Ein ganz klarer Fall

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Z serii: Kullmann-Reihe #1
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»Das hat sie seltsamerweise völlig heruntergespielt. Sie meinte, ihr hat sein sprühendes Temperament gut gefallen, der Rest interessierte sie angeblich nicht.«

Kullmann nickte.

»Also die Personalangestellte kommt schon mal nicht in Verdacht.« stellte er trocken fest. Hübner stöhnte: »Heute kann man es dir aber gar nicht recht machen. Nur so können wir uns irgendwann ein Bild von den Ermordeten machen.«

»Irgendwann hätte ich gerne ein genaues Bild vom Täter“, knurrte Kullman als Entgegnung.

»Von den anderen war nicht viel zu erfahren«, ging Hübner auf die Anspielung gar nicht ein. „Die blonde Frau kennt niemand, und dass die beiden mit ihr weggegangen sind, empfanden alle als ganz normal. Nur noch ein älterer Kollege erwähnte ebenfalls diese Geschichte mit Elvira Reinhardt. Er sagte auch, dass es sonderbar war, dass Frau Reinhardt direkt nach dem Betriebsausflug gekündigt habe, wo sie doch eine ganz gut bezahlte Stellung innehatte.«

Kullmann nickte nachdenklich. Dann ging er zu seiner Regalwand, die sich über die ganze Wand ausdehnte und mit Büchern völlig zugestellt war. Dort zog er eine Akte heraus und warf sie vor Hübner auf den Tisch.

»Das ist die Akte von Herbert Klos. Die ist wirklich interessant. Vor 15 Jahren lief ein Verfahren gegen ihn wegen Vergewaltigung eines 16jährigen Mädchens. Ich hatte damals sogar gegen Klos ermittelt. Nachdem ich das gelesen habe, ist es mir auch wieder eingefallen. Das Verfahren wurde eingestellt, weil der Vater seine politischen Verbindungen spielen ließ.«

Hübner war perplex. Eine Weile war alles still. In die Stille fragte er: »Was ist aus dem Mädchen geworden?«

»Sie nahm sich das Leben mit Tabletten.«

Wieder folgte Stille.

Diese Nachricht machte Hübner stutzig. Der Eindruck, den man ihm gerade von Herbert Klos vermittelt hatte, war ein ganz anderer.

»So, wie mir Herbert Klos beschrieben wurde, hatte er es gar nicht nötig, eine Frau zu vergewaltigen. Gibt es denn auch solche Überraschungen in der Akte Jürgen Wehnert?«

»Nein, sein Leben verlief eigentlich normal. Er ist schon 18 Jahre verheiratet und hat eine Tochter, die schon 16 ist. Ich vermute, dass das Ehepaar Wehnert den Vergewaltigungsfall mitbekommen hat. Ich werde deshalb auch wieder zur Frau Wehnert hinfahren müssen.«

»Ich werde mit dir fahren“, bestimmte Hübner eifrig, trank seinen Kaffee aus und stand auf.

Malstatt, der Stadtteil, in dem die Familie Wehnert lebte, war zu dieser frühen Stunde menschenleer. Bierflaschen lagen am Straßenrand, zerknüllte Zigarettenschachteln, und Hundekot auf dem Bürgersteig. Alles war trist und grau. Die Sonne, die den Kampf gegen die grauen Regenwolken gewonnen hatte, konnte nicht bis in dieses Viertel vordringen, zu dicht standen die Häuser aneinander. Ein Betrunkener stolperte aus einem Flur heraus und schritt den Bürgersteig entlang, bemüht, nicht umzufallen. Ein streunender Hund schoss hinter einer Mülltonne hervor und folgte dem Betrunkenen. Von diesen Eindrücken bedrückt gingen die beiden Polizisten zum Haus der Familie Wehnert und klopften an.

»Moment«, hörten sie eine Mädchenstimme.

Dann wurde geöffnet und vor ihnen stand ein junges bildhübsches Mädchen mit langen blonden Haaren, großen dunklen Augen und einer hochgewachsenen, schlanken Figur.

»Wir kommen von der Polizei und wollten zu Frau Wehnert.« Hübner war fasziniert von diesem Anblick. Das Mädchen trug nur ein dünnes Hemdchen, so dass man ihre wohlgeformte Brust darunter gut erkennen konnte.

»Meine Mutter ist im Wohnzimmer, kommen sie doch herein«, lud sie die Herren ein.

»Sind sie immer so offenherzig und lassen jeden herein?«, wollte Kullmann wissen, der diesen Leichtsinn nicht schätzte.

»Warum fragen sie so was? Sie sagten doch, sie sind von der Polizei«, gab das Mädchen zurück.

»Weil man in diesem Aufzug nicht jeden fremden Mann empfängt.«

»Darin wird Elena sich niemals ändern«, stand plötzlich die Mutter im Flur, die dieses Gespräch mitbekommen hatte. »Erst muss etwas passieren.«

»Und genau das wollen wir nicht.«

»Weshalb kommen sie mich besuchen?«, fragte Frau Wehnert und bat die beiden ins Wohnzimmer. Auf der Couch lagen noch eine Wolldecke und ein Kopfkissen, welches Frau Wehnert schnell wegräumte.

»Ich konnte heute Nacht nicht im Bett schlafen, da habe ich mich auf die Couch verzogen«, erklärte sie entschuldigend und schaute Kullmann und Hübner dabei an.

Ihre Augen waren rot und tiefliegend. Dunkle Ränder hatten sich gebildet und das Make-up war verschmiert. Ihr ganzer Zustand war ungepflegt und vernachlässigt im Gegensatz zum Tag vorher. Sie sah älter aus.

»Wie geht es Ihnen heute?«, fragte Kullmann, dem der schlechte Zustand keinesfalls entgangen war.

»Ich muss versuchen, wieder die Gegenwart zu finden, dann geht es wieder.« Tränen liefen die Wangen hinunter, aber sie bemühte sich, nicht zu schluchzen. »Wissen Sie, seit gestern sitze ich nur noch hier und erinnere mich an die lange Zeit, die wir zusammen waren. Jürgen war meine Jugendliebe, mein ganzes Leben bestand nur aus ihm. Es fällt mir schwer, nach so vielen gemeinsamen Jahren, neu zu denken. Nach vorne zu denken. Wissen Sie, ich habe niemals eine Entscheidung ohne ihn getroffen, nie etwas alleine tun müssen. Ich muss das alles jetzt neu lernen. Aber ich glaube, das Problem versteht niemand?« Hektisch wischte sie sich die Tränen weg.

Kullmann nickte bedächtig. »Wir sind bemüht, Sie zu verstehen. In unseren Dienstjahren haben wir schon viel Leid gesehen, und glauben Sie, es tut uns auch weh, die Menschen leiden zu sehen. Aber wir müssen Ihnen einige Fragen stellen, Sie sind doch sicherlich daran interessiert zu erfahren, wer das getan hat.«

»Nein, eigentlich nicht. Ich versuche nur, nach vorne zu sehen.

Ich kann mich nicht damit befassen, ich muss so tun, als würde ich alles vergessen«, wehrte sie heftig ab. Auf die verwunderten Blicke der beiden Polizeibeamten fügte sie hastig an: »Trotzdem ich bin bereit Ihnen zu helfen, wie ich kann.«

»Wie lange kannten Ihr Mann und Herbert Klos sich denn?«

»Bestimmt schon 20 Jahre. Jürgen und ich waren schon zusammen, als wir 15 waren. Damals war alles so toll, die ganze Welt war rosarot. Dann, so etwa nach 5 Jahren, lernte er Herbert kennen und es veränderte sich einiges. Aber ich war so verliebt, dass ich es akzeptieren musste, dass Jürgen nun auch oft mit Herbert zusammen sein wollte. Herbert drängte sich eigentlich richtig in unsere Freundschaft. Er versuchte damals auch, Jürgen zu überreden, mich nicht zu heiraten, aber da hatte er unsere Liebe unterschätzt. Jürgen hat sich ihm widersetzt. Das kam nicht oft vor, dass er Herbert widersprach, aber in diesem Falle gab es für Jürgen keine Zweifel.«

»Mochte Herbert Sie nicht?«

»Herbert liebt alle Frauen, nur auf seine Art. Er hätte auch mit mir geschlafen, wenn ich es gewollt hätte, ohne Rücksicht auf seinen besten Freund. Herbert hatte kein Gewissen. Er nahm die Frauen und ließ sie wieder fallen. Er sah eben gut aus und das war sein ganzes Kapital. Im Leben war er eine Niete.«

»Warum war er eine Niete? Er hatte doch eine gute Arbeit und eine Familie.«

»Naja, die Arbeit hatte Jürgen ihm besorgt und seine Frau hat er nur geheiratet, weil sie von ihm schwanger war. Das war etwas Neues, eigene Kinder. Allerdings änderte das nichts an seinem Lebenswandel. Er betrog Anne rücksichtslos. Was er den ganzen Frauen damit antat, interessierte ihn gar nicht.«

»Sie hielten nicht viel von Herbert Klos?«, fragte Kullmann mehr rhetorisch.

»Nein. Er wollte immer Jürgen mitziehen, aber es gelang ihm nicht. Jürgen hatte Charakter und liebte mich. Dass es Herbert einmal treffen würde, konnte man sich fast denken. Eine der ausgenutzten Frauen würde sich bestimmt rächen, oder ein betrogener Ehemann, das dachte ich mir schon lange. Aber dass es auch noch Jürgen treffen musste, das war nicht fair. Jürgen musste bestimmt nur sterben, weil er gerade mit Herbert zusammen war. Diese Tat galt ihm nicht, da bin ich sicher.«

»Wussten Sie, dass Herbert Klos einmal ein 16jähriges Mädchen vergewaltigt hatte?«

»Ja«, nickte Frau Wehnert nachdenklich, »Marita Volz.«

Sie schwieg eine kurze Weile, dann berichtete sie: »Das bekam doch jeder mit. Herbert stellte es so hin, als habe diese Marita ihn scharfgemacht und es sei mit ihrer Einwilligung geschehen. Aber das stimmte nicht. Ich kannte das Mädchen und wusste, dass sie so etwas niemals tun würde.«

»Was war Marita für ein Mensch?«

»Marita lebte zurückgezogen. Sie war ruhig und häuslich. Ihre Freizeit verbrachte sie nur zu Hause, bei ihrem Vater, oder in der Nachbarschaft, um dort Kinder zu hüten. Ihre Mutter hatte sie viel zu früh verloren.«

Kurzes Schweigen trat ein.

»So wie ich Marita kannte, war es für mich unvorstellbar, dass sie es auf ein Abenteuer angelegt haben sollte. Kannten Sie sie?«

Kullmann nickte.

„Liege ich mit meiner Meinung falsch?«, vergewisserte sie sich.

Darauf konnte Kullmann nur den Kopf schütteln.

Um auf ein anderes Thema zu kommen, fragte er: »Kannten Sie die Frauen, die mit Herbert zusammen waren?«

»Nur eine, das war auch noch eine Freundin von mir, dadurch hatte er sie kennengelernt. Lange hatte ich es bereut, dass die beiden durch mich zusammengekommen sind. Sie war fast daran zerbrochen, sie ist sowieso sensibel.« Als sie die interessierten Blicke der Polizisten bemerkte, fügte sie schnell an: »Aber sie hat es bestimmt nicht getan, sie lebt nicht mehr hier. Sie ist vor einigen Jahren mit einem Mann ins Ausland gezogen.«

Elena trat hinzu. Sie hatte das ganze Gespräch mit angehört und bemerkte nur trotzig: »So schlimm, wie meine Mutter Herbert hinstellt, war er gar nicht. Sie war nur eifersüchtig auf ihn. Immer wenn Herbert kam, ist Vater mit ihm fortgegangen, deshalb.«

 

»Deine Meinung ist gar nicht gefragt“, schimpfte die Mutter.

»Doch, doch, wir wollen von allen die Meinung hören“,

beschwichtigte Hübner mit einem interessierten Blick auf das hübsche Mädchen, das es sichtlich genoss, so angesehen zu werden.

»Wie gut kanntest du Herbert?«, fragte er dann.

»Gut genug, warum?«

»Kann es sein, dass du ihn gern hattest?«

Kullmann schaute bestürzt auf Hübner, weil er den Verdacht, den der Kollege hegte, bereits ahnte.

»Ja, er war immer lustig und nett.«

»Bist du mit ihm ausgegangen?«

Elena schwieg. Überrascht schaute die Mutter auf den jungen Mann und auf Elena. »Was stellen Sie denn für Fragen? Glauben Sie, Herbert habe auch etwas mit meiner Tochter gehabt? Also ich muss schon bitten.«

»Nein, ich glaube nur, dass die beiden befreundet waren. Das bedeutet doch nichts Negatives, oder?«, erwiderte Hübner streng, weil er diesen Gedanken nicht abwegig fand.

Frau Wehnert entgegnete nichts, allerdings ließ ihre Miene vermuten, dass sie dem auch nicht zustimmen wollte. Feindselig funkelte sie Hübner nur noch an.

»Es ist besser, wir gehen jetzt«, schaltete Kullmann sich ein, weil die Atmosphäre eine ungünstige Spannung angenommen hatte.

Unter diesen Voraussetzungen würden sie ohnehin nichts mehr erreichen. Rasch verabschiedeten die beiden sich und verließen das Haus.

»Was willst du mit diesen Fragen erreichen? Sie bringen uns nicht weiter, sie handeln uns nur Ärger ein«, schimpfte Kullmann, kaum dass sie im Auto saßen.

»Wir müssen doch Motive für die Tat finden«, entgegnete Hübner erbost.

»Ach, du glaubst also, Frau Wehnert hat aus Rache Herbert erschossen, weil dieser mit ihrer Tochter das Gleiche tat, wie mit allen anderen Frauen und erschießt aus Versehen ihren eigenen Mann noch mit?«

Hübner schwieg. Er musste sich eingestehen, dass es nichts mehr zu widersprechen gab. Vermutlich hatte er sich falsch verhalten.

So fuhren sie nun durch das mittlerweile sonnenbeschienene Wohnviertel hindurch in Richtung Innenstadt, wo sich das Landeskriminalamt befand. Kullmann versank wieder völlig in seinen Gedanken. Er bemühte sich, den Fall dieser Marita Volz ins Gedächtnis zu rufen, aber es gelang ihm nur bruchteilhaft. Wie viel war im Laufe dieser Zeit wohl schon passiert, dass schon so viel in Vergessenheit geraten war?

Anke Deister war an diesem Sonntagmorgen auch da und überraschte die beiden mit frischem Kaffee und frischen französischen Hörnchen. Kullmann schüttelte den Kopf, als er sie wieder sah.

»Sie sind unverbesserlich. Warum genießen Sie nicht auch ’mal Ihr Wochenende?«

»Weil ich genau wie Sie nicht anders kann. Hier habe ich auch wieder etwas gefunden, was ganz interessant sein könnte«, meinte sie nur und zeigte Kullmann ein Aktenstück aus einer Gerichtsakte von dem besagten Fall Marita Volz.

»Wo haben Sie das her?«, fragte Kullmann ganz überrascht.

»Das war in einer ganz alten schon abgelegten Akte von Herbert Klos. Ich dachte mir, es schadet nichts, in der Vergangenheit herumzuwühlen, und es hat sich bestätigt, wie man sieht. Hier geht es um…«

»Ich weiß um was es hier geht“, unterbrach Kullmann und verschwand mit dem Aktenstück, einer Tasse Kaffee und einem Hörnchen in seinem Büro.

Die Akte enthielt den Beginn eines Prozesstages, der wegen des schlechten körperlichen Zustandes der Klägerin, Marita Volz, abgebrochen werden musste.

Es war der 11. Oktober 1975 im Gerichtssaal der Staatsanwaltschaft:

Der Verteidiger von Marita Volz, ein Pflichtverteidiger ohne jegliche Referenzen im Strafrecht, wie Kullmann sich wieder erinnerte, war an diesem Fall nicht besonders interessiert, weil es ihm bei seinem beruflichen Erfolg nicht weiterhelfen konnte. Er hieß Walter Gaus.

Die Befragung begann mit einer Mitschülerin namens Dietlinde Becker, deren Meinung unerschütterlich blieb. Sie hielt an der gesamten Verhandlung daran fest, dass Marita sich niemals freiwillig mit Herbert Klos getroffen hatte. Ganz im Gegenteil: Herbert hatte sie immer wieder mit seinen Besuchen überrascht, sogar überfallen, so dass Marita keine Wahl hatte. Auch äußerte Dietlinde, dass Marita keinerlei Freundschaften dieser Art gesucht hatte. Im Gegenteil, sie beteuerte immer wieder und beharrlich, Marita Volz habe sogar Angst vor Herbert Klos gehabt. Diese Aussage hatte den Verteidiger, Eberhard Kluge, allerdings aus der Fassung gebracht, weil sie keinesfalls in seine Theorie des freiwilligen Liebesaktes hineinpasste.

Aber Dietlinde ließ nicht locker. Sie beharrte darauf, bestens über alle Wünsche und Ängste ihrer Freundin Marita informiert zu sein, um somit auf keinen Fall den Eindruck zu bekräftigen, sie habe eingewilligt. Denn das war das Schlimmste, was einem Vergewaltigungsopfer passieren konnte. Trotz allem war es dem Verteidiger gelungen, nach langem Bemühen, eine Antwort aus Dietlinde zu entlocken, die ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellte. Sein Ziel war es klarzustellen, dass Dietlinde nicht alle Ängste und Wünsche Maritas gekannt haben kann, da eine derartige Freundschaft unvorstellbar war. Und so fragte er: Wenn man nicht ausdrücklich nach etwas fragt, ist es ja nicht verheimlicht worden, sondern einfach nur nicht zur Sprache gekommen.

Ist auch diese Möglichkeit bei Ihnen beiden als Busenfreundinnen völlig ausgeschlossen?

Diese Möglichkeit war nicht völlig auszuschließen. Damit war der erste entscheidende Schritt für den Freispruch von Herbert Klos getan.

Kullmann legte das Aktenstück zur Seite und grübelte. So nach und nach erinnerte er sich wieder an den Fall. Er selbst war auch als Zeuge geladen und hatte daraufhin die Verhandlung weiter beobachtet. So wie er sich nun erinnern konnte, hatte Marita damals keinerlei Chance gehabt, diesen Prozess zu gewinnen, der nur von Männern geführt wurde. Sogar ihr Anwalt, der Pflichtverteidiger, erschien ihm so, als sei er von Maritas Rolle als Opfer nicht überzeugt. Je länger er nachdachte, umso mehr fiel ihm wieder zu diesem Fall ein. Er selbst hatte damals Klos in seinem Elternhaus verhaftet mit dem Verdacht auf Vergewaltigung. Die Überheblichkeit in Klos’ Gesicht hatte ihn damals schon so entsetzt, dass er sich damals schon gewünscht hatte, dieser Kerl würde verurteilt und hinter Gitter kommen. Aber all’ seine Bemühungen hatten nicht ausgereicht. Mit genau der gleichen Überheblichkeit grinste Klos ihn damals im Gerichtssaal an, als er freigesprochen wurde, aus Mangel an Beweisen, und als freier Mann hinausging.

Wieder und wieder las Kullmann die Akte und versank ganz in der Vergangenheit vor 15 Jahren, als der Fall Marita Volz eine ganze Stadt beherrschte. Er erinnerte sich wieder gut daran, wie viele seiner Kollegen betroffen waren, ganz besonders nach dem Freitod des Mädchens. Marita war, so wie er sie in Erinnerung hatte, nach der grauenvollen Tat, ein dünnes, schon fast durchsichtiges Mädchen geworden.

Die Haut war weiß, ihr Gesicht, das bestimmt einmal hübsch gewesen war, war eingefallen und wirkte durch die Umrahmung der dicken, lockigen dunklen Haare ganz klein und verletzlich. Ihre Augen hatten tiefe schwarze Schatten, die niemals verschwanden. Ein Lächeln konnte man nie sehen, auch wenn man sich noch so bemühte, sie abzulenken, zu erheitern oder zu unterhalten. Sie blieb immer ernst. Sie war zerstört durch diesen Menschen, Herbert Klos. Und nun war Herbert Klos tot. Klein und zusammengesackt hatte er am Steuer seines Wagens mit dem Kopf auf dem Lenkrad vor ihm gelegen. Keine Überheblichkeit mehr, nein, eher die Erkenntnis, dass seine Art zu leben eigene Gesetze hat.

Leise klopfte es. Froh darüber, dass er endlich von diesen schrecklichen Gedanken losgerissen wurde, rief Kullmann: »Herein!«

Anke Deister trat ein.

»Nanu, was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?«

Wehmütig lächelnd ging sie an seinen Schreibtisch und setzte sich ihm gegenüber.

»Sie haben wirklich gute Arbeit geleistet«, lobte Kullmann sofort, aber Anke winkte nur ab.

»Deshalb komme ich nicht.«

Kullmann entgegnete nichts. Er wusste, sie würde von alleine zu sprechen beginnen.

»Ich kannte Marita Volz. Sie lebte in der Nachbarschaft und war drei Jahre älter als ich. Ich hatte damals auch von diesem Fall mitbekommen, ich erinnere mich ganz genau, ich hatte nämlich viel um Marita geweint.«

»Mochten Sie sie so gerne?«

»Wer Marita kannte, musste sie mögen. Sie war der Inbegriff von Liebe und Zärtlichkeit, sie war bei uns Kindern und auch bei älteren Menschen etwas Besonderes. Sie kam oft zu mir herüber, wenn meine Eltern mich allein im Haus ließen. Das waren immer tolle Tage. Marita hatte so etwas Positives an sich. Immer wenn ich böse oder wütend war, konnte sie mich mit ihrer Ausgeglichenheit so besänftigen, dass ich meine eigenen Gefühlsausbrüche nicht mehr verstand. Sie kam mir damals immer vor wie ein guter Engel.«

»Hatte Marita viele Freunde in der Nachbarschaft?«

»Ja, sie hütete viele Kinder aus der Nachbarschaft und alle Mütter waren froh über Marita, weil sie so zuverlässig war und alle Kinder sie liebten.«

»Wissen Sie Anke«, stöhnte Kullmann schwerfällig, »dieser Fall macht mich so unendlich traurig. Meine Stimmung ist in den letzten Jahren ohnehin nicht mehr die beste, aber dieser Fall setzt allem die Krone auf. Am liebsten würde ich das Handtuch werfen und etwas ganz Neues anfangen. Aber was?« Verächtlich lachte er über sich selbst. »Außer der Polizeiarbeit kann ich nichts. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, Elend, Leid und Unglück zu sehen. Mit zuzusehen, wie Menschen vernichtet wurden, ohne ihnen helfen zu können. Lange Zeit krampfhaft bemüht, etwas zu verändern auf dieser schlechten Welt, und doch nichts erreicht. Alles was ich wirklich erreicht habe, ist, dass ich alt geworden bin, die Last vieler Schicksale mit mir herumtrage und mich im Kreis bewege. Und nun das hier. Dieser Fall hatte mich damals schon bewegt. Nun muss er doch tatsächlich wieder mit all seiner Macht in mein Gemüt eindringen und mich an mein damaliges Versagen erinnern. Anstatt abzuschalten, zu vergessen, werde ich wieder auf Fälle gestoßen, die längst Vergangenheit sein sollten.« Leise seufzte er und fügte schicksalsergeben an: »Möglicherweise muss es so sein, denn es gibt zu viele Schicksale, bei denen ich nicht helfen konnte - wo die Gerechtigkeit ihren eigenen Weg gegangen ist. Auf diese Weise soll ich noch kurz vor meinem Ende wieder daran erinnert werden, dass ich einfach versagt habe. Ich soll den Platz wohl für jemanden frei machen, der dieses Elend besser in den Griff bekommt. Vielleicht ist das das Resümee meiner 30 Dienstjahre.«

Anke schüttelte heftig den Kopf: »Um Gottes willen, Kullmann. So dürfen Sie niemals denken. Sie haben mit Gewissheit mehr geleistet für die Gesellschaft als manch einer von uns es jemals schaffen wird. Wo kämen wir hin, wenn wir bei dieser Arbeit keine Moral hätten. Sie sind unsere einzige Säule der Moral. Solche Leute brauchen wir einfach. Sie arbeiten für das Gesetz, wie es niemand sonst fertig bringt. Wo wären wir hier ohne Sie? Wir anderen sind doch viel zu impulsiv und unerfahren, um ihre Arbeit so souverän ausführen zu können. Von Ihrer Erfahrung können wir nur lernen.

Leider hat jeder Fall zwei Seiten, da gibt es nicht einfach ein ›Ja‹ und ein ›Nein‹. Unsere Aufklärungsarbeit wird davon nicht tangiert. Was die Justiz am Ende daraus macht, darauf haben wir keinen Einfluss. Glauben Sie trotzdem niemals, nichts erreicht zu haben. Sie sind hier für uns ein großes Vorbild.«

Kullmann lächelte schwach. Er fühlte sich auch schwach. Die Erinnerung an Marita Volz hatte seinem ohnehin schwachen Selbstvertrauen einen bösen Rückschlag versetzt. Jedoch in der Kollegin Anke Deister sah er einen Hoffnungsschimmer. Sie war in ihren jungen Jahren schon so erfahren und klug, sie kannte die Menschen, konnte auf sie eingehen, verstand es mit Opfern und Tätern umzugehen, sie war die Richtige für diese Arbeit. Sie war bedacht und sachlich, niemals kam von ihr ein voreiliges Urteil.

»Ich bin froh, dass ich Sie habe, wirklich. Sie machen nicht nur eine hervorragende Arbeit, sondern schaffen es auch immer wieder, mich aufzumuntern und von senilen Gedanken abzulenken.«

»Also ich muss schon bitten, Sie sind nicht senil.«

»Wie kann man einem Menschen wie dieser Marita nur ein Leid zufügen? Verstehen Sie so was? Ich kann es nicht begreifen. Ich erinnere mich wieder gut an sie, sie war so zierlich und zerbrechlich und still«, murmelte Kullmann. Er schien sich fast völlig in der Vergangenheit zu bewegen.

 

Herbert Klos saß in dem Gerichtssaal und grinste immer wieder zu Kullmann herüber, der gerade als Zeuge vernommen wurde. Er wurde über die Beweise und Indizien befragt, die für Herbert Klos’ Schuld sprachen. Während der Verteidiger von Marita Volz ihn vernahm, war Kullmann sogar zuversichtlich, so wie die Vernehmung verlaufen war. Ja zuversichtlich war er, erinnerte er sich mit einem verächtlichen Schnauben. Er hatte doch tatsächlich geglaubt, mit seinen lächerlichen Beweisen, wie zum Beispiel die Blutgruppe des Mädchens, die an Klos’ Kleidern gefunden wurde, etwas beweisen zu können. Er fühlte sich zu diesem Zeitpunkt, als er in dem Gerichtssaal saß tatsächlich als Herrscher über Recht und Unrecht.

Dabei war alles, was dieser Verteidiger ihn fragte, längst bekannt.

Der Verteidiger stand im Grunde genommen nur als Marionette dort und er hatte es erst viel zu spät erkannt. Größere Mächte hatten ihn längst verschluckt. Was interessierte diesen Mann das Leben von Marita Volz?

Sogar die Verletzungen, die Marita augenscheinlich davongetragen hatte, ließ er in dem zwielichtigen Glauben, Marita habe die Möglichkeit gehabt, sie sich selbst zuzufügen. Und doch wollte er glauben, er habe alle davon überzeugen können, dass grobes Unrecht geschehen war.

Als er an die Befragung des Verteidigers geraten war, spürte er vom ersten Augenblick an, dass er verloren hatte. Dieser Mensch konnte ohne Skrupel vorgehen, das Vorleben eines jeden Menschen an den Rand des Abgrunds stellen, ohne diesen Menschen auch nur eine geringfügige Chance zu ihrer Verteidigung zu geben. Er konnte aus einer Heiligen eine Hure machen.

Kullmann grämte sich noch heute bei der Erinnerung an dieses Verhör, das von einem Verteidiger durchgeführt wurde, der sichtlich Genuss daran empfand, das Gesetz zu verdrehen. Alle Aussagen, die es über den Fall Marita Volz gab, sprachen dafür, dass sie niemals zweifelhafte Bekanntschaften gepflegt hatte. Der Fall war so eindeutig klar, dass es zu einer Verurteilung von Herbert Klos einfach hätte kommen müssen. Aber der Fall wurde eingestellt aus Mangel an Beweisen.

Anke, die still Kullmanns Worten gelauscht hatte, meinte: »Marita war durch den dramatischen Tod ihrer Mutter so geprägt, dass sie niemals solch ein Leben hätte führen können. Sie war ein Opfer, in jeder Hinsicht. Selbst verführerisches oder aufreizendes Auftreten konnte man ihr in dem Verfahren nicht vorwerfen, was einige Richter ja gerne tun. Sie war immer hochgeschlossen und so schlicht gekleidet, so dass sie immer ein wenig traurig wirkte, auch wenn sie lächelte.«

Kullmann nickte: »Das ist unsere Justiz. Wie ich schon sagte, wir drehen uns immer wieder im Kreis. Nur der Kreis wird größer. Was hat es bisher genützt, wenn ich einen Fall aufgeklärt habe. Verändert hat sich dadurch gar nichts. Im Gegenteil: Für jeden abgeschlossenen Fall, liegen anschließend zwei neue auf meinem Tisch.«

Kullmann erhob sich von seinem Platz und stellte sich an das Fenster, dessen trostloser Ausblick genau in seine Stimmung hineinpasste.

»Aber nicht nur das. Noch viel schlimmer ist es im Fall Marita Volz gekommen. Da klärt man mit viel Mühe und Zuversicht einen solchen Fall auf und das Ergebnis ist, dass der Täter aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird und die ganze Arbeit hat sich als Zeitverschwendung herausgestellt. Der Täter ist auf freiem Fuß und kann weiter Unheil anrichten. Liebe Anke, verstehen Sie jetzt, warum ich manchmal so bedrückt bin?«

»Ja, jetzt verstehe ich Sie besser. Die Erfahrungen, die sie gemacht haben, haben aus Ihnen diesen Menschen gemacht. Ich hatte bis jetzt immer einen großen Ehrgeiz, aber als ich auf den Fall von Marita Volz gestoßen bin und endlich gesehen habe, was daraus gemacht wurde, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob mein Ehrgeiz so angebracht ist.«

Mit einem Blick, so zuversichtlich wie nur möglich, schaute er die junge Kollegin an und sagte: »Sie sind noch jung, lassen Sie sich nicht entmutigen. Ihre Einstellung zu dieser Arbeit gefällt mir.«

Anke schwieg eine Weile. Ebenfalls stand sie auf und stellte sich ans Fenster. Die Sonne strahlte auf die schmutzverschmierten Fensterscheiben und spendete eine wohlige Wärme, die sie aber eher unbehaglich empfand.

»Wissen Sie, Rudolf Volz, Maritas Vater, ist ein gebrochener Mann. Ich kenne ihn seit Jahren und sehe ihn auch oft. Jedes Mal überkommt mich dieses Gefühl, helfen zu müssen. Aber wie? Der Schmerz, den dieser Mann mit sich herumträgt, ist unübersehbarbar. So etwas beeinflusst schon mein Handeln und Denken. Ich weiß, dass ich nicht souverän über den Dingen stehe und habe auch deshalb diesen Beruf gewählt. Wohl aus dem gleichen Motiv, wie viele andere auch: die Welt zu verbessern. Lächerlich, nicht wahr?«

»Nein, nicht lächerlich. Wir alle haben so angefangen, auch ich«, beschwichtigte Kullmann sogleich.

Anke wollte gerade das Zimmer verlassen, als Kullmann sie noch fragte: »Was geschah eigentlich mit Maritas Mutter?«

»Wissen Sie das denn nicht? Sie wurde vergewaltigt und nahm sich kurze Zeit später das Leben.«

Sie schluckte.

»Gab es auch bei ihr einen Prozess?«

»Nein, der Mann, den sie als Täter angab, war Polizist, deshalb kam es nie zum Prozess.«

Leise Musik drang aus dem Nachbarbüro zu Kullmann herüber.

Der Richtung nach schloss Kullmann, dass sie aus Hübners Zimmer kam. Kullmann ärgerte sich über die Gleichgültigkeit dieses jungen Mannes, die es ihm ermöglichte, so unbeschwert durch das Leben zu gehen. Hübners ganze Lebenseinstellung wirkte so locker und sorglos. Sein Aussehen brachte ihm den ganzen Erfolg bei den Menschen, ohne dass jemand sich die Mühe machte, hinter die Fassade zu schauen. Warum sollte er dann dieses Ass nicht ausspielen?

Eigentlich hatte er recht. War es nicht vielleicht Neid, was Kullmann bei diesen Gedanken manchmal empfand? Die Tür zu seinem Büro wurde aufgerissen und der junge Kollege stürmte herein.

»Gerade habe ich einen merkwürdigen Anruf bekommen … «, begann er.

Kullmann schaute ihn fragend an.

»… es war eine ältere Männerstimme. Er sagte nur: ›Endlich hat es den richtigen Klos erwischt, der es verdient hat. Lange habe ich darauf gewartet.‹ Auf meine Frage, wer denn am Apparat sei, legte er auf.«

»Der lebenslustige und beliebte Herbert entpuppt sich mehr und mehr zu einem Monster“, stellte Kullmann nur fest.

Verwundert ging Hübner auf den Schreibtisch zu, als sein Blick auf die Akte Marita Volz fiel. Oben auf lag ein großes Foto von ihr, aus einer Zeit vor dem Verbrechen.

»Ist das Marita Volz, das Vergewaltigungsopfer?«

»Ja.«

»Jetzt erinnere ich mich wieder. Ich kannte dieses Mädchen. Als das passierte, war ich noch bei der Bundeswehr«, schüttelte Hübner den Kopf. »Aber dass es diese Marita mal treffen würde, hatten wir uns damals schon fast denken können.«

»Was willst du damit sagen?«, hakte Kullmann sogleich erbost nach.

»Na, so wie die aussah. Da konnte kein Mann wegsehen.«

»Berechtigt gutes Aussehen zur Vergewaltigung?«

»Nein, aber die hat es doch darauf angelegt mit ihrem ewigen geheimnisvollen Mona-Lisa-Lächeln. Ich möchte nicht wissen, was die den Männern versprochen hatte.«

»So, und daraus kannst du schließen, dass Marita dieses Schicksal verdient hat. Weil sie hübsch war und dieses Lächeln hatte. Weißt du überhaupt, was Marita für ein Mensch war? Nein. Und warum nicht? Weil es dich nicht interessiert. Probleme sind dir zu kompliziert. Du machst jeden Fall einfach und klar. Welche Schicksale dahinterstecken, interessiert dich nicht.«