Mehrsprachigkeit und Bildung in Kitas und Schulen

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2.2 Quersprachigkeit: zur translingualen Logik des dynamischen Mehrspracherwerbs

Im deutschsprachigen Raum beschreibt der Begriff „Quersprachigkeit“ den „multiplen Sprachgebrauch“ mehrsprachiger Menschen, indem er sich auf „ein im pragmatischen Sinn verändertes Verständnis von Sprache“ bezieht (Rösch 2009:235). Mehrsprachige Kinder erwerben und gebrauchen ihre Sprachen nicht nacheinander oder parallel zueinander, sondern dynamisch und komplementär. Sie bekommen die Gelegenheit, ihre „quersprachige Kompetenz“ zu entwickeln, indem sie mit Sprachen spielen, diese wechselnd verwenden oder mischen bzw. „quer durch sie hindurch“ handeln lernen (Günther List 2004:133; vgl. Gudula List 2013:185). Der Begriff Quersprachigkeit ergänzt somit den Begriff Mehrsprachigkeit und soll

die translinguale Logik eines Sprachenlernens markieren, bei dem sprachpsychologisch […] die metasprachlichen und metakognitiven Leistungen im Vordergrund stehen: Sprachen durch Sprachen (hindurch) Lernen und Gebrauchen, quer durch Sprachen hindurch Handeln.

(List 2004:139; Hervorhebung i.O.)

Für den Erwerb einer neuen Sprache ist es zwar unerlässlich, dass auch entsprechende Bildungsangebote im Alltag der Kindertageseinrichtung gemacht werden und dass die zu erlernende Sprache nicht nur in der Kindergruppe kommunikativ eingesetzt wird (vgl. List 2013:186). Dies bedeutet aber nicht, dass immer und unter allen Umständen ausschließlich die sogenannte Zielsprache bzw. die (zukünftige) Schul- und Unterrichtssprache verwendet werden soll. Das Beharren auf Einsprachigkeit in der frühpädagogischen Praxis ignoriert die heteroglossische Realität in Migrationsgesellschaften (zum Begriff Heteroglossie siehe Kapitel 1) und somit auch die realen Bedingungen mehrsprachiger Sozialisation in (neu) zugewanderten Familien. Im Gegensatz dazu verweist das Konzept eines dynamischen Mehrspracherwerbs (Riehl 2014:15) bzw. der Ansatz eines „dynamic bilingualism“ (García/Li Wei 2014:14) auf die Flexibilität mehrsprachiger Praxis: Denn „the language practices of bilinguals are complex and interrelated“, sie entstehen nicht linear und funktionieren auch nicht getrennt voneinander (ebd.). In mehrsprachig organisierten familialen Situationen und in Bildungseinrichtungen werden die zu erwerbenden Sprachen und Sprachvarietäten nicht als Entitäten, etwa autonom, erworben oder gelernt (vgl. Panagiotopoulou 2016:16f.). Mit dem Begriff dynamischer Mehrspracherwerb sollen additive Vorstellungen von der kindlichen Sprachentwicklung überwunden werden, denn:

Sprachwissen und Sprachkompetenz eines Mehrsprachigen [bestehen] nicht aus getrennten oder trennbaren Subsystemen (L1, L2, L3 usw.), sondern bilden ein holistisches dynamisches System, in dem jede Veränderung Auswirkungen auf alle Subsysteme hat.

(Riehl 2014:15)

Aktuelle neurolinguistische Studien zur mehrsprachigen Entwicklung bestätigen und übertreffen sogar die bekannte Interdependenzhypothese, „showing that even when one language is being used, the other language remains active and can be easily accessed“ (García/Li Wei 2014:14).

Mit dem theoretischen Konzept „translanguaging“ ist diese Komplexität beim Erwerb und Gebrauch mehrerer Sprachen jenseits von einsprachigen Normen zu beschreiben. Bereits mehrsprachige Kinder verfügen über ein Sprachenrepertoire, „one linguistic repertoire from which they select features strategically to communicate effectively“ (García 2011a:1). Ähnlich haben Jørgensen, Karrebæk, Madsen und Møller die Bezeichnung „polylingual languaging“ in die Fachdiskussion eingeführt, um die Kommunikationspraxis von mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen im Kontext von durch (sprachliche) Diversität geprägten Migrationsgesellschaften zu beschreiben (vgl. Jørgensen, Karrebæk, Madsen, Møller 2011).

Indem Mehrsprachige situativ passend, flexibel, mehr- und quersprachig bzw. translingual handelnd lernen, lernen sie auch in mehrsprachigen Situationen angemessen zu kommunizieren (vgl. García/Li Wei 2014:22). Translanguaging legt den Fokus auf die Praxis des sprachenübergreifenden ‚languaging‘, auf die individuelle und originelle Sprachverwendungspraxis der Sprecherinnen und Sprecher: „the speaker’s complete language repertoire“ (vgl. ebd.:109f.). Die Beschreibung von Sprachlichkeit oder Sprachigkeit setzt die Betrachtung von Sprache als soziale Praxis (und nicht nur als System) voraus:

Translanguaging takes the position that language is action and practice, and not a simple system of structures and discreet sets of skills. That’s why translanguaging uses an -ing form, emphasizing the action and practice of languaging bilingually.

(García 2011a:1; Hervorhebung d. Panagiotopoulou)

Canagarajah hat den Begriff „translingual practice“ eingeführt, um die dynamischen und fließenden „language practices in multilingual encounters“ zu konzeptualisieren (Canagarajah 2013:8, zit. nach García/Li Wei 2014:40). Es geht um den Versuch, die komplexe translinguale Praxis von mehrsprachigen Individuen in mehrsprachigen Kontexten als Realität anzuerkennen. Insbesondere für Kindertageseinrichtungen, wo junge Kinder gerade dabei sind ihre Sprache(n) zu erwerben, ist diese Betrachtungsweise besonders treffend und hilfreich, wenn es darum geht, ihre konkreten familialen Sozialisationsbedingungen zu berücksichtigen, ohne sie pauschal zu problematisieren.

Die Fähigkeit mehrsprachiger Kinder, ihre „gesamten sprachlichen Ressourcen nutzen zu können“, wird „als Multicompetence bezeichnet“ (Riehl 2014:15; siehe dazu auch Kapitel 1). In der Praxis zeichnet sich diese Fähigkeit dadurch aus, dass Kinder den kommunikativen Anforderungen der jeweiligen Situation und ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend ein- aber auch mehr- und quersprachig handeln. Von dieser heteroglossischen Realität und Praxis ausgehend ist eine alltagsintegrierte und inklusive Sprachbildung in frühpädagogischen Feldern zu gestalten.

2.3 Auf dem Weg zu einer Didaktik der Mehr- und Quersprachigkeit

Mit dem Titel „Mehrsprachigkeit institutionell sichtbar machen“ vertreten Chilla und Niebuhr-Siebert (2017:98) einen inklusiven und zugleich alltagsintegrierten Ansatz mehrsprachlicher Bildung, den sie wie folgt begründen:

Mehrsprachige Bildung lebt von den Möglichkeiten, die eine Einrichtung zur Entwicklung aller Sprachen eines Kindes bietet. Mit anderen Worten: So lange mehrsprachige Kommunikation unsichtbar bleibt, kann Mehrsprachigkeit nicht als Bildungsressource genutzt werden.

(Chilla/Niebuhr-Siebert 2017:98f)

Insbesondere in der frühen Kindheit und im Vorschulalter kann die „Förderung von Mehrsprachigkeit (…) nicht als Förderung additiver systematischer Kenntnisse verstanden werden“ (List 2007:10). Es geht vielmehr darum, ein „Handeln quer durch die in der Institution vorgefundenen Sprachen hindurch“ zu fördern. Mit der Inklusion aller mitgebrachten Sprachen bzw. unter Berücksichtigung der komplexen Sprachwelten der Kinder wären auch konkrete Ziele zu erreichen wie zum Beispiel:

Symbolische Dienste unterschiedlicher Sprachen und Register erkennen, zwischen ihnen unterscheiden, sie womöglich selbst mischen oder wechselnd benutzen, sie zum Objekt des Nachdenkens über die Vielgestaltigkeit der Sprachwelten machen.

(List 2007:10)

In einer früheren Publikation von Mario Wandruszka aus dem Jahre 1979, die in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Literatur wiederholt zitiert und explizit gewürdigt wird (vgl. z.B. Fürstenau/Gomolla 2011:22; Fürstenau 2011:29f.), wird ebenfalls für eine Inklusion aller Sprachen und Sprachvarietäten plädiert. Auch hier wird die gelebte Mehrsprachigkeit der Heranwachsenden als Ausgangspunkt aller didaktischen Überlegungen und Handlungen betrachtet: Die pädagogischen Fachkräfte sind als „Erzieher[innen] zur Mehrsprachigkeit“ zu verstehen (Wandruszka 1979:18), die zunächst alle „von den Kindern mitgebrachten Sprachen, Dialekte, Regiolekte und Soziolekte in ihrem Eigenwert erkennen und anerkennen“ und erst davon ausgehend die Kinder in die Sprache der Schule bzw. in die sogenannte „Bildungssprache einführen“ (ebd.:14f.).

Im deutschsprachigen Raum wird in den letzten Jahren versucht, den herkömmlichen Grammatikunterricht der Schule durch deskriptiv-analytische Sprachreflexionen zu erweitern oder zumindest die vorrangig normativen Ansätze der Deutschdidaktik auch für nicht standardsprachliche Varietäten der deutschen Sprache zu öffnen (vgl. Reich/Krumm 2013:84). Seit den 1990er-Jahren gibt es darüber hinaus verschiedene mehrsprachigkeitsdidaktisch ausgerichtete Ansätze (von Hans Reich, Ingelore Oomen-Welke, Basil Schader u.a.). Diese konzeptionellen Überlegungen greifen auf gemeinsam geteilte Maximen zurück, die auch für den Elementarbereich relevant sein können. Es wird davon ausgegangen,

 dass Kinder ihr gesamtes Sprachenrepertoire benötigen, um (sprachlich) zu lernen. Daher sollen alle Kinder auch in pädagogischen Feldern die Möglichkeit erhalten, ihre vielfältigen sprachlichen Kompetenzen und Praktiken selbstständig zu implementieren, insbesondere wenn sie damit beginnen, eine weitere, für sie mehr oder weniger neue Sprache oder Sprachvarietät (z.B. ein auf Schriftlichkeit basierendes Register) zu erwerben (siehe Kapitel 2.2 und Kapitel 3),

 dass im pädagogischen Kontext alle (Familien-)Sprachen – unabhängig von ihrem sozialen Prestige und offiziellen Status – als gleichwertig anerkannt werden sollen, da sie auch mit der Identitätsbildung der Kinder zusammenhängen. Aus diesem Grund dürfen sie gerade im Kontext von Bildungseinrichtungen nicht ausgeblendet oder sogar marginalisiert werden.

 

Diese konzeptionelle Wende zur Mehrsprachigkeit wird im englischsprachigen Raum als „multilingual turn“ (Conteh/Meier 2014) bezeichnet und ist allmählich auch im deutschsprachigen Raum beobachtbar: In Österreich wurden entsprechende Prinzipien und Ziele einer „Mehrsprachigkeitsdidaktik“ (Reich/Krumm 2013) und in der Schweiz konzeptionelle Überlegungen zur Förderung von „Mehrsprachigkeitskompetenz“ (Berthele 2010) formuliert. In Deutschland wurde bereits vor einigen Jahren eine interkulturelle mehrsprachige Deutschdidaktik für die Schule konzipiert (vgl. Oomen-Welke 2003) und für eine „Didaktik der Quersprachigkeit“ in Kindertageseinrichtungen (List 2004) plädiert. Die sogenannten „dynamic plurilingual pedagogies“ (García/Flores 2012:244), worunter auch das Konzept „translanguaging pedagogy“ (García 2009a; García/Li Wei 2014) einzuordnen ist, sind konzeptionell vergleichbare Ansätze. Auch sie zielen allerdings hauptsächlich auf eine Neuorientierung des schulischen Unterrichts und beziehen sich seltener auch auf die frühpädagogische Praxis. Aus einer sprachdidaktischen Perspektive lässt sich hier die kritische These aufstellen, dass paradoxerweise insbesondere jüngere Kinder nicht dort abgeholt werden, wo sie gerade stehen, nämlich mitten im dynamischen Mehrspracherwerb, der ohnehin translingual verläuft (siehe Kapitel 2.2). Und so dominieren in der frühpädagogischen Praxis additive und sprachtrennende Vorgehensweisen, obwohl neuere Ergebnisse psycholinguistischer Erwerbsforschung belegen, wie Hopp, Thoma und Tracy (2010:611) zusammenfassend feststellen, dass im frühen Kindesalter „implizite Sprachlernprozesse“ verfügbar sind, die „möglicherweise sogar auf für Sprache spezialisierte Lernmechanismen aufbauen“ und einen zügigen und erfolgreichen Spracherwerb von weiteren Zielsprache(n) innerhalb von wenigen Jahren gewährleisten. Nicht die üblichen Fördermaßnahmen, sondern der „kindliche Spracherwerb“ hat sich also „als ein überaus effizientes Modell für Sprachförderung“ erwiesen (ebd.). Kinder benötigen vergleichbare authentische Situationen und Interaktionen auch im KiTa-Alltag, um ihr sprachliches Repertoire zu erweitern.

So kann die natürliche, mehr- und quersprachige Alltagspraxis in (neu) zugewanderten Familien nicht (und keinesfalls pauschal) als nicht lernförderlich betrachtet werden. In der Regel erwerben Kinder im Kontext mehrsprachiger Familien ein umfassendes linguistisches Repertoire. Sie wachsen mit Eltern und Geschwistern auf, die (auch) die Sprache der Mehrheitsgesellschaft in ihrem Alltag, im Beruf, in der Schule etc. verwenden und darüber hinaus auch mehr- und quersprachig kommunizieren, um ihre translokalen Beziehungen mit weiteren Familienmitgliedern, Freundinnen und Freunden etc. aufrechtzuerhalten. Sobald die Kinder eine Kindertageseinrichtung besuchen bzw. „sobald sich das Umfeld über die Familie hinaus erweitert“, kann die „Didaktik einer Quersprachigkeit“ ansetzen (List 2004:133). Aus diesem Grund sollen Kindertageseinrichtungen „respektvoll mit den familialen Sprachwelten“ der Kinder umgehen und zwar unabhängig davon, ob diese aus „hochsprachlichen“, „dialektalen“ oder „durchmischten“ Registern bestehen. Die „erste Sprachwelt“, aus der „ein Kind zur Kindertageseinrichtung kommt“, bildet nämlich „eine Plattform“ für die Entwicklung einer „in der modernen Welt“ lebenswichtigen, quersprachigen Kompetenz (ebd.).

Ähnlich argumentiert ein paar Jahre später García, indem sie für eine für die Belange des 21. Jahrhunderts geeignete(re), mehrsprachige Pädagogik plädiert (García 2009b), in der alle Sprachen bzw. „all the language practices“ der beteiligten Kinder berücksichtigt werden (García/Kano 2014, zit. n. García/ Li Wei 2014:225). Denn durch die Inklusion ihrer Sprachen soll der Gebrauch und Erwerb der weiteren Zielsprache(n) nicht behindert, sondern im Gegenteil unterstützt werden.

Ausgehend vom erziehungswissenschaftlichen Inklusionsdiskurs im deutschsprachigen Raum gilt es, eine pädagogische Praxis zu überwinden, die ausschließlich eine Varietät des Deutschen fördert und elaboriert und so die Lebenswirklichkeit mehrsprachiger Kinder aus Bildungseinrichtungen systematisch exkludiert (vgl. Panagiotopoulou/Rosen 2015b). Die immer noch verbreiteten sprachseparierenden Maßnahmen vorschulischer Förderung (zu einer kritischen Betrachtung vgl. Christmann/Panagiotopoulou 2012, Neumann 2015) gilt es ebenfalls zu überwinden, wenn es darum gehen soll, mehrsprachige Konzepte nicht nur für die Schule, sondern auch für die KiTa zu entwerfen.

2.4 Translanguaging in der frühpädagogischen Praxis

„I don’t know what’s going on in their heads but it is amazing! They are using language and you realize that they are really trilingual. They just did three languages within a matter of a minute!“

„… I say ‚oh es azul‘ and she’ll go ‚blue‘. It means that she understands the Spanish but she’s responding in English but she understands that it’s ‚azul‘‘“

(Ausschnitte aus Interviews mit pädagogischen Fachkräften in einer mehrsprachigen Kindertageseinrichtung in den USA)

(entnommen aus Garrity, Aquino-Sterling, Day 2015:187f.)

Neue Konzepte mehrsprachiger Bildung gewinnen an Bedeutung, sobald alle Kinder als angehende Mehrsprachige, als „emergent bilinguals“ (García/Kleifgen 2010:3) anerkannt und adressiert werden (siehe auch Kapitel 4). Didaktische Überlegungen und Konzepte zur mehrsprachigen Bildung fokussieren dabei nicht abstrakt auf autonome Lerngegenstände, sondern auf konkrete Situationen und ihre Sprecherinnen und Sprecher mit ihren unterschiedlichen Spracherfahrungen, Sprachbiographien und Sprachpraktiken (vgl. García/Li Wei 2015:225). In konkreten didaktisch vorbereiteten Situationen kann somit das linguistische Repertoire, das mehrsprachige Kinder außerhalb von Kindertageseinrichtungen ohnehin verwenden, auch in der frühpädagogischen Praxis authentisch genutzt werden. García, Flores und Woodley (2012) konkretisieren, wie der Gebrauch von Sprachen in einer multilingualen Lerngruppe didaktisch konzipiert werden kann: Zentral und zugleich lernförderlich sind in diesem Kontext sogenannte „transglossic spaces“ bzw. quersprachige Spielräume, in denen Wissen produziert und tiefes Verständnis erreicht werden kann. Über den Wissenserwerb hinaus trägt diese pädagogische Praxis auch zur Identitätsbildung der Kinder bei, die sich als (angehende) Mehrsprachige verstehen und erleben. Mehr noch: Es geht darum, für alle Kinder „coherent identifications and performances as bilinguals“ im pädagogischen Alltag zu initiieren (García, Flores, Woodley 2012:48).

Die zwei vorangestellten Interviewausschnitte entstammen einer Feldstudie (der San Diego State University, USA) über eine bilinguale Einrichtung für Babys und junge Kinder im Alter zwischen 5 und 16 Monaten aus englischsprachigen sowie englisch-spanischsprachigen Familien. Die daran beteiligten Kinder wurden von den Forscherinnen und Forschern als „social novices“ beschrieben, die zunächst nicht an implizite oder explizite Regeln zur sprachlichen Kommunikation, „about what language to use when, with whom, or in what context“ (Garrity, Aquino-Sterling, Day 2015:193), gebunden waren. Interessanterweise sollten die Kinder im Kontext dieser Einrichtung lernen, ihre Sprachen möglichst zu trennen und je nach Situation und Gesprächspartner oder -partnerin einsprachig zu handeln. Doch genau dies ist nicht aufgetreten, da die pädagogischen Fachkräfte sich auf die translinguale Praxis der Kinder eingelassen haben, sodass insgesamt im Rahmen der Studie das Phänomen Translanguaging empirisch erfasst werden konnte. Die Forscherinnen und Forscher bringen auf den Punkt, was ihre Daten insgesamt gezeigt haben, nämlich „the reality of a multilingual infant classroom in which both children and teachers used language fluidly as they went about their daily lives“ (ebd.:189; Hervorhebung i.O.). Die beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen stellten dabei fest – wie die ausgewählten Interviewausschnitte exemplarisch verdeutlichen – dass alle Kinder auf diese Weise lernten, effektiv zu kommunizieren, indem sie ihr gesamtes Repertoire nutzten und dadurch ihre sprachlichen Fähigkeiten erweiterten. Die Ergebnisse dieser Studie entsprechen den Beobachtungen insbesondere in bilingualen Einrichtungen, wo sowohl Kinder als auch Erwachsene „in order to learn and teach […] use what we are calling here translanguaging“ (García/Li Wei 2014:59). Dieses Konzept wird im Zusammenhang mit einer grundlegenden Wende zur Mehrsprachigkeit als eine für alle Altersstufen geeignete Pädagogik definiert. Canagarajah hat allerdings darauf hingewiesen, dass wir uns bei der systematischen Dokumentation von „translanguaging strategies“ und deren Theoretisierung noch ganz am Anfang befinden (Canagarajah 2011:415). Daher schlägt er einen empirischen Zugang vor, wenn er schreibt, dass wir damit beginnen sollen, die Praktiken mehrsprachiger Individuen konsequent zu beobachten. Feldstudien, die Translanguaging-Praktiken im Kontext mehrsprachiger Kindertageseinrichtungen empirisch erfassen und dokumentieren, wurden in den letzten Jahren in den USA (García 2011b) und darüber hinaus in Frankreich (vgl. Hélot/O’Laoire 2011; Latisha/Young 2017), Israel (vgl. Schwartz/Asli 2014), der Schweiz (Neumann, Kuhn, Tinguely, Brandenberg 2015) und in Luxemburg (vgl. Kirsch 2017) durchgeführt.

Ausgewählte Befunde dieser Feldstudien sind für eine Neuorientierung frühpädagogischer Praxis und einer Wende zur Mehrsprachigkeit besonders relevant:

1 Die authentische Kommunikation mehrsprachiger Kinder ist besonders ertragreich, denn sie fördert den Dialog in „transglossic situations“ (Kirsch 2017:160). Kinder nehmen dabei, sowohl monolingual als auch translingual handelnd, neue sprachliche Elemente in ihr Repertoire auf, passen diese kreativ an und setzen sie strategisch ein, um ihre (kommunikativen) Ziele im pädagogischen Alltag zu erreichen.

2 Mehrsprachige Kinder werden als „translinguals“ (Canagarajah 2013:8) angesehen und als kompetente Lernende anerkannt, ihr sprachliches Handeln wird zum Ausgangspunkt pädagogischen Handelns. Das bedeutet: Nicht die Kinder, sondern die Pädagoginnen und Pädagogen passen folglich ihren Sprachgebrauch an, um der Logik des translingualen Lernens folgend (siehe Kapitel 2.1), den Mehrspracherwerb der Kinder zu unterstützen (vgl. Neumann, Kuhn, Tinguely, Brandenberg 2015:25).

3 Der Gebrauch aller im Alltag der Kindertageseinrichtung vorhandenen sprachlichen Ressourcen bedeutet für Kinder keine Überforderung. So können z.B. neben anerkannten Sprachen, wie Englisch und Spanisch, auch Zeichensprachen zum Einsatz kommen, die ebenfalls von den Kindern verwendet und dadurch gelernt werden und zur Kommunikation im pädagogischen Alltag beitragen (vgl. Garrity, Aquino-Sterling, Day 2015).

4 Die Verwendung aller Sprachen und Register, die Kinder mit in die Institution bringen, dekonstruiert die üblichen sozialen Hierarchien: zum Beispiel zwischen Englisch und Spanisch (vgl. García 2011b, Garrity, Aquino-Sterling, Day 2015), Arabisch und Hebräisch (vgl. Schwartz/Asli 2014) oder Deutsch und Französisch (Neumann, Kuhn, Tinguely, Brandenberg 2015). Dies hat eine besondere Bedeutung für die Beteiligung aller Kinder an ihrer eigenen Identitätsbildung. So schreibt beispielsweise Garcia: „Latino children construct their own hybrid linguistic and cultural identities“ (García 2011b:44) bzw. Kinder mit unterschiedlichem „linguistic and cultural background […] construct integrated language identities“ (ebd.:54).

5 Die sprachseparierende Praxis seitens der pädagogischen Fachkräfte wird durch die Sprachpraxis junger Kinder irritiert oder sogar dekonstruiert: „Despite the strict linguistic compartmentalization […], the children cross these boundaries daily, sometimes multiple times during the day“ (García 2011b:41). Kinder orientieren sich dabei an der jeweiligen Situation und/oder der Gesprächspartnerin bzw. dem Gesprächspartner und handeln abwechselnd ein- oder mehr- und quersprachig (vgl. Kirsch 2017).

6 Durch Praktiken des Translanguaging im frühpädagogischen Alltag beginnt auch die frühe Einführung in die (mehrsprachige) Welt der Schriftlichkeit und somit in die Weltliteratur (vgl. Hélot 2011). Wenn beispielsweise in einer Sprache vorgelesen wird, während das Vorgelesene in eine weitere Sprache übersetzt oder mehr- und quersprachig kommentiert wird (vgl. Latisha/Young 2017), erfahren alle (angehenden) mehrsprachigen Kinder, dass Mehrsprachigkeit auch mit Mehrschriftlichkeit zusammenhängt (siehe Kapitel 3).

 

Fragen und Aufgaben

1 Definieren Sie die Begriffe Standardsprache und Sprachvarietät sowie Mehrheitssprache vs. Minderheitensprache (majority vs. minority language) mithilfe linguistischer (nicht nur deutschsprachiger) Lexika. Geben Sie Beispiele für die Hierarchisierung von (Fremd-)Sprachen z.B. Englisch und Russisch im Kontext von national verfassten Bildungssystemen sowie über das unterschiedliche Prestige der Varietäten einer (Landes-)Sprache (z.B. des Deutschen in Nord-, Süd- oder Ostdeutschland). Welche Rolle spielen diese sozialen Unterschiede im Kontext der KiTa bzw. der ersten Bildungsinstitution, in der mehrsprachige Kinder und ihre Familien Erfahrungen mit der institutionellen Sprachenpolitik sammeln?

2 Führen Sie Gespräche mit mehrsprachig lebenden Eltern über ihre Kinder: Mit welchen Einstellungen aber auch Vorurteilen werden sie in der Nachbarschaft, in der Kindertageseinrichtung, in ihrem Bekanntenkreis, in der eigenen Familie etc. bezüglich des Mehrspracherwerbs und der mehrsprachigen Entwicklung ihrer Kinder konfrontiert?

3 Befassen Sie sich mit folgendem Ausschnitt aus einem Interview mit einer Erzieherin an einer Deutschen Schule in Montreal (Kanada) und versuchen Sie zu rekonstruieren, welche Maximen einer Translanguaging-Pädagogik (siehe unter Kapitel 2.4) damit zum Ausdruck gebracht werden:

„Die Kinder sprechen mit mir Deutsch, drehen sich um, sprechen mit der Mutter Französisch und mit dem Freund Englisch. Es gibt aber auch Kinder, denen ist gar nicht bewusst, welche Sprache sie gerade sprechen, dann kann ich sagen „… welche Sprache sprichst du denn zu Hause“ und dann kommt die Antwort „Je parle anglais" […].

„Und wenn ich ein Kind auf Deutsch anspreche und es antwortet mir auf Englisch oder Französisch, akzeptiere ich das genauso, ich bemerke an der Antwort hat es meine Frage verstanden, und das ist für mich wichtig; also die werden nicht forciert ‚Ihr müsst Deutsch sprechen‘ sondern wir lassen jedem Kind individuell seine, sein Lerntempo; (…) ich hatte ein Kind das kam, ‚Frau Esser ich habe zu Hause eh deep deep, was heißt deep‘, und da sag ich ‚ein Tief ‘. ‚Frau Esser ich habe zu Hause ein tiefes, tiefes‘, gleich richtig konjugiert gehabt, und ‚what is a hole‘; na sage ich ‚ein Loch‘ und dann ging‘s wieder von vorne los und dann noch ein drittes Wort gefragt und das in ein Satz, deswegen; also wir setzen uns auch nicht hin und machen ‚Du musst das so und so machen‘.“

Ausschnitt aus einem Interview im Rahmen eines international vergleichenden Forschungsprojektes über Mehrsprachigkeit und pädagogische Professionalität (vgl. Panagiotopoulou/Rosen 2015a; Panagiotopoulou 2017).

1 Befassen Sie sich in Gruppen mit folgenden zwei Thesen und versuchen Sie diese zu belegen oder zu revidieren:

Das Konzept „translanguaging pedagogy“ soll dazu beitragen, dass Mehrsprachigkeit im Kontext von Bildungssystemen nicht defizitär betrachtet wird und dadurch zur Bildungsgerechtigkeit führen (vgl. García 2009a, 2011a; García /Flores 2012).

Laut García und Li Wei (2014:52) handelt es sich beim Translanguaging um einen pädagogischen Ansatz, der in allen ein- oder mehrsprachigen Lerngruppen und von allen pädagogischen Fachkräften, unabhängig davon, ob diese ein- oder mehrsprachig leben, umgesetzt werden kann.

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