Kullmann ermittelt in Schriftstellerkreisen

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Z serii: Kullmann-Reihe #8
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Erik fing das Kissen und schleuderte es zurück.

»Außerdem gab es noch einen Schlüssel am Fundort. Vielleicht sollte das eine Einladung des Täters sein, ihn zu verhaften«, trieb er den Spott weiter.

»Stimmt! Jetzt ziehen wir von Haus zu Haus und probieren den Schlüssel aus.«

»Goethe war gut!«, feixte Erik.

»Jetzt fällt mir wieder ein, dass im Jahr 2002 ein großes Unheil aus Köln zu uns gekommen ist«, neckte Anke ihren Kollegen und warf ihm das Kissen zurück. Diesmal traf sie.

Erik nahm es aus seinem Gesicht und legte es hinter seinen Kopf.

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, murmelte er, wobei er sein Grinsen unterdrückte.

Teil IV
Frühling 2001

Stockfinstere Nacht. Von Panik erfasst rannte sie um ihr Leben, sah nicht, wo sie hintrat, lief immer nur weiter in der Hoffnung, ihrem Verfolger zu entkommen. Unter ihren Füßen spürte sie, dass der Boden weicher wurde. Sie hatte den Weg verlassen, ohne es zu bemerken. Wieder nahm sie in den Augenwinkeln den Lichtkegel einer Taschenlampe wahr. Er holte sie ein. Plötzlich glaubte sie, jemand riss ihr den Boden unter den Füßen weg. Mit einem heftigen Aufprall landete sie im Sand, der ihr in den Mund drang. Sie wollte schreien, bekam keinen Ton heraus – wollte sich aufrappeln, wurde jedoch von einem schweren Gewicht heruntergedrückt.

»Du entkommst mir nicht«, hörte sie eine bedrohliche Stimme. »Keine Frau entkommt mir. Ich bin euch allen überlegen!«

Während er sprach, gelang es ihr, sich aus seinem Griff zu befreien. Has­tig sprang sie auf und rannte weiter. Aber die Dunkelheit machte es ihr unmöglich auszumachen, wo sie hinlaufen sollte. Da spürte sie wieder das Licht der Taschenlampe. Ohne es zu wollen, zeigte ihr der Verfolger damit den Weg. Sie erkannte die Mauersteine, die die Umrisse der alten römischen Villa aufzeigten, konnte über jeden Vorsprung springen, ohne zu stolpern. Sie gelangte an den überdachten Bau, der die Heizkammern der alten, römischen Fußbodenheizung zeigte. Dort wollte sie sich verstecken, weil das der einzige Ort war, der sich dazu eignete. Sie duckte sich, bevor der Schein der Taschenlampe sie erfasste. Hoffentlich war sie schnell genug!

Die Zuschauer hielten den Atem an.

Ein Besucher spazierte durch den Europäischen Kulturpark in Bliesbrück-Reinheim. Sein Interesse galt ganz besonders der altrömischen Fußbodenheizung, auf die die Archäologen bei ihren Ausgrabungen gestoßen waren.

Zunächst stieß ihn der unangenehme Geruch ab. Er beschloss, ihn zu ignorieren, weil ihn das Heizungssystem aus der Antike faszinierte. Doch der Geruch wurde immer beißender, bis er plötzlich auf eine halb verweste Frauenleiche stieß.

Er traute seinen Augen nicht. Das Summen von Fliegen und die schlängelnden Bewegungen tausender von Maden ließen keinen Zweifel daran: Diese Frau lag nicht seit über tausend Jahren an dieser Stelle, sondern erst seit wenigen Tagen!

*

Ingo Landrys Stimme schallte geisterhaft durch die Nacht. Wind frischte auf, was noch mehr Grauen in die Gemüter der Zuschauer trieb. Er schaute auf, sah nur kreideweiße, angstverzerrte Gesichter. Niemand bemerkte, wie spät es bereits war. Zum Glück hatte das Wetter mitgespielt, worauf man sich im März nicht immer verlassen konnte. Ein Regenschauer während seiner Lesung auf einer Freilichtbühne hätte seine Veranstaltung verdorben.

Den Ort seiner Buchvorstellung verdankte er seinem Freund Matthias Hobelt – dem er so manches verdankte, was die Entstehung dieses Buches betraf. Die Naturbühne in Gräfinthal als Ambiente für seine persönliche Veranstaltung war überwältigend. Die Wirkung seiner Einladung ebenso, denn die Anzahl der Besucher übertraf seine kühnsten Vorstellungen. Es waren so viele, dass er sie nicht mehr zählen konnte.

Die Stille, die abrupt nach seinem gruseligen Vortrag herrschte, unterstrich den Schauder noch. Die Menschen machten auf ihn den Eindruck, als wollten sie den Augenblick auskosten.

Kaum war der Zauber vorbei, da eroberte eine große, schlanke Frau die Bühne, übernahm das Mikrofon und begann zu sprechen: »Ich bin die Literaturagentin unseres Krimiautors Ingo Landry. Mein Name ist Sonja Fries. Wie ich sehe, hat Ingo Landrys Vortrag Sie gefesselt. Ihr Interesse ist geweckt. Sie können gerne Fragen an den Autor richten. Und wenn Sie erfahren wollen, wie diese spannende Geschichte weitergeht, können Sie das Buch »Emanzipation des Mannes« kaufen. Da steht alles drin.«

*

Damit brachte sie die Zuschauer zum Rasen. Sie stürmten zum Autor auf die Bühne, bombardierten ihn mit Fragen und kauften sein Buch mit großer Begeisterung alle wollten wissen, wie es in seinem Krimi Emanzipation des Mannes weiterging.

»Haben Sie schon ein neues Buch in Planung?«, fragte ein Besucher.

»Nein«, antwortete Ingo, wobei ihn die Sorge beschäftigte, dass er keine Idee für ein weiteres Buch hatte. Er musste alles auf diese eine Karte setzen.

»Wie sind Sie auf so eine spannende Idee gekommen?«, fragte ein anderer.

Nun musste Ingo sich bemühen, einen Schweißausbruch zu unterdrücken. Betont lässig antwortete er: »Bei einem Besuch des Europaparks in Bliesbrück-Reinheim kam mir die Idee.«

»Mussten Sie viel recherchieren, um dieses Buch zu schreiben?«

»Ein wenig.« Ingo grinste dämlich, weil er im Grunde genommen überhaupt nicht nachgeforscht hatte.

»Glauben Sie, dass Sie auf die Bestsellerliste kommen?«

»Ich hoffe es«, antwortete Ingo im Brustton der Überzeugung.

»Haben Sie eine Idee, wie Sie das Ziel erreichen könnten?«, fragte der Besucher weiter.

»Ich weiß genau, was ich dafür tun muss.«

Damit war die Veranstaltung beendet, alle Bücher verkauft.

Nachdem der Besucherstrom abgerissen und Stille auf der großen Bühne eingekehrt war, blieb Ingo Landry noch eine Weile ganz allein dort sitzen und ließ die schönen Erinnerungen an sich vorüberziehen. Es war ein Gefühl der Bewunderung, das er gerade erlebt hatte – ein Gefühl, das süchtig machen konnte. Ein Bick auf seine Literaturagentin Sonja Fries gab ihm die Gewissheit, dass ihm mit dieser Frau noch viel mehr gelingen konnte. Sie war eine aufregende Erscheinung, die ihn an alle Sünden erinnerte, die er noch nicht begangen hatte. Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht.

Doch es sah gerade nicht so aus, als hätte er heute eine Chance bei ihr. Mit einem lasziven Kussmund verabschiedete sie sich und fort war sie. Ingo verzog sein Gesicht grimmig. Diese Frau wusste genau, wie sie ihn auf Hochtouren brachte. Sie ließ ihn zappeln. Und zwar aus purer Berechnung, damit er bei ihrem nächsten Stelldichein umso leidenschaftlicher war.

Er schnaufte – bemühte sich, an etwas anderes zu denken. Sein Blick fiel auf Matthias Hobelt, der geduldig auf ihn wartete. Zusammen machten sie sich auf den Weg zum Parkplatz. Erst jetzt bemerkte er den Temperatursturz. Während er vorgelesen hatte, war er so ins Schwitzen geraten, dass ihm das nicht aufgefallen war. Den Zuschauern wohl auch nicht, denn niemand von ihnen hatte es eilig gehabt, niemand wollte vorzeitig die Veranstaltung verlassen.

Am Auto angekommen schauten sich die beiden Männer an und lachten. Matthias Hobelt legte den Arm um seinen Freund, den Krimiautor: »Habe ich dir nicht gesagt, dass mit deiner Schreibkunst Geld zu verdienen ist?«

»Doch!«

»Es war geschickt, meine Beziehungen spielen zu lassen, damit du hier lesen kannst«, sprach Matthias weiter. »Es ist immer gut, wenn man Freunde hat. Seit ich hier ehrenamtlich arbeite, habe ich diesen Traum gehegt – nun ist er wahr geworden.«

»Ich bin froh, einen Freund wie dich zu haben«, gestand Ingo, wobei er sich bemühte, sehr überzeugend zu klingen.

»Ich hoffe, dir ist klar, dass wir den Gewinn teilen«, fügte Matthias an. »Ich kann den Zaster nämlich gut gebrauchen.«

»Klar, Junge! Habe ich dich jemals betrogen?«

»Nein! Ich rate dir auch, es niemals zu tun«, gab Matthias unmissverständlich zu verstehen.

»Du benimmst dich schon wie die Bösewichte in meinem Krimi.« Ingo fühlte sich aus seiner Schwärmerei gerissen.

»Das fällt mir leicht, wie du dir wohl denken kannst. Schließlich habe ich die kriminellen Charaktere entworfen.«

»Hast du sie wirklich nur entworfen?«, fragte Ingo, schlagartig ernüchtert.

Sibylle Kriebig und ihre Freundin Antonia Welsch saßen unter den Zuschauern. Während die Menschenmassen sich in den Bann der Erzählungen ziehen ließen, spürte Sibylle mit jedem vorgelesenen Wort größere Unbehaglichkeit. Es dauerte eine Weile, bis Antonia Sibylles Erregung registrierte. Sie fragte im Flüsterton: »Was ist los mit dir?«

Sibylle murrte: »Das ist ein Plagiat!«

»Pst! Nicht so vorschnell mit deinen Behauptungen«, bremste Antonia Sibylles Erregung.

»Wenn ich es dir sage«, beharrte Sibylle, doch Antonia ließ sie nicht weiter sprechen.

*

Geduldig lauschten sie dem Rest der Lesung. Als die Literaturagentin Sonja Fries die Bühne betrat, flüsterte Antonia ganz aufgeregt: »Die kenne ich.«

»Woher?«

»Sonja hatte großes Interesse daran, dein Buch zu vermarkten«, antwortete Antonia. »Aber du hast ja mich.«

»Davon weiß ich ja gar nichts.«

»Ich habe meinen Job verteidigt«, fügte Antonia grinsend an.

Als die Zuschauer auf die Bühne zusteuerten, um den Buchautor zu feiern, wurde es Sibylle zu bunt. Sie steuerte die entgegengesetzte Richtung an. Im Eilschritt verließ sie die große Tribüne der Freilichtbühne.

»Kannst du dich noch an die beiden Männer erinnern, die ganz zum Abschluss meiner Lesung in Saarlouis mein Buch gekauft hatten?«, fragte Sibylle, während sie ihr Auto in der Dunkelheit auf dem Schotterparkplatz suchte.

 

Antonia überlegte eine Weile, konnte aber nur den Kopf schütteln.

»Einer von beiden hieß Ingo Landry.«

»Warum ärgert dich das? Du willst doch, dass die Leute deine Veranstaltung besuchen und dein Buch kaufen.«

»Bist du so begriffsstutzig oder tust du nur so?« Sibylle wurde ungehalten. »Sein Kumpel hat mich ausgefragt, wie ich auf die Idee gekommen bin und solche Sachen. Der kleine Zwerg, der mir damals schon unheimlich vorkam, war heute auch dabei. Also hatten sich die beiden schon damals den Plan zurechtgelegt. Sie haben mein Buch gelesen und siehe da, schon war alles da: Ingo Landry brauchte nur meine Idee zu übernehmen, einige Namen zu ändern und das Ganze als Produkt seiner Fantasie zu verkaufen.«

Antonia wehrte ab: »Was ich hier gehört habe, ist für mich nur der Beweis dafür, dass er einen Krimi schreibt, in dem ein Mord vorkommt und Spannung und so. Alles andere spinnst du dir zusammen.«

Wütend entgegnete Sibylle: »Vielleicht wollte auch Sonja Fries die Idee klauen. Und du willst deiner Kollegin nicht in den Rücken fallen.«

»Ich glaube, jetzt gehst du zu weit.«

Sibylle stieg in ihren Wagen und bemerkte: »Stimmt! Entschuldige bitte! Zuerst werde ich das Buch wohl oder übel lesen müssen, bevor ich Anschuldigungen erhebe.«

»Willst du dir das wirklich antun?«

»Ja!«

»Du ärgerst dich jetzt schon. Also wird es eine Zerreißprobe für deine Nerven werden, dieses Buch zu lesen.«

Kapitel 11

Der Konferenzsaal füllte sich. Angenehmer Kaffeeduft zog herein. Das leise Gemurmel und Tassenklirren verstummte, Ruhe kehrte ein. Genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür und gab den Blick auf die Staatsanwältin Ann-Kathrin Reichert frei. Alle starrten sie an. Fürstlicher konnte ihr Auftritt nicht sein. Ihre giftgrünen Augen wanderten über die Kollegen, bis sie bei Jürgen Schnur aufblitzten. Sie steuerte ihn an.

Der Stuhl neben Schnur wurde sofort frei gemacht. Der Dienststellenleiter wartete, bis sie Platz genommen hatte. Dabei bemühte er sich, nicht auf die Staatsanwältin zu schauen, was ihm schlecht gelang. Sie trug ihre feuerroten Haare offen. Ihr sommersprossiges Gesicht wirkte schelmisch. Die Bluse zeigte ein offenherziges Dekolleté.

Alle warteten. Die Spannung stieg an. Plötzlich ertönte in voller Lautstärke Je t‘aime ... moi non plus, das französische Liebeslied von Jane Birkin und Serge Gainsbourg.

Schnurs Gesicht färbte sich dunkelrot. Hastig zerrte er an der Brusttasche seines Hemdes und zog sein Handy heraus.

»Scheiße«, murmelte er. »Wenn ich meinen Sohn in die Finger kriege, erschlage ich ihn.«

Brüllendes Gelächter brach aus. Schnur meldete sich, aber niemand interessierte sich dafür, wer der Anrufer war. Die Stimmung war zu ausgelassen. Als er auflegte, verstummten alle und schauten ihn erwartungsvoll an.

»Unsere Sekretärin bringt die Unterlagen des forensischen Anthropologen«, erklärte er.

Kaum hatte er ausgesprochen, betrat eine füllige Dame mit grellbunten Kleidern und starkem Make-up den Besprechungsraum. Sie legte jedem Polizeibeamten eine Kopie auf den Tisch und eilte wieder hinaus.

»Hier steht, dass es sich bei dem Skelett um ein männliches Opfer handelt«, begann Schnur. »Es genügt, wenn Sie den Bericht später lesen.«

Alle Augen richteten sich auf ihn. Ihre Belustigung stand immer noch in ihren Gesichtern.

»Theo Barthels hat einige Fundstücke untersucht, die in der Nähe des Skeletts lagen«, sprach Schnur weiter, wobei er sich bemühte, seinen Ärger über die aufgeheiterten Mienen nicht zu zeigen. »Theo, bitte erklär uns, was in deinem Bericht steht!«

Der Angesprochene erhob sich mit einem Bündel Papiere in der Hand. Sein Anzug sah so aus, als sei er schon mehrmals getragen worden, weshalb er eher gemütlich als elegant wirkte. Seine Haare waren mit vielen grauen Strähnen durchzogen, seine buschigen Augenbrauen dagegen behielten ihre dunkle Farbe, was ihm schon bei einigen Kollegen den Spitznamen Theo Waigel eingebracht hatte.

Mit fester Stimme begann er zu sprechen: »Die Untersuchungen an der Gürtelschnalle ergaben keine Hinweise auf einen früheren Besitzer. Eine Herstellerfirma ist nicht mehr darauf abzulesen, da die Schnalle zu stark verrostet ist. Der Eigentümer ist leider nur durch Zeugenbefragungen zu ermitteln.« Er atmete kurz durch und setzte seinen Bericht fort: »Auf dem Schlüssel, der neben dem Skelett lag, ist keinerlei Nummer zu erkennen, sodass wir darüber auch nichts herausfinden können. Entweder hat der Rost alle Hinweise aufgefressen oder aber es gibt keine Nummer, weil der Schlüssel nachgemacht wurde. Weiterhin haben wir die Fundstelle untersucht, nachdem Anke Deister dort verdächtige Bewegungen beobachtet hat. Bei der Untersuchung konnten wir keine Spuren herausfiltern. Durch die lange Trockenheit ist der Boden zu hart und hinterlässt keine Abdrücke. Tut mir leid, dass ich keine besseren Ergebnisse vorlegen kann.«

»Können wir von einem Verbrechen ausgehen?«, fragte Ann-Kathrin Reichert.

»Der Anthropologe Dr. Kehl stellte am Skelett fest, dass das Zungenbein gebrochen ist. Außerdem wurden Ober – und Unterkiefer bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert«, antwortete Schnur. »Leider ist nicht festzustellen, ob die Zertrümmerung vor oder nach dem Tod stattfand.«

»Nach den von Ihnen zusammengetragenen Fakten handelt es sich also um ein Tötungsdelikt.«

»Deshalb kommen wir nicht umhin, den Fall zu bearbeiten.«

Alle nickten.

»Die Medien haben schon fleißig berichtet. Sie stellen diese Tat als Anschlag auf das Biosphärenreservat hin. Können wir dem etwas entgegensetzen?«

»Ja, die Leichenliegezeit. Der Tote ist nach Dr. Kehls Berechnungen seit mindestens fünf Jahren tot.« Dabei wies Schnur auf den Bericht des forensischen Anthropologen.

»Die Öffentlichkeit hat ein großes Interesse an dem Fall. Ich gehe davon aus, dass Sie mit der Situation fertig werden«, merkte die Staatsanwältin an. Damit hatte sie die Sympathien sämtlicher Männer der Abteilung gewonnen. Die Bewunderung, die bereits für sie gehegt wurde, stieg noch weiter an; eine gehörige Portion Respekt mischte sich darunter.

Den letzten Satz hatte Schnur als Aufforderung aufgefasst, nun sein weiteres Vorgehen zu besprechen. Er richtete seine Frage an seine Mitarbeiter: »Habt ihr Übereinstimmungen von vermisst gemeldeten Personen gefunden?«

Bernhard Diez antwortete: »Ein Mann wurde in Ormesheim vermisst gemeldet. Die Übereinstimmungen sind folgende: Der Mann war zum Zeitpunkt des Verschwindens achtunddreißig Jahre alt und lebte in der Nähe des Fundortes. Sein Name ist Ingo Landry.«

»Gute Arbeit. Das ging wirklich schnell!«

»Anke hat mir einen Tipp gegeben«, gab Bernhard zu.

Schnur schaute Anke fragend an, die daraufhin erklärte: »Kullmann hat mich auf einen ungelösten Fall aus seiner aktiven Dienstzeit hingewiesen. Die Tatsache, dass der Tote in Ormesheim gefunden wurde, erinnerte ihn daran, dass damals Ingo Landry als vermisst gemeldet worden war.«

»Das ist interessant«, staunte Schnur. »Warum kann ich mich nicht daran erinnern?«

»Ich war damals auf einer kriminalpsychologischen Schulung«, brachte Anke schnell ihre eigene Entschuldigung vor. »Das war im September 2001.«

»Zu dem Zeitpunkt war ich mit meiner Familie in einem langen Urlaub.« Schnur war es mit der Angabe des Datums wieder eingefallen. »Wir waren sechs Wochen auf einer Safari.«

Amüsiertes Geraune ging durch die Runde.

»Sind Sie Großwildjäger?«, fragte Ann-Kathrin Reichert, wobei sie Mühe hatte, ernst dreinzublicken.

»Ich musste mir damals etwas einfallen lassen, was meine Kinder reizte, zusammen mit ihren Eltern in Urlaub zu fahren.«

»Und? Haben Sie dort das Jagen gelernt?«

»Nein! Mir taten die Elefanten leid – ich hätte niemals einen erschießen können.«

»Das spricht für Sie.« Die Staatsanwältin nickte anerkennend.

»Gibt es etwas, was die Identität Ingo Landrys bestätigt?«, richtete Schnur seine nächste Frage an Bernhard.

»Ja, Ingo Landry passt von seinem Alter her, vom Zeitpunkt des Verschwindens – außerdem hatte er sich vor etwa zwanzig Jahren bei einem Autounfall den linken Oberarm gebrochen. Eine zusammengeheilte Fraktur an der gleichen Stelle fand Dr. Kehl am Skelett.«

»Wo wohnte Ingo Landry bis zu seinem Verschwinden?«

»In Ormesheim, in der Adenauerstraße.«

»Wir werden überprüfen müssen, ob der Schlüssel, der bei der Leiche lag, zu dem Haus passt«, bestimmte Schnur. »Außerdem übergibst du Dr. Kehl das Untersuchungsmaterial zu Ingo Landry, damit er den genetischen Vergleich machen kann!«

Bernhard nickte.

Grewe räusperte sich und verkündete: »Ich habe mich über Ingo Landry bereits informiert.«

»Was kam dabei heraus?«

»Er hat einen Kriminalroman geschrieben, der im Saarland veröffentlicht wurde.«

»Hat er darin schon mal die Rolle des Opfers geübt?« Schnurs Tonfall klang sarkastisch.

»Könnte sein«, gab Anton Grewe zurück.

»Jetzt hast du mich am Haken. Los, erzähl schon! Gibt es darin etwas Wichtiges für uns?«

»In seinem Buch werden mehrere Frauen erwürgt und im Europäischen Kulturpark in Bliesbrück-Reinheim halb vergraben aufgefunden. Darin beschreibt er das Stadium der Verwesung sehr detailliert.«

Kurzes Schweigen trat ein, das Schnur mit seiner nächsten Bemerkung unterbrach: »Ich habe den Krimi Ich töte von Giorgio Faletti gelesen. Darin wird den Opfern die Gesichtshaut abgezogen. Soweit ich informiert bin, hat Giorgio Faletti seine noch.«

»Trotzdem klingt Grewes Beobachtung interessant«, meldete sich Anke. »Das erinnert mich daran, in welchem Zustand das Opfer war, das ich gefunden habe.«

Schnur rieb sich über sein rasiertes Kinn, nickte und meinte: »Du glaubst also, dass es Parallelen gibt?«

»Genau das! Unser Toter wurde erwürgt. Ich fand ihn im Zustand völliger Verwesung halb vergraben im Wald. Das könnte doch bedeuten, dass einer seiner Leser seine eigene Mordmethode an ihm praktizierte.«

Allgemeines Staunen ging durch den Raum.

»Also müssen wir nur herausfinden, wer das Buch gelesen hat«, schlussfolgerte Bernhard schnippisch. »Eigentlich ganz einfach.«

»Du bist hier der geschulte Kriminalpsychologe«, erinnerte Schnur den vorlauten Mitarbeiter an seine erst kürzlich absolvierte Schulung. »Also kannst du den Täterkreis eingrenzen.«

Bernhard schluckte.

»Wie sieht es mit einem Motiv aus?« Die Frage richtete Schnur an Grewe. »Hat der Täter in seinem Buch ein Motiv, die Frauen zu töten und wäre es mit seinem eigenen Tod in Verbindung zu bringen?«

»Er schreibt von Frauen, die versuchen, die Männer in der Gesellschaft lächerlich zu machen. Der Mörder entwickelt einen ausgeprägten Frauenhass.«

»Das erinnert mich an etwas«, überlegte die Staatsanwältin.

Alle horchten auf. Eine Weile schaute sie nachdenklich in ihre Kaffeetasse, bis sie den roten Lockenkopf schüttelte und meinte: »Ich komme nicht dahinter. Sprechen Sie nur weiter, ich höre Ihnen zu!«

Schnur übernahm wieder das Wort: »Sollte es sich wirklich um eine Kopie der Handlung aus dem Krimi von Ingo Landry handeln, müssen wir in Erfahrung bringen, wer das Buch verlegt hat und wer mit Ingo Landry daran gearbeitet hat. Vielleicht bringt uns das weiter.«

»Ich kann mich darum kümmern«, meldete sich Bernhard Diez.

Schnur nickte und sprach Anke an: »Du wirst den Krimi unseres verstorbenen Autors ebenfalls lesen. Vielleicht kannst du noch andere Details darin erkennen!«

Anke stimmte verdrossen zu. Erik grinste Anke hämisch an. Weiter kam er nicht, denn da sprach Schnur ihn direkt an: »Du wirst zusammen mit Anton Grewe nach Ormesheim fahren, um den Schlüssel zu überprüfen. Sollte er tatsächlich passen, gibst du mir sofort Bescheid und beginnst unverzüglich mit einer Befragung der Leute im Dorf. Ich will so viel wie möglich über unser Opfer erfahren – was für ein Mensch er war, welche Interessen er hatte, mit wem er Kontakt hatte. Du weißt schon.«

Nun war es an Anke, Erik anzugrinsen.

Nach der Besprechung verließen alle murmelnd den Raum.

Anke wollte gerade die Tür zu ihrem Zimmer schließen, als sich Erik hastig hineinzwängte und fragte: »Hättest du Lust, mich nach Ormes­heim zu begleiten? Das Buch kannst du auch während der Fahrt lesen.«

 

»Da verlangst du ganz schön viel von mir«, gab Anke zu bedenken.

Erik schaute seine Kollegin eindringlich an.

»Ich gehe nur unter einer Bedingung auf deinen Vorschlag ein!«

»Alles, was du willst!«

»Ihr bringt mich an den Stall zu Rondo! Ich muss sein Bein neu verbinden. Und kein Wort zu Jürgen Schnur!«

»Deine Bedingung in allen Ehren. Wir werden uns mit dir gemeinsam auf unerlaubtes Gebiet vorwagen.«