Mehrsprachigkeit und Bildung in Kitas und Schulen

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

1.2 Ein- und Mehrsprachigkeit in Bildungsinstitutionen

Es ist ein grundsätzlicher Widerspruch, dass in vielen Kindertageseinrichtungen und Schulen die Kinder bzw. die Schülerinnen und Schüler wie die pädagogischen Fachkräfte und Lehrpersonen oft mehrsprachig sind und trotzdem diese Mehrsprachigkeit im didaktischen Handeln wenig Berücksichtigung findet. Große Bedeutung kommt hierbei der Kindertageseinrichtung als der ersten Bildungsinstitution zu, die Kinder mit einer einsprachigen Realität konfrontiert (vgl. Lengyel 2011:99; Panagiotopoulou 2016:18f.). Daran schließt sich die Schule an: Sie ist die erste Institution innerhalb einer Bildungsbiographie, die sprachliche Kompetenzen in der Schulsprache voraussetzt und dafür in anderen Sprachen, bis auf die gelehrten Fremdsprachen, unberücksichtigt lässt. So werden einige Sprachen als prüfungsrelevant eingestuft und für Unterrichtsdiskurse eingesetzt, andere bleiben unbeachtet. Damit wird eine Vereinheitlichung von Sprachfertigkeiten unterstützt, Vielfalt wird jedoch nicht weiterentwickelt. Auf diese Weise werden in Bildungsinstitutionen gesellschaftliche Hierarchien bestätigt bzw. reproduziert (Skutnabb-Kangas 2000).

Dirim (2010) hat sich intensiv mit der Unterdrückung von Minderheitensprachen, beispielsweise des Kurdischen in der Türkei, sowie mit der Marginalisierung des Türkischen innerhalb und außerhalb der deutschen Schule befasst. In diesem Zusammenhang benennt sie das Phänomen als „(Neo-)Linguizismus“, das sie beschreibt als

ein Instrument der Machtausübung gegenüber sozial schwächer gestellten Gruppen mit der Funktion der Wahrung bzw. Herstellung einer sozialen Rangordnung.

(Dirim 2010:91)

Mehrsprachigkeit stellt laut Krüger-Potratz (2011) eines der „Konfliktfelder in der Schulgeschichte“ Deutschlands dar. In diesem Zusammenhang sind nicht nur die großen Sprachen zu nennen, sondern auch der Umgang der Schule mit den sogenannten „Mundarten“ der deutschen Sprache ist es wert, hinterfragt zu werden:

Über lange Zeit ist der Unterricht, insbesondere in den ‚niedrigen Schulen‘ – den Schulen des Volkes – in der regionalen Sprachvarietät abgehalten worden, die Kinder und Lehrer im Alltag sprachen z.B. in Plattdeutsch, Hessisch, Westfälisch, Bayerisch usw. (s. Sprachatlas des Deutschen Reiches: www.diwa.info/). Doch mit Beginn des 19. Jahrhunderts begann der Streit über die Rolle der Dialekte (Mundarten) in der Schule.

(Krüger-Potratz 2011:57f.)

Bevor also überhaupt die Diskussion um mögliche Probleme aufgrund der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit der Gesellschaft begann, galt bereits die individuelle Mehrsprachigkeit der ortsansässigen deutschen Bevölkerung als Herausforderung für die Schule. Sieger im „Streit über die Mundarten“ (ebd.:57) ist die an der Schriftsprache orientierte, standardisierte Varietät, die heute als „Bildungssprache Deutsch“ bezeichnet, aber bisher nicht klar definiert und operationalisiert wurde (vgl. hierzu auch Kap. 3).1 Dennoch sind die deutschen Dialekte „nie ganz aus der Schule verdrängt worden“, wie Krüger-Potratz (ebd.:58) feststellt: Im Zusammenhang mit den PISA-Ergebnissen der letzten Jahre wurde sogar positiv berichtet, dass die „dialekt-standardsprachliche Zweisprachigkeit“ von Schülerinnen und Schülern (in Bayern, Sachsen etc.) auch ihre besseren Schulleistungen erklären könnte, da diese sich früher mit den Unterschieden zwischen gesprochener und geschriebener Form befassten (ebd.). Parallel dazu ist die stigmatisierende und von der sogenannten „Sprachrichtigkeitsideologie“ geprägte Überzeugung, dass das „Hochdeutsch im Norden Deutschlands“ „das beste Hochdeutsch“ sei, weit verbreitet (Maitz 2014:14). Dies führt dazu, dass alles, was davon abweicht, als defizitär wahrgenommen wird (vgl. Maitz/Elspaß 2012).

Sprachen in Bildungseinrichtungen sind nicht gleich, sondern hierarchisiert: Einige Sprachen werden als wichtig angesehen, andere nicht. Die Herstellung dieser „sozialen Rangordnung“ (Dirim 2010:91) ist nicht mit linguistischen Kriterien zu erklären, sondern auf bildungs- und sprachpolitische Entscheidungen zurückzuführen, die die Praxis der pädagogischen Fachkräfte mitbestimmen (vgl. Panagiotopoulou 2016:18-20; Panagiotopoulou 2017:263ff.). Bildungsinstitutionen bewegen sich daher nicht in einem herrschaftsfreien Raum, sondern können als zentrale Rollenträger bei der Absicherung eines „Natiolekts“ aufgefasst werden (Dirim/Mecheril 2017:450ff.), d.h. einer Konstitution einer Sprachvarietät, die in einem nationalen Kontext als akzeptabel gilt, während andere das weniger sind. Daher ist kritisch zu fragen, welche Positionen die Lehrpersonen in der Sprachenfrage beziehen. Denn die Zulassung oder Ablehnung von Sprachen für Prüfungen, die Begrenzung von Optionen, Hausarbeiten und Prüfungsleistungen in einigen Sprachen zu erbringen und in anderen nicht, wirkt sich auf die Möglichkeiten von Mehrsprachigkeit aus. Insbesondere mit Blick auf eine inklusive Bildung lässt sich sagen, dass das Zulassen aller Sprachen zu sozialer Gleichheit beitragen kann, während die Exklusion ausgewählter Sprachen „die Lebenswirklichkeit mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler aus zugewanderten Familien negiert“ (Panagiotopoulou/Rosen 2015b:164). Es ist in diesem Sinne Aufgabe der Kindertageseinrichtungen und Schulen und der (angehenden) pädagogischen Fachkräfte und Lehrkräfte, zu reflektieren, ob diese Bildungsinstitutionen Kindern und Jugendlichen ausreichend Raum für ihre Entwicklung geben, damit aktuelle sprachliche Praktiken reflektiert, erweitert und verändert werden können.

Um neue Impulse zu setzen, sind in den letzten Jahren verstärkt einige mehrsprachige Konzepte entwickelt worden, die einen gleichberechtigten Gebrauch von Sprachen ermöglichen wollen: Ansätze einer Erziehung zur Mehr- und Quersprachigkeit in Einrichtungen frühkindlicher und vorschulischer Bildung (siehe Kapitel 2) und didaktische Modellierungen eines sprach- und diversitätssensiblen Unterrichts in Schulen sind Beispiele dafür (siehe Kapitel 5). Sollen mehrsprachige Bildungskonzepte jedoch erfolgreich sein, so müssen sie eine grundsätzliche Anerkennung erfahren (Jessner 2017): Es reicht nicht, nur zu behaupten, dass Mehrsprachigkeit positiv sein könne. Eine konkrete, in sprachlichen Handlungen realisierte Anerkennung, die im Unterrichtsdiskurs, in der Bewertung und in Beurteilungen deutlich wird, unterstützt den Lernprozess. Die Lernenden und die Lehrenden selbst geben sich gegenseitig Rückmeldungen und unterstützen sich in ihrer Mehrsprachigkeit. Während die Schülerinnen und Schüler ihre Sprachen nutzen, geben sie auch den Lehrkräften Anregungen für ihre eigene Mehrsprachigkeit. Gemeinsam entsteht so ein diversitätssensibler Unterricht.

1.3 Heteroglossie als individuelle und institutionelle Praxis: mehrsprachiges Wissen, Handeln und Multikompetenz

„Heteroglossia“ (auf Deutsch: Heteroglossie) und „translanguaging“ sind – laut García und Li Wei (2014) – zwei konzeptionell verwandte Begriffe, da beide „the fluid language practices of speakers“ beschreiben, wobei „heteroglossia“ als ein Oberbegriff verstanden wird: „The Bakhtinian concept of heteroglossia, […] serves as an umbrella term for all of these practices, including that of translanguaging“ (García/Li Wei 2014:36). Den Begriff Heteroglossia hat der Literatur- und Sprachwissenschaftler Mikhail Bakhtin (auch geschrieben: Michail Bachtin) in den 1930er-Jahren eingeführt, um zu verdeutlichen, dass Sprachen, wenn sie aus der Perspektive der Sprecherinnen und Sprecher betrachtet werden, keine in sich geschlossenen Systeme sind. Damit soll deutlich gemacht werden, dass eine „einheitliche Sprache“ nicht mit der „lebendigen Sprache“ oder der sprachlichen Realität der Sprecherinnen und Sprecher übereinstimmt (Busch 2015:50). Laut Bakhtin befinden sich nämlich alle Menschen immer in „einem Dialog von Sprachen“ (Bakhtin 1979:186, zit. nach Busch 2015:50f.). Damit ist u.a. „das Bündel an Varietäten, Registern oder Jargons gemeint, das man traditionellerweise mit dem Begriff ‚innersprachliche Mehrsprachigkeit‘ fasst“ (Busch ebd.).

Wie kann nun diese Vielsprachigkeit konzeptionell gefasst werden? In der Mehrsprachigkeitsdiskussion zeigen sich aktuell unterschiedliche Sichtweisen auf die Frage der Einzelsprachen und ihrer Realität. Einerseits gibt es klar abgrenzbare Systematiken von Sprachen: Es liegen Sprachbeschreibungen von Sprache X und Sprache Y vor, wir kennen Gemeinsamkeiten und können Unterschiede klar benennen, z.B. in der Deklination, Morphologie, Wortstellung. Des Weiteren können wir, wenngleich in unterschiedlichen theoretischen Paradigmen, diese systematisieren, untersuchen, testen und unterrichten. All dies ist in vielen Grammatiken und Wörterbüchern aufbereitet und für den Gebrauch operationalisiert, und, wenn es sein muss, sogar als Reisewörterbuch in Taschenbuchgröße erhältlich. Allerdings sind hiervon viele Sprachen nicht erfasst, deren Bedeutung insbesondere für Handel oder Tourismus nicht groß ist, deren Sprecherinnen und Sprecher nur eine relativ kleine Gruppe darstellen, oder Sprachen und Sprachvarietäten, die verboten oder unterdrückt sind.

Während also ein Wörterbuch oder eine Lernergrammatik Sprachen als System begreifbar und lernbar macht, ist die Abgrenzung einer Sprache von einer anderen tatsächlich nicht (ausschließlich) sprachwissenschaftlich zu beantworten. Hierbei kommen neben linguistischen Abgrenzungen wie z.B. der typologischen Distanz, die besondere Lexik sowie gesellschaftspolitische Fragen zum Tragen. Diese hängen auch mit der Frage zusammen, welche Sprache(n) einer Nation zugeordnet werden. Luxemburgisch ist ein Beispiel dafür, wie sich ein Dialekt zur Nationalsprache entwickeln kann und „wie die politische Eigenständigkeit eines Landes den Status einer Sprache beeinflussen kann“ (Marten 2016:166). Sprachen sind selbst veränderlich: Wörter werden aus anderen Idiomen übernommen, Sprachen werden gemischt, Menschen transferieren Sprachwissen von einer Sprache in eine andere und erfinden neue Redewendungen, von denen sie sich aus anderen Sprachen anregen lassen.

 

Schon aus systematischer Sicht ist die Abgrenzung von Sprachen untereinander und von Sprachen und Dialekten also vielschichtig. Noch schwieriger ist es aber, den Gebrauch zu erfassen, weil dieser veränderlich ist. Die alltägliche Sprachpraxis von Sprecherinnen und Sprechern, Gruppen, Institutionen und Gesellschaften zeigt, dass klare Trennungen von Sprachen im Gebrauch oft nicht durchgehalten werden können,

 weil mehrere Sprachen gleichzeitig gebraucht werden,

 weil Sprachen untereinander und aufeinander wirken, und zwar in vielfältigen Interaktionen, auf gesellschaftlicher, institutioneller und individueller Ebene.

Mehrsprachige Sprecherinnen und Sprecher verfügen über Wissen um alle ihre Sprachen. Dieses Wissen interagiert und kann nicht in additiven Vorstellungen als multiple Einsprachigkeit erfasst werden: Mehrsprachigkeit ist mehr und etwas anderes als eine Multiplikation Einsprachiger (Grosjean 1989). Dies zeigt sich unter anderem in einem für Mehrsprachige charakteristischen Sprachgebrauch. So ist das Wechseln zwischen Sprachen, das Code-Switching (Myers-Scotton, Jake, Gross 2002), typisch für viele Mehrsprachige und zeigt die Fähigkeit, mehrere Sprachen miteinander in eine regelkonforme Form zu bringen. Es ist weder ungeregelt noch willkürlich, sondern ein Anzeichen hoher mehrsprachiger Bewusstheit (Özdil 2010). Der gemischte Gebrauch mehrerer Sprachen in sprachlichen Handlungen (zum Phänomen Sprachmischung siehe auch Kapitel 2) erhöht die Möglichkeiten, sich auszudrücken, und ist in mehrsprachigen Gruppen schon in der frühen Kindheit (García/Li Wei 2014:85) und im jungen Schulalter häufig anzutreffen (Li Wei 2014). Ein multikompetenter Ansatz erfasst das Wissen einer Sprecherin oder eines Sprechers über seine Sprachen und deren Einbezug in den Sprachgebrauch in einer ganzheitlichen Sicht als die Fähigkeit, in mehreren Sprachen angemessen handeln zu können (Li Wei 2011). Vor diesem Hintergrund ist also zu fragen, ob es nicht sinnvoller ist, die Kompetenz im Umgang mit Sprachenvielfalt und Heteroglossie zu diskutieren und zu fördern, anstatt die Idee von klar abgrenzbaren Sprachen zu verfolgen. Denn unter Berücksichtigung der Sprachen, die alle Kinder und Jugendlichen im Rahmen ihrer Bildungsbiographie erwerben, sind alle Menschen als potentielle oder angehende Mehrsprachige zu betrachten (vgl. García/Kleifgen 2010:3). Zwei- und Mehrsprachige verfügen über ein komplexes, multilinguales Repertoire an Praktiken, das es ihnen ermöglicht, flexibel über Sprachen hinweg zu kommunizieren. Ihre beobachtbaren pluri- oder multilingualen Praktiken werden ressourcenorientiert als Multikompetenz erfasst:

A multicompetence approach enables us to investigate the structural, cognitive, and sociocultural dimensions of codeswitching in an integrated and holistic way. It also has the added value of revealing the multilingual language users’ creativity and criticality that manifest in their multilingual practices.

(Li Wei 2011:374)

Multicompetence, i.e., the knowledge of more than one language in the mind, is part of the individual capacity of a person and develops in interaction with his or her social or educational environment. … A multicompetent person is therefore an individual with knowledge of an extended and integrated linguistic repertoire who is able to use the appropriate linguistic variety for the appropriate occasion.

(Franceschini 2011:351)

Das Konzept der Multikompetenz erweitert die Ebenen der Mehrsprachigkeit von Gesellschaft, Institution und Individuum um den Aspekt der Interaktion. Unter Interaktion sollen hier sowohl das intraindividuelle Geschehen auf mentaler Ebene (Cook 2016) als auch das Zurückgreifen auf ein mehrsprachiges Repertoire in sprachlichen Handlungen verstanden werden (Franceschini 2011). Beides sind multiple sprachliche Kompetenzen. Ein Repertoire ist dabei nicht als stabil und geographisch bestimmt zu verstehen, sondern als veränderlicher und in den sozialen Praxen verankerter vielsprachiger Sprachgebrauch anzusehen (Busch 2014). Damit verwenden Mehrsprachige ihre Sprachen als Ressource für erfolgreiche Kommunikation und gestalten ihre Identitäten in mehrsprachigen Handlungen (Cenoz/Gorter 2014). Ein an Multikompetenz orientierter Ansatz bezieht ein, wie sich das Wissen über mehrere Sprachen in den verschiedenen Interaktionen entwickelt (Cook/Li Wei 2016).

So zeigt sich als Fazit, dass einerseits aus struktureller Sicht Sprachen von anderen abgegrenzt und verstanden werden können. Die Konzepte Heteroglossie und Multikompetenz zielen auf eine Sprachpraxis ab, in der Sprecherinnen und Sprecher sprachliche Mittel aus einem Repertoire für sich einsetzen, das über die einzelne Sprache hinausgreift.

Fragen und Aufgaben

1 Beratungsanfrage an Montanari (2016):„Mein Mann und ich kommen gebürtig aus Bulgarien und leben seit 14 Jahren in Deutschland. Nun kam unser Sohn Alexander zur Welt. Er ist jetzt 4 Monate alt. Ich hatte mir vorgenommen, mit ihm Deutsch zu sprechen und mein Mann Bulgarisch. Allerdings wurde mir gesagt, ich soll das nicht machen, da Deutsch nicht meine Muttersprache ist. Ich mache keine Fehler beim Sprechen, habe aber eine slawische Aussprache.Zu Hause sprechen wir vorwiegend Bulgarisch, ab und zu leider sogar gemischt Deutsch-Bulgarisch-Griechisch. (Ich weiß, dass das für den Kleinen nicht gut sein kann, deshalb versuchen wir es jetzt schon zu vermeiden.)Ich habe Sprachwissenschaften studiert und würde ganz gern meinem Sohn mehrere Sprachen beibringen wollen.In Bulgarien sind die Großeltern.Wir leben in Deutschland.Dazu haben wir ein Haus in Griechenland.Und Englisch muss heutzutage sein.Ich möchte aber das Kind nicht überfordern, deshalb wäre zum Anfang super, wenn es Deutsch und Bulgarisch lernt.Wie machen wir das am besten?Darf ich zu ihm Deutsch sprechen, wenn das nicht meine Muttersprache ist?Wann fangen wir am besten an?“Diskutieren Sie, wie Sie hier beraten würden. Berücksichtigen Sie dabei folgende Aussagen:

Wenn wir sprechen, befinden wir uns immer in „einem Dialog von Sprachen“ (Bakhtin 1979:186).

„Translanguaging is the discursive norm in bilingual families and communities. For example, the only way to communicate in bilingual/multilingual family events is to translanguage“ (García/Li Wei 2014:23).

B. Mehrsprachigkeit und Bildung in der KiTa

Julie A. Panagiotopoulou

2 Translanguaging: Mehr- und Quersprachigkeit im Erwerb und Gebrauch

Die vierjährige Lena hört zu, während ihre Erzieherin spricht; plötzlich stellt sie laut fest: „Hanna sagt auch ‚isch‘ – wie ich!“

Die fünfjährigen Max und Lena sind gut befreundet und spielen oft zusammen. Am Frühstückstisch sitze ich mit einer Gruppe von Kindern neben Max, der plötzlich auf Lena zeigt und kommentiert: „Sie spricht mit uns Spanisch! Wir verstehen nicht, was sie sagt“. „Ich spreche nicht Spanisch“, erwidert Lena (lachend), „ich spreche Griechisch!“ „Ja“, setzt Max fort und schaut sie dabei an, „wir verstehen nicht, was du sagst“. Lena erklärt ihm in beruhigendem Ton „ich spreche mit euch Griechisch, damit ihr Griechisch lernt!“ und an mich gewandt mit etwas lauter Stimme: „Ich spreche zwei Sprachen ganz: ‚germanika ke elinika‘ [Deutsch und Griechisch] und Englisch lerne ich noch in der Schule!“ Kurz danach teilt sie der Gruppe mit: „Nein, ich spreche drei Sprachen: Deutsch, Griechisch und Kölsch!

(Ausschnitte aus Beobachtungen im KiTa-Alltag, aus der Fallstudie ‚Lena‘; Protokoll: Panagiotopoulou)

2.1 Sprachmischung: zur translingualen Praxis mehrsprachiger Kinder

Die vorangestellten Beispiele ethnographischer Beobachtungen im Alltag einer Kindertageseinrichtung in Nordrhein-Westfalen sollen exemplarisch verdeutlichen, wie mehrsprachig lebende Kinder mit verschiedenen Sprachen und Varietäten (Regiolekten, Dialekten; siehe dazu auch Kapitel 1) in Berührung kommen und sie parallel, aber auch ineinander bzw. ‚gemischt‘ gebrauchen. In deutschsprachigen Fallstudien der letzten Jahre werden entsprechende Interaktionen zwischen Kindern und Erwachsenen dokumentiert, mit deren Hilfe verdeutlicht werden kann, wie im familialen Alltag sprachenübergreifend kommuniziert wird (vgl. Tracy 2008:102). Insbesondere wenn Eltern systematisch ihre Familiensprachen und die Umgebungssprache(n) gemischt einsetzen, produzieren ihre Kinder logische „Mischäußerungen“ (ebd.:107). Das Phänomen der „Sprachmischung gehört zur Natur der Bilingualität“ (Schneider 2015:36), und zwar sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern:

Sie [die Sprachmischung] zeichnet erwachsene fließende Sprecher und Sprecherinnen von zwei Sprachen genauso aus wie Kinder, die gerade im Begriff sind, zwei Sprachen zu erwerben. (ebd.:37)

„Kinder mischen nicht mehr oder schlechter als Erwachsene es tun“ (Müller, Kupisch, Schmitz, Cantone 2011:200) und sind außerdem sehr wohl in der Lage, auf den translingualen Sprachgebrauch zu verzichten, um je nach Situation und Gesprächspartner bzw. Gesprächspartnerin monolingual zu handeln. Dies zeigt, dass Mehrsprachige sehr früh damit beginnen, ihre sprachliche Praxis (inklusive Sprachwahl) bewusst zu gestalten (vgl. auch Riehl 2014:85; Panagiotopoulou 2016:14). Darüber hinaus sind mehrsprachige Kinder mit der Zeit auch in der Lage, ihr komplexes linguistisches Repertoire verschiedenen Sprachen und Sprachvarietäten zuzuordnen.

Die vorangestellten Protokollausschnitte zeigen exemplarisch, wie Lena im KiTa-Alltag sowie in Interaktion mit Kindern und Erwachsenen mehr- und quersprachig handelt. Dabei verwendet sie nicht nur zwei Sprachen, sondern auch Varietäten (teilweise gemischt). Das erste Beispiel deutet darauf hin, dass die vierjährige Lena über ihre eigene sowie über die Sprachpraxis ihrer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner reflektiert: hier am Beispiel der Aussprache „ich“ und „isch“. Den im KiTa-Alltag verwendeten Regiolekt setzen die Kinder in der Tat hauptsächlich in Interaktion mit ihrer Erzieherin Hanna ein. Das zweite Beispiel deutet darauf hin, dass Lena, wahrscheinlich aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen mit ihren zweisprachigen Eltern, ihre deutschsprechenden Freundinnen und Freunde bewusst auf Griechisch anspricht, damit diese ebenfalls zweisprachig werden. Dass Lena mit der deutsch-griechischsprechenden Beobachterin nicht nur monolingual deutsch oder griechisch, sondern regelmäßig auch translingual deutsch-griechisch kommuniziert, bestätigt die These, dass Kinder in der jeweiligen Interaktion das linguistische Repertoire ihrer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner berücksichtigen und ihre eigene Sprachpraxis entsprechend anpassen. Mit anderen Worten: Der weit verbreitete Mythos „Children raised bilingual will always mix their languages“ (Grosjean 2010:197) lässt sich in der Praxis nicht bestätigen. Vielmehr hängt der mono- oder translinguale Sprachgebrauch von Kindern mit pragmatischen Bedingungen innerhalb von konkreten Interaktionen und – mit zunehmendem Alter – auch mit bewussten Entscheidungen zusammen: Kinder mischen folglich ihre Sprachen in der Regel nur dann, wenn sie mit Personen interagieren, die über ein vergleichbares Sprachenrepertoire verfügen.

Insbesondere unter den Bedingungen der Migration greifen bereits junge Kinder in der Regel gleichzeitig auf mehrere (Landes-)Sprachen und deren Varietäten zurück. Der Sprachgebrauch migrationsbedingt mehrsprachig lebender Kinder wird allerdings im öffentlichen Diskurs problematisiert, als Halbsprachigkeit abgewertet, oder im Hinblick auf die Sprachpraxis einer konkreten Minderheit in Deutschland zum Beispiel als „Türkendeutsch“ oder als „Kanak Sprak“ karikiert1. Während die translinguale Praxis Erwachsener sogar als besondere Kompetenz anerkannt wird, wird „die Sprachmischung in der frühkindlichen Zweisprachigkeit“ (Schneider 2015:37) eher negativ betrachtet:

 

Das vermeintlich unsystematische und gegen alle Regeln verstoßende Mischen der Kinder wird als nachteilige Auswirkung des bilingualen Erstspracherwerbs interpretiert. In der neueren linguistischen Forschung wird Sprachmischung hingegen als nützliche Strategie gesehen, mit deren Hilfe sich bilinguale Kinder und Erwachsene effektiver ausdrücken können.

(Schneider 2015: ebd.)

Kinder, die beispielsweise in deutsch-türkischsprechenden Familien in Deutschland aufwachsen, würden mit großer Wahrscheinlichkeit auch in der Kindertageseinrichtung mit deutsch-türkischsprechenden Kindern und Erzieherinnen und Erziehern deutsch und/oder türkisch, aber auch ‚gemischt‘ kommunizieren. Am Frühstückstisch würden die Kinder in Interaktion mit der gesamten Gruppe wahrscheinlich den gemeinsamen deutschen Regiolekt verwenden, aber in einer Vorlesesituation die geschriebene Variante des Deutschen (oder einer weiteren Sprache) wahrnehmen, um anschließend das Geschriebene auch sprachenübergreifend zu kommentieren. Diese fließenden Sprachverwendungspraktiken werden aus einer einsprachigen Perspektive als Herausforderung gedeutet, in mehrsprachigen Bildungseinrichtungen sind sie aber Normalität, wie Beobachtungen im KiTa-Alltag zeigen (zur „Sprachenmischung“ im Kindergartenalltag in der deutschsprachigen Schweiz vgl. Kassis-Filippakou/Panagiotopoulou 2015).

Im deutschsprachigen (Fach-)Diskurs gelten auch im Hinblick auf den kindlichen Spracherwerb und Sprachgebrauch nur „Fähigkeiten im Deutschen“ als „sprachlicher Fortschritt“, während „die erst- oder gemischtsprachlichen Fähigkeiten des mehrsprachigen Individuums in den Hintergrund treten“ (Chilla, Rothweiler, Babur 2013:72). Hingegen befassen sich in den letzten Jahren sprachwissenschaftlich fundierte erziehungswissenschaftliche Studien mit der allgegenwärtig beobachtbaren translingualen Praxis. Bereits vor über zehn Jahren wurden beispielsweise interessante Forschungsergebnisse über den Sprachgebrauch von in Hamburg lebenden Kindern und Jugendlichen mit dem Titel „Türkisch sprechen nicht nur die Türken“ publiziert (vgl. Dirim/Auer 2004). Das Projekt zeigte u.a. auf, dass durch die zahlreichen Möglichkeiten, die verwendeten Sprachen „miteinander zu kombinieren und zu verschmelzen […] neue Sprechweisen [entstehen]“ (Krehut/Dirim 2008:413). Damit hängt auch die Erkenntnis zusammen, dass Kinder, die im Kontext von Migration mit mehreren Sprachen und Sprachvarietäten aufwachsen, zwar sprachenübergreifend handeln, aber trotzdem keine ‚halben‘ Sprachen dabei erwerben oder von der sogenannten „doppelten Halbsprachigkeit“ betroffen seien (zur grundlegenden Kritik dieser Pseudodiagnose vgl. Dirim 1999; Panagiotopoulou 2002, 2017a; Wiese 2011; Chilla, Rothweiler, Babur 2013). Das allgegenwärtige Phänomen der Sprachmischung weist also nicht auf eine Sprachstörung zwei- und mehrsprachiger Kinder hin, sondern betrifft eine legitime und sinnvolle Sprachpraxis neben anderen. Diese wichtige Erkenntnis lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen:

There is no evidence that bilingual children2 differ from monolingual children except for the fact that they produce mixed utterances in addition to monolingual ones; that is, they translanguage from an early age.

(García 2009a:64)

Laut Meisel deutet die spezifische Praxis der „Sprachmischung“ auf besondere sprachliche Fähigkeiten hin (Meisel 2013:122). Sie findet sich nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Jugendlichen und Erwachsenen, „und dort genau bei denen, die in beiden Sprachen besonders kompetent sind“ (ebd.). Die sogenannte „balancierte“ Zwei- oder Mehrsprachigkeit von Jugendlichen und Erwachsenen schließt nicht aus, dass diese bereits als Kinder quersprachig handeln. Anders ausgedrückt: Mehrere Sprachen gut zu beherrschen, setzt nicht voraus, diese getrennt voneinander zu erwerben und zu verwenden.

Ausgehend von einer soziolinguistischen Perspektive sind auch Kinder, die Varietäten ausschließlich einer (Landes-)Sprache erwerben, nicht einsprachig. In sprach- und erziehungswissenschaftlichen Publikationen der letzten Jahre wird betont, dass Dialekte oder Regionalsprachen wie „die Sprache des Ruhrgebiets“ oder „das Berlinische“ ebenfalls zur deutschen Sprache gehören: Die Sprachverwendungspraxis Einsprachiger umfasst sowohl einen standardisierten, primär an der Schriftsprache orientierten Sprachgebrauch als auch den Gebrauch der Alltagssprache, der „Sprache des vertrauten Umgangs“ (Ehlich, Bredel, Reich 2008:15). Eine Priorisierung der (deutschen) „Bildungssprache“ als der (einzigen?) Sprache der Bildung (zu einer kritischen Betrachtung siehe auch Kapitel 3) lässt sich somit nicht legitimieren: List hat diesbezüglich in ihrem Beitrag mit dem Titel „‚Bildungssprache‘ in der Kita“ aufgezeigt, dass „der Kontrast Alltags- gegen Bildungssprache“ mit herkömmlichen „Antinomien“ und „Dichotomien“ sowie mit einer „Wertigkeit der Sprachvarietäten“ zusammenhängt, und dies, obwohl nicht nur eine standardisierte Sprachform dafür geeignet ist, kindliche Bildungsprozesse im KiTa-Alltag lernförderlich zu begleiten (vgl. List 2010:185). Allerdings gehören Bildungseinrichtungen zu den bedeutendsten Institutionen der Sprachenpolitik, denn sie beeinflussen

vom Kindergarten über die Schule bis zur Universität und zu Institutionen der Erwachsenenbildung (…) Sprachgebrauch und Spracherwerb zunächst explizit (…). Aber auch implizit sind sie maßgeblich daran beteiligt, Sprachstandards festzuschreiben und durchzusetzen.

(Marten 2016:35)

Die Vorstellung einer reinen einsprachigen Sprachpraxis in ausschließlich einer legitimen Sprachvarietät (‚Standardsprache‘ oder ‚Bildungssprache‘) erweist sich aufgrund von Beobachtungen in der frühpädagogischen Praxis als Illusion. Beispielsweise lässt sich in der deutschsprachigen Schweiz auch in didaktischen Settings, die als Förderung der sogenannten ‚Hochsprache‘ oder ‚Standardsprache‘ deklariert werden, durchgängig das Phänomen der Sprachmischung beobachten, obwohl das Gebot einer strikten Sprachentrennung in Form einer institutionellen ‚Diglossie‘ nach wie vor verbreitet ist (vgl. Kassis-Filippakou/Panagiotopoulou 2015; Panagiotopoulou/Krompàk 2014; Panagiotopoulou/Kassis 2016). Als institutionelle Sprachenpolitik (vgl. Marten 2016:35-36) steht eine solche Vorgehensweise im Kontrast zur Alltagsrealität mehrsprachiger Kinder, insbesondere in offiziell mehrsprachigen Gesellschaften wie z.B. in der Schweiz oder in Luxemburg. Aus sprachdidaktischer Perspektive betrachtet ist diese herkömmliche Sprachenpolitik insgesamt problematisch, da sie neuere Erkenntnisse über den dynamischen mehr- und quersprachigen Erwerb im Kindesalter (siehe Kapitel 2.2), sowie über aktuelle Konzepte einer inklusiven mehrsprachigen Bildung (siehe Kapitel 2.3 und 2.4) kaum berücksichtigt.