zum Herd, nahm den Deckel vom Topf, in dem die Puddingform tanzte, und stellte die Flamme kleiner.

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