Kullmann ermittelt in Schriftstellerkreisen

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Z serii: Kullmann-Reihe #8
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Kapitel 4

Anke stellte ihren Wagen auf dem kleinen Parkplatz vor dem Appartementhaus ab, in dem sie wohnte. Sie durchquerte das Parterre, verließ es durch die Hintertür wieder und steuerte den schmalen Pfad an, der sie zur Rückseite von Kullmanns Haus führte. Jedes Mal, wenn sie diesen Weg zu ihrem ehemaligen Chef und Mentor zurücklegte, erfreute sie sich daran, wie geschickt sie ihre Lebenssituation hatte einrichten können. Als alleinerziehende Mutter, die ihrer Arbeit als Kriminalbeamtin nachgehen wollte, war Kinderbetreuung unumgänglich. Und wer war dafür besser geeignet, als der ehemalige Chef, dem sie mehr vertraute als jedem anderen Menschen in ihrem Leben.

Schon von weitem hörte sie Lisas Lachen. Es ging ihr gut. Was gab es schöneres für Anke, als ihre Tochter glücklich zu wissen.

Als Lisa ihre Mutter sah, kam sie so schnell sie konnte auf sie zugelaufen. Überglücklich nahm Anke ihre Tochter in die Arme und trug sie zur Terrasse, wo Kullmann und seine Frau Martha beim Abendbrot saßen.

»Warst du bei Rondo?«, fragte Lisa immer wieder.

»Ja, ich war bei Rondo«, erklärte Anke und hüpfte mit ihrem Kind im Arm durch den Garten, als sei sie ein Pferd.

»Ich will Rondo reiten«, stellte Lisa ihre Forderung klar.

Als Anke nicht reagierte, wurde sie ungeduldig.

»Reiten! Reiten! Reiten!«, rief Lisa. »Wann darf ich auch mal?«

»Morgen«, überlegte Anke, ein Entschluss, den sie schon bereute, kaum dass sie ihn ausgesprochen hatte.

»Ist das nicht zu gefährlich?«, fragte Martha besorgt.

»Ach was! Lisa kann doch schon auf dem Pony ihrer Freundin reiten. Und Rondo ist viel braver als das Pony.« Anke bemühte sich um ein entspanntes Lächeln.

»Aber auch viel größer!«, sprach Martha genau das aus, was Anke beschäftigte.

Sie setzte ihre Tochter auf dem Boden ab.

Froh gelaunt hüpfte die Kleine durch den Garten. Inmitten der Grünanlage stand die große Schaukel, die Kullmann im Schweiße seines

Angesichts aufgebaut hatte, als Lisa noch in den Windeln gelegen hatte. Sie setzte sich auf einen der Hängesitze und wippte mit Schwung hin und her. Das war ein wirksames Mittel für Lisa, ihren Übermut zu bändigen. Kullmanns Wunderwerk war anfangs auf größte Skepsis gestoßen; heute verging kein Tag, ohne dass Lisa daran schaukelte.

Anke schaute ihrer Tochter zu, wie sie die Schaukel verließ und sich eine neue Beschäftigung suchte. Mit ihrer neuen Jeans, die den Schnitt einer Caprihose hatte, stolzierte sie zwischen ihren Spielsachen umher, die überall verstreut im Garten herumlagen. In ihrer neuen Garderobe sah sie geradezu perfekt aus. Stramme Beinchen lugten heraus. Ihr Gesicht war gerötet vor Aufregung, weil sie es genoss im Mittelpunkt zu stehen. Immer wieder schaute sie zurück, um sich zu vergewissern, dass ihr auch alle zusahen.

»Wie war dein erster Ausritt mit deinem eigenen Pferd?«, fragte Kullmann nach dem Abendbrot. Er war gerade dabei, jedem eine Flasche Bier zu öffnen.

Anke freute sich schon auf das kühle Gebräu. Doch mit seiner Frage riss er sie aus ihren Träumereien.

Kaum hatte Kullmann ihr die geöffnete Flasche vor die Nase gestellt, bemerkte er schon, dass sie etwas bedrückte. »Bist du runtergefallen?«

Martha schnappte nach Luft.

Anke zögerte eine Weile, bis sie antwortete: »Nicht nur das.«

»Was ist passiert? Hast du dich verletzt?«

»Nein! Ich bin unglücklicherweise auf einem Skelett gelandet.«

Eine Weile schauten Kullmann und Martha sie schweigend an, was in Anke das Gefühl vermittelte, sie würden ihr nicht glauben. Es dauerte eine Weile, bis Kullmann nachhakte: »Ein Tierskelett?«

»Nein! Ein menschliches Skelett.«

Nun war er so überrascht, dass er aufstand und einige Schritte auf der Terrasse auf und ab ging. Dann stellte er sich vor Anke und meinte: »Deine Arbeitswut verfolgt dich bis in dein Freizeitvergnügen. Vermutlich ist es kein Zufall, dass ausgerechnet du auf einem Skelett gelandet bist.«

»Was soll das heißen?«

»Dass ein Jäger vermutlich auf einem Reh gelandet wäre oder ein Schuster auf einem alten Schuh. Du bist bei der Abteilung für Tötungsdelikte, prompt landest du auf einer Leiche.«

»Das musst du gerade sagen. Kaum warst du pensioniert, bist du über eine Tote gestolpert. Und das noch in einer Angelegenheit, bei der niemand an ein Verbrechen glauben wollte.«

Mit einem Nicken setzte er sich, nahm seine Flasche Bier und prostete seiner Frau und Anke zu.

»Warum regst du dich so auf?«

Kullmann stellte sein Bier ab, schaute Anke eine Weile an, bis er fragte: »Gibt es schon Vermutungen darüber, wie lange die Knochen dort liegen?«

Anke berichtete ihm von den archäologischen Untersuchungen, die durchgeführt wurden, um ausschließen zu können, dass es sich um einen keltischen Fund handelt.

Kullmanns Blick wurde skeptisch.

»Erklär mir doch bitte dein Interesse an meinem Fund!«

»Ich gebe zu, dass ich sofort an etwas denken musste.«

»An einen alten Fall?«, hakte Anke nach.

»In meiner Dienstzeit hat es mal einen Mord ohne Leiche gegeben – und zwar in Ormesheim. Ich weiß die Einzelheiten nicht mehr. Aber bevor ich die Pferde scheu mache, warte ich erst einmal ab, was deine Abteilung herausfindet. Vielleicht liege ich auch falsch und bringe euch auf die falsche Spur.«

»Klar! Du neigst dazu, uns ständig auf die falsche Spur zu bringen«, spottete Anke.

»Halte mich einfach nur auf dem Laufenden! Sollte ich mich irren, bin ich froh, den Mund gehalten zu haben. Wenn nicht, kann ich immer noch nach der Akte suchen lassen. Was hältst du von dem Vorschlag?«

»Ich habe dich noch immer über meine Arbeit auf dem Laufenden gehalten. Warum sollte ich es ausgerechnet jetzt nicht mehr tun?«

»Du bist heute kratzbürstig«, tadelte Kullmann. »Hat dir der Sturz die Laune verdorben?«

Verdutzt schaute Anke ihren ehemaligen Chef und Mentor an. Er hatte Recht, sie benahm sich aufmüpfig. Dazu hatte sie keinen Grund – und Kullmann gegenüber schon gar nicht.

Teil II
Winter 2000

Die Wolken wurden immer schwärzer. Eiskalter Wind pfiff ihm um die Ohren. Regentropfen peitschten in sein Gesicht. Er hatte Mühe zu erkennen, wohin er lief. Dabei versuchte er sein Tempo zu beschleunigen, aber seine Beine packten ihn nicht mehr. Er begann zu stolpern, rappelte sich wieder auf, taumelte weiter. Vor ihm lag die schmale Brücke zur Vauban-Insel. Das Ziel strebte er an, getrieben von der Hoffnung, sich dort vor seinem Verfolger verstecken zu können.

Was geschah nur mit ihm? Er wollte sich einen vergnüglichen Abend mit einer Frau machen, hatte sich ein erotisches Abenteuer versprochen, doch nun rannte er um sein Leben.

Eilig überquerte er die schmale Brücke.

Ein Donner ertönte. Vor Schreck zuckte er zusammen, weil er schon glaubte, es sei ein Schuss gefallen. Warum war hier alles menschenleer? Niemand zu sehen, den er um Hilfe bitten könnte. Auf der Insel angekommen stand er vor einer Wegegabelung. Schnell musste er sich entscheiden, Zögern könnte seinen Tod bedeuten. Er wählte den linken Pfad, passierte den alten Bunker, in dem sich das Restaurant Contregarde befand. Zu allem Pech sah er, dass es geschlossen war – vermutlich schon seit Jahren, denn Efeu wuchs an der Eingangstür hoch. Er sprang die mit Hecken überwucherte Böschung hinunter und rüttelte an den Gittern vor den Fenstern, aber sie waren viel zu stabil. Da fiel sein Blick auf einen weiteren Bunker, der sich eine Ebene tiefer befand, ganz nah am äußeren Rand der Halbinsel, die zur Seite des Saarlouiser Stadtparks zeigte. Mit großen Schritten eilte er darauf zu, sprang über die Absperrung und robbte sich durch die dichten Hecken. Dort angekommen zerrte er gleich am ersten Gitter. Er hatte Glück. Es war locker. Gerade wollte er hineinspringen, da hörte er etwas ganz dicht hinter sich. Erschrocken drehte er sich um.

Vor ihm stand eine vermummte Gestalt.

Sibylle blickte auf und schaute in ein Publikum voller verängstigter Gesichter. Einige wischten sich den Schweiß von der Stirn, andere atmeten tief durch, weil sie genau im richtigen Augenblick aufhörte vorzulesen.

Nur wenige Sekunden der Stille verstrichen, dann ertönte der Applaus.

Hinterher erhob sich Antonia Welsch, stellte sich als Literaturagentin vor und verkündete, dass das Buch nun zu kaufen sei.

Der Rest des Abends verging wie im Flug. Viele Bücher der Autorin Sibylle Kriebig wechselten ihren Besitzer. Die Gäste zeigten Begeisterung, waren von großer Neugierde gepackt und lobten Sibylles Vortrag, der Lust auf mehr gemacht habe.

Der Lärmpegel sank.

Nach und nach verließen die Besucher die Buchhandlung. Sibylle rieb sich ihr Handgelenk. Es schmerzte vom Schreiben der vielen Widmungen. Verträumt schaute sie sich um, bis sie zwei Männer sah, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der eine war groß, schlank und elegant gekleidet. Ihn umgab eine Aura, die Sibylle sofort in ihren Bann zog. Ihre Blicke trafen sich. Sie fuhr zusammen, als habe ihr jemand in den Magen geboxt. Was bedeutete das?

Sein Begleiter wirkte neben ihm winzig, dick und ungepflegt. Dafür blitzten seine Augen hellwach. Ausgerechnet der war es, der vor ihren Tisch trat. Er hielt ihr das Buch entgegen und fragte: »Wie sind Sie auf diese tolle Idee gekommen?«

Verärgert über die Frage schaute Sibylle auf. Der Blick dieses Mannes löste in ihr das Gefühl aus, er könnte in sie hineinschauen. Das verunsicherte sie.

 

Was bezweckte der Zwerg mit seiner Frage?

»Ich habe einfach viele Ideen. Dafür gibt es wohl kein Geheimrezept«, wich sie aus.

Ihre Angst, dass er ihr etwas entlocken könnte, was sie nicht sagen wollte, wuchs. Der Mann wirkte auf sie wie ein Fuchs.

»Haben Sie schon mehrere Bücher geschrieben?«

Was wollte er wirklich? Fragen wollte sie nicht, weil sie sich einen potenziellen Leser vergraulen könnte.

»Nein, das ist mein erstes.«

»Kommen noch weitere?«

»Ich hoffe es.« Sibylle lachte nervös. »Aber zuerst muss ich die noch schreiben.«

»Richten Sie bitte Ihre Widmung an Ingo«, bat er Sibylle.

Die Autorin schaute ihn prüfend an.

»Sind Sie das?«

»Nein! Ingo Landry ist mein Freund«, dabei zeigte er auf seinen Begleiter.

Neugierig schaute Sibylle wieder in die Richtung des Fremden. Er wandte ihr sein Gesicht erneut zu – wenn auch nur kurz. Aber das reichte schon, in Sibylle eine ganz Flut an gemischten Gefühlen hervorzurufen. Kannte sie diesen Mann?

»Und Sie? Wollen Sie nicht auch ein Buch kaufen?«, fragte Sibylle hastig, damit ihr Glotzen nicht auffiel.

Sie bekam keine Antwort.

Die beiden Männer waren die letzten Gäste gewesen. Nach ihrem Weggang gähnte die erste Etage der Buchhandlung leer.

Sibylle zögerte nicht und verließ zusammen mit Antonia das große Gebäude, in dem es plötzlich so still geworden war. Sie traten hinaus in eine sternenklare Nacht. Nur noch wenige Autos standen auf dem Parkplatz am Großen Markt. Alles wirkte jetzt ruhig und friedlich, die Hektik des Tages war vorüber.

Auf dem Heimweg durch das nächtliche Saarlouis begann Sibylle ungeduldig, das Make-up aus ihrem Gesicht zu wischen. Sie entfernte die vielen Spangen, die ihre roten Haare davon abgehalten hatten, wie Borsten abzustehen.

»Kannst du damit nicht noch ein bisschen warten?«, schimpfte Antonia. »Jetzt siehst du aus wie Frankensteins Monster.«

»Dann fällt auch niemand über mich her.« Die beiden lachten laut auf und konnten sich gar nicht mehr einkriegen.

*

Matthias Hobelt und Ingo Landry stiegen in ihren Wagen und fuhren auf die Autobahn in Richtung Mandelbachtal. Zur späten Stunde herrschte wenig Verkehr auf der sonst stark befahrenen Straße. Stille breitete sich im Wagen aus. Es dauerte lange, bis Matthias das Schweigen brach: »Die Lesung hat mich auf eine gute Idee gebracht.«

»Und die wäre?«

»Du kannst doch fantastisch schreiben.«

»Ich weiß!« Ingo nickte.

»Was hältst du davon, wenn du ein Gegenstück zu dem Krimi ›Frauen an die Macht‹ schreibst und veröffentlichst?«

»Ich soll ein Buch schreiben?« Ingo zweifelte.

»Hast du Bedenken, so etwas fertigzubringen?«, fragte Matthias.

Eine Weile hörten sie nur das leise Brummen des Motors. Ingo steuerte den alten Jaguar seines Vaters, dessen 6-Zylinder-Maschine nach wie vor wie ein Uhrwerk lief. Eine gute Limousine, die ihn an Komfort denken ließ. Bei kaltem Wetter zog er diesen Wagen den sportlichen Modellen vor. Gelegentlich leuchteten Scheinwerfer von entgegenkommenden Autos auf. Hier und da versuchte jemand zu überholen, was Ingo Landry mit seinen 250 PS unter der Motorhaube nicht zulassen konnte. In Sekundenschnelle beschleunigte er, was andere Autofahrer zum Aufgeben zwang, und in Ingo jedes Mal einen Triumph auslöste.

Mit dem Gedanken, ein Buch zu schreiben, könnte er sich anfreunden. Das würde Anerkennung für ihn bedeuten, etwas, womit es sich gut leben ließ. Bisher hatte er allerdings nur Aufsätze im Deutschunterricht in der Schule geschrieben. Sie sind von seinem Lehrer zwar ausgezeichnet worden, weil sie auffallend gut waren. Aber genügte das wirklich, ein ganzes Buch fertigzustellen?

Beruflich hatte er nichts aus seinem Leben gemacht.

Solange seine Eltern – seine Pflegeeltern – gelebt hatten, brauchte er das nicht. Das Ehepaar war steinreich, sie konnten ihm jeden Wunsch erfüllen. Es war für ihn nie nötig geworden, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Sein Vater war über mehrere Legislaturperioden Kultusminister und seine Mutter Dozentin für Chemie an der Universität in Saarbrücken. Es grenzte an Wunder, dass sie Ingo trotz seiner Untätigkeit immer hoch geschätzt hatten. Womit hatte er sich ihre Bewunderung verdient?

Inzwischen waren seine Pflegeeltern gestorben – und mit ihnen das erhebende Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

Heute überkam ihn der Eindruck, dass sein Werdegang mehr Ähnlichkeit mit dem eines verhinderten Künstlers, oder besser gesagt eines Lebenskünstlers, besaß als mit dem eines angehenden Buchautors. Von Kindesbeinen an gehörte das Basteln von schönen Spielzeugautos zu seinen Leidenschaften, bis er erkennen musste, dass er kein einziges Modell fertiggestellt hatte. Er hatte keine Motivation, keine Ideen. Er konnte sich nie auf das Ganze konzentrieren. Etwas niederzuschreiben war nicht schlecht. Aber trotz seiner vielfältigen Überlegungen sah er das unüberwindliche Hindernis darin, es bis zum Ende zu bringen. Wie beim Basteln von Autos waren es die Details, die ihn im Sumpf der Engstirnigkeit versinken lassen würden, während ihm das eigentliche Konzept entglitt. Wie sollte er es schaffen, ein komplettes Buch zu schreiben?

Er wollte ehrlich zu seinem Freund sein, das war er ihm schuldig. Matthias hatte eine falsche Meinung von ihm, hielt ihn in der Kunst des Schreibens für begnadet, eine Haltung, die Ingo nicht gerne korrigierte. Sie behagte ihm – wie alles, was ihn auf das Podest stellte, auf das er eigentlich nicht gehörte.

»Nein, habe ich nicht«, kam es Ingo über die Lippen, als hätten sie ein Eigenleben. Gerade noch hatte er einen vernünftigen Gedanken, wenn er auch einem Gang nach Canossa glich, nämlich ehrlich zu seinem Freund zu sein. Welcher Teufel ritt ihn, sich auf dieses gewagte Spiel einzulassen?

»Nur, was soll ich schreiben?« Mit der Frage gab er seine Bedenken preis.

»Ganz einfach: Wir lesen das Buch von Sibylle Kriebig, entnehmen die Ideen, verändern sie ein wenig, indem wir die Männer an die Macht lassen und schon ist ein fantastischer Krimi fertig«, erklärte Matthias. »Und du wirst sehen, dass dein Buch sich besser verkaufen wird.«

»Warum?«

»Weil du mich hast.«

Ingo warf seinem Freund einen ungläubigen Blick zu.

»Also«, drängte Matthias. »Was hält dich davon ab? Schreib dein Buch und du wirst sehen, die Medien machen einen großen Erfolg daraus.«

»Du bist dir aber ganz schön sicher.«

»Natürlich bin ich das! Ich habe mir alles gut überlegt«, gestand Matthias. »Ein Buch von einer namenlosen Autorin wird sich auf dem Markt nicht behaupten.«

»Trotzdem kommt die Idee von ihr und nicht von mir«, zweifelte Ingo immer noch.

»Wen interessiert das? Bestseller werden nicht geschrieben, sondern von den Medien gemacht!«

»Also, wenn ich mir deinen Plan anhöre, gelange ich zu der Überzeugung, dass besser du das Buch schreibst. Du steckst voller Ideen – im Gegensatz zu mir.«

»So ein Unsinn«, wehrte Matthias ab. »Ich kann keine drei Sätze fehlerfrei schreiben. Du bist in Deutsch richtig gut, hast schon in der Schule die besten Noten bekommen. Also musst du das Buch schreiben.«

Sie verließen die Autobahn an der Abfahrt am Flughafen Ensheim, fuhren weiter über die Landstraße in Richtung Ormesheim.

Kurz bevor sie den Ort erreichten, traf Ingo seine Entscheidung: »Du hast Recht. Wir werden das Buch schreiben.«

»Klasse, Kumpel! Hand drauf!«, jubelte Matthias.

Ingo parkte seinen Jaguar vor dem Elternhaus. Feierlich schlug er mit seinem Freund auf ihre Abmachung ein. Dabei fühlte er sich wieder wie der kleine Junge, der einen Streich ausheckte.

»Das Geld teilen wir«, stellte Matthias klar und setzte damit dem Freudentaumel ein Ende.

»Wenn wir welches verdienen«, gab Ingo zu bedenken.

»Wir werden immer Mittel und Wege finden, den Verkauf anzukurbeln.«

Kapitel 5

Abwechselnd tauchten vor Ankes Augen Bilder vom Gesicht ihrer Tochter und einem kahlen Schädel auf, dessen untere Kieferpartie fehlte. Die helle, muntere Stimme, die sie hörte, passte ganz und gar nicht zu dem Totenkopf ohne Mund. Aber die Stimme war da. Lange wusste sie nicht, was sie ihr sagen wollte. Bis sie plötzlich die Worte klar und deutlich verstand: »Mama, aufstehen! Ich will reiten. Du hast es mir versprochen.«

Erschrocken richtete sich Anke auf. Traum und Wirklichkeit hatten sich vermischt. Vor ihr stand Lisa mit ihrem hübschen, runden Gesicht und den strahlend blauen Augen, die große Erwartungen ausdrückten.

Als Anke aufstehen wollte, schoss ihr ein stechender Schmerz durch den Kopf. Für einen kurzen Moment sah sie nur Sterne. Erschrocken ließ sie sich ins Kissen sinken. Aber Lisa war fest entschlossen, ihre Mutter an ihr Versprechen zu erinnern. Es blieb Anke keine andere Wahl, sie musste raus aus den Federn.

Der zweite Versuch gelang wesentlich besser. Obwohl der Schmerz wie ein dumpfes Pochen in den Schläfen zurückblieb, gelang es ihr, sich bis ins Badezimmer zu bewegen, wo sie ihrem Kreislauf mit kaltem Wasser auf die Sprünge half. In der Küche suchte sie alles zusammen, was zu einem guten Frühstück gehörte. An diesem Morgen war es Lisa allerdings egal, was auf dem Tisch stand. Ihr ganzes Interesse war, so schnell wie möglich zum Pferd zu kommen.

Anke versorgte sich mit einer großen Portion Kaffee, die ihr dabei half, die Kopfschmerzen zu lindern. Die waren wohl das Resultat ihres Sturzes. Zum Glück war es nichts Schlimmeres, dachte sie bei der Erinnerung an das rasante Tempo, mit dem Rondo über den steinigen Weg galoppiert war.

Nach dem Frühstück gingen sie durch den Hinterausgang über den schmalen Pfad in Kullmanns Garten. Das Ehepaar saß dort auf der Terrasse. Sie frühstückten im Schein der Morgensonne, ein harmonisches Bild. Wie immer stellte Anke fest, welch ein wunderbares Paar die beiden waren. Erst als Anke näher kam, sah sie, dass Norbert Kullmann die Zeitung in der Hand hielt. Sie setzte sich auf den Stuhl neben ihm.

Kullmann las ihr vor:

»Mord in der Biosphäre. Der Plan, den Bliesgau als Biosphärenreservat anzuerkennen, wird auf eine harte Probe gestellt. Wie passt ein Toter in ein umweltfreundliches Konzept? Das Skelett im Koppelwald bei Ormesheim wirft viele Fragen auf. Während die Polizei hinter den menschlichen Überresten einen unaufgeklärten Mordfall vermutet, gehen Archäologen von einem jahrtausendealten Fossil der Keltenzeit aus.«

Kullmann schaute Anke über seine Brillengläser hinweg an, während er sprach: »Die Reporter schreiben hier viel dummes Zeug. Ein Toter, der bis zum Skelett verwest ist, ist schon lange tot. Also fällt der Todeszeitpunkt vermutlich nicht in den Zeitraum, in dem die Bio­sphäre im Saarland schon in Planung ist. Ich sehe da keine Zusammenhänge.«

»Wie lange plant der Bliesgau schon die Anerkennung als Biosphärenreservat?«

»Ich weiß nur, dass sie sich erst in diesem Sommer aus mehreren Kommunen zusammengeschlossen haben, um einen Zweckverband zu gründen, der die hohen Anforderungen erfüllen soll.«

»Und wie lange liegt der Fall zurück, den du ungeklärt zurückgelassen hast?«, fragte Anke.

»Von wegen ungeklärt zurückgelassen! Der Fall wurde mir entzogen, weil wir ohne Leiche nichts hatten, womit wir arbeiten konnten.«

Anke wartete eine Weile, bis sie ihre Frage wiederholte: »Wie lange liegt der Fall zurück?«

»Fünf Jahre. Und ich kann mich nicht erinnern, dass damals schon die Rede davon war, im Saarland eine Biosphärenregion einzurichten.«

»Wo war ich damals?« Die Frage beschäftigte Anke viel mehr.

Kullmann musste überlegen, bis es ihm einfiel: »Du warst auf der psychologischen Schulung.«

Anke erinnerte sich. Kullmanns letzte Amtshandlung für Anke war, sie auf diese Schulung zu schicken, wofür sie ihm heute noch unaus­gesprochen dankte. Denn nach seiner Pensionierung hatten sich für Anke sämtliche Möglichkeiten der Weiterbildung erschwert.

»Wir wissen noch gar nicht, ob es ein Fall für unsere Abteilung ist«, lenkte Anke ab. »Warum jetzt schon den Kopf zerbrechen?«

Lisa wurde es zu langweilig. Mit lautem Kreischen ging sie auf ihre Mutter zu. »Ich will reiten!«, stellte sie unmissverständlich klar.

»Wir fahren sofort los«, besänftigte Anke ihre Tochter.

Kullmann erhob sich, was Anke mit einem erstaunten Blick registrierte.

»Martha und ich fahren mit«, erklärte er. »Ich will mir gern die Fundstelle ansehen. In der Zwischenzeit kann Martha bei Lisa bleiben und nach den Pferden sehen.«

 

»Solange Lisa auf Rondo reitet, bleibe ich aber dabei«, bestimmte Anke.

Kullmann verschwand im Haus. Es dauerte nicht lange, da kehrten er und seine Frau mit wetterfesten Schuhen und Windjacken zurück.

»Wir können.«

»Wir fahren mit meinem Auto«, bestimmte Anke. »Am Stall herrschen Schlamm und Dreck. Mein Subaru Forester ist für unwegsames Gelände bestens geeignet.«

Sie bogen in die Saarbrücker Straße ein, die an der Polizeidienststelle Saarbrücken-Land vorbeiführte, passierten die Halberger Hütte und fuhren unter der Autobahnbrücke durch. Dahinter lagen die Dörfer Fechingen und Eschringen, die sie hinter sich ließen, bis eine Häuseransammlung wie zu einer Zitadelle aufgerichtet vor ihren Augen auftauchte, der Ort Ormesheim.

Kurz davor bogen sie rechts ab. Die Straße war von beiden Seiten mit Feldern und Wiesen gesäumt. Es ging steil bergauf. Oben auf dem Berg boten sich ihren Augen riesige Koppeln voller Pferde. Inmitten der schönen Natur stand ein Reitstall, der aus mehreren Gebäuden in unterschiedlichen Baustilen und einer großen Reithalle bestand. Ein Reitplatz, auf dem sich Reiter mit ihren Pferden abmühten, flankierte die stark befahrene Straße.

Anke bog rechts ab, passierte den großen Platz und rollte langsam auf die Stallgebäude zu. Dicht an die Stallmauer grenzte ein kleiner, viereckiger Sandplatz an. Davor stellte Anke ihren Subaru ab.

Sie steuerten den Stalltrakt an, der sich von den anderen Gebäudeteilen darin unterschied, dass er neu aussah. Durch das offene Tor erblickten sie einen langen, breiten Gang. Alles wirkte wie leer gefegt. Zielstrebig ging Anke auf Rondos Box zu.

Kullmann und Martha erschraken über die Größe des Pferdes. Nur Lisa war begeistert. Ihr Eifer war so groß, dass Anke alle Hände voll damit zu tun hatte, sie von Rondo fernzuhalten, während sie ihn sattelte. Rondo beugte seinen langen Hals hinunter und schaute sich Lisa genauer an. Sein prüfender Blick wirkte dabei so lustig, dass Lisa laut lachte. Anke hielt ihre Tochter an, leise zu sein, aber Lisa war zu aufgeregt, um noch auf die Worte ihrer Mutter zu hören. Rondo schien das muntere Geplapper nicht zu stören. Lisa streichelte ihm über die Nase, er ließ sich das gefallen.

Nach der Reitstunde strich Anke mit dem Striegel über Rondos Beine. Da erst sah sie, dass das linke Vorderbein dick angeschwollen war. Erschrocken hielt sie inne. Das fehlte gerade noch! Nun hatte sie seit wenigen Tagen ein eigenes Pferd, schon war es krank. Sofort rief sie den Tierarzt an. Dieser versprach ihr, gegen Abend zu kommen.