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Ille mihi

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Theophil aber beachtete ihren Einwand nicht und fuhr fort: »In all diesen Frauenbestrebungen liegt eine gewisse Auflehnung gegen die von altersher bestehende Ordnung. Gräfin Helmstedt hat dich wohl da hineingebracht?«

Doch nun lachte Ilse. Ein leises, freudloses Lachen war es. Und sie antwortete: »Ach nein, Theophil, da irrst du, – denn Frauen, die so glücklich verheiratet sind wie Gräfin Helmstedt für die ist die Frauenfrage ja gelöst, und sie haben gar keine Zeit darüber nachzudenken.«

»Und das soll für dich bedeuten …?«

»Nun,« antwortete sie mit dem etwas wehmütigen Spott, der ihr hier in Berlin angeflogen war, »mir bliebe allenfalls noch Zeit, über ungelöste Frauenfragen zu grübeln – aber – wozu von all dem reden!«

»Allerdings – und um so mehr, als ich im Reichstag heut wirklich nicht ob all dieser Kindereien zu spät kommen darf – also ich hol dich heut abend zu der Soiree bei Tolck-Engels hier ab.«

»Ginge es wirklich nicht, daß du mich entschuldigtest?« fragte sie noch einmal furchtsam, als er schon Mantel und Zylinder anhatte, »ich weiß nicht warum, aber ich möchte so gar nicht hin.«

»Mir dagegen kommt es sehr viel darauf an, und es schickt sich, daß du dich bei meinen Parteifreunden zeigst – und nun, liebes Kind, halte mich nicht länger von Wichtigerem zurück.«

Mit feierlichen Schritten ging er davon. Sie war mechanisch ans Fenster getreten und starrte hinaus, wo alles grau und verschwommen war. Und dann sah sie Theophil unten in der Straße zum Reichstag schreiten, würdevoll sogar unter dem Regenschirm. Wie sie die kleiner und kleiner werdende, im rinnenden Grau schwindende Silhouette betrachtete, fuhr es ihr durch den Sinn: Es gibt Frauen, die ihren Männern so alle Tage nachblicken, um noch ein paar Sekunden länger ihre Gestalt sehen zu können, und die abends wieder da stehen und eben so hinausspähen, um die Heimkehrenden nur ja schon von weitem zu entdecken, und sich dabei sagen: gleich, gleich werde ich ihn wieder haben! – All das wird es in meinem Leben nie geben!

Ilse lehnte noch lange am Fenster und starrte hinaus, und obschon sie die Dinge draußen kaum als Einzelheiten wahrnahm, empfand sie sie doch in ihrer Gesamtheit als bedrückend. Es war, als zöge die Trübsal durch die Lüfte gleich einem schattenhaften Wesen, in langen, wehenden Schleiern, über das stumpfe, dunkle Krollsche Gebäude kam sie geflogen, schwebte über die dürren Bäume, an deren Zweigen Fetzen ihres Gewandes hängen blieben, umkreiste wieder und wieder die Siegessäule, eine blaßgraue Nebelboa um sie windend, schleifte ihre lang hernieder schleppenden Hüllen über die Kuppel und Dächer des Reichstags, breitete ihren grauen wallenden Mantel über die ganze große Stadt. Niemand, der gerade in den Straßen ging, auf deren nassem Asphalt sich die Bäume und ersten Laternenlichter spiegelten, erkannte die Züge der Trübsal, wie sie droben durch die Lüfte schwebte, aber unsichtbar lastete sie doch auf allen.

Auch auf Ilse senkte sich vom Himmel, aus dem alles Licht erstorben, eine unsichtbare Schwere immer bedrückender nieder, und aus dieser Beklemmung heraus erwuchs in ihr ein Gefühl unendlicher Sehnsucht. Schwingen hätte sie haben mögen, die weit ausgebreitet durch den Nebel tragen, – wie dort der große dunkle Vogel, der eben lautlos über die kahlen Wipfel des Tiergartens glitt und im Grau verschwand – fort, fort! – Und plötzlich mußte sie an die weiten Fernen der Erde denken, in denen Onkel Thilo einst geweilt, an Palmenbäume mit blanken knisternden Blättern, zwischen denen blaue Riesenschmetterlinge spielen, an weiße Paläste, die am Ufer südlicher Meere in der Mittagsglut träumen. Ob auch dort überall die suchende Sehnsucht lebte? Oder ob es vielleicht weit, weit draußen eine bestimmte Stätte der erfüllten Sehnsucht gab? – wonach sie sich aber sehnte, hätte Ilse dabei kaum zu sagen vermocht. Es war wie ein Tasten im Dunklen, nach Dingen, die es da irgendwo geben mußte, und die sie nicht finden konnte, ein ahnungsvolles Öffnen der Arme, ein Beben der Lippen, ein atemberaubendes Pochen im Herzen – ein zitterndes Hoffen, Schönes, unsagbar Schönes zu erleben.

Und doch zugleich eine Angst.

Als sie sich dann später für die Soiree ankleidete, wurde diese Angst immer stärker und unerklärlicher; sie mußte innehalten, sich setzen. »Ich will nicht in diese Gesellschaft. – Ich will nicht,« sagte sie plötzlich ganz laut, als läge darin eine Rettung. Dann aber kam es ihr selbst kindisch vor. Wovor fürchte ich mich nur, fragte sie sich, und eilte nun, fertig zu werden. Denn Theophil, der stets in Sorge war, zu spät zu kommen, mahnte schon ungeduldig an der Tür. – Als sie dann ihr Zimmer verließ, fiel ihr Blick noch einmal auf die bunten englischen Drucke: wie gespannt doch gerade heute abend die Damen in den frühviktorianischen Trachten nach dem Sieger auszuspähen schienen – und er kam und kam noch immer nicht.

Die Gesellschaft bei Theophils politischem Parteifreund, Herrn von Tolck-Engel, schien dann auch wirklich wie alle Gesellschaften in diesem Hause zu verlaufen, und Ilse selbst dünkte ihre Angst davor nun völlig lächerlich. Eine Fürstlichkeit, die bei solchem Fest als Ehrengast nicht fehlen durfte, um der ganzen Veranstaltung etwas ihres eigenen Glanzes zu verleihen, war vorhanden: in diesem Falle irgendeine Herzogin Wanda; und auch dafür war wie immer gesorgt, daß jemand da sei, der es verstände, die steif und zwecklos herumstehenden Gäste in etwas angeregtere Stimmung zu versetzen: an jenem Abend zum erstenmal ein berühmter Komiker. Etwas ängstlich blickten auf ihn die nur an musikalische Darbietungen gewohnten Mütter erwachsener Töchter. »Aber sie können ganz unbesorgt sein,« sagte beschwichtigend die Hausfrau, »ich habe ihm natürlich eingeschärft, er dürfe, wegen der jungen Mädchen, ja nicht etwa gar zu komisch sein.«

Der Komiker wurde der Herzogin vorgestellt, die es liebte, als Frau zu posieren, die selbst intellektuell hätte sein können, wenn sie nur gedurft. Im Flüsterton wurde von ihr gesagt: »wäre sie nicht als königliche Prinzessin geboren, so hätte sie sicher Hervorragendes geleistet,« Auf welchem Gebiet, wurde dabei nie näher bezeichnet, man seufzte nur verständnisinnig, als sei der Welt da Großes vorenthalten worden.

»Ich habe Sie schon oft auf der Bühne bewundert,« lispelte die Hoheit, und während der Komiker ob so viel Huld in Ehrfurcht zusammenklappte, raschelte sie in ihrem engen, wie Eidechsenhaut schimmernden Kleid zum nächsten der eines ihrer Worte harrenden Gäste.

Nachher flüsterte sie, mit einem Blick auf den Komiker, Frau von Tolck-Engel zu: »Es ist so wohltuend, mal mit solchen Leuten zu verkehren, man wird da von einer so ganz anderen Luft angeweht.« Sie empfand den prickelnden Reiz, einen gefährlichen Ausflug in unheimliches Grenzgebiet gemacht zu haben.

Nachdem die Hoheit genügend Cercle gehalten, ließ sie sich auf einem Sofa im großen Saale nieder, umgeben von den würdigsten Damen, unter denen sich auch Fräulein von St. Pierre befand. Und der Komiker begann seine Rezitationen. Hausfrau und Mütter konnten unbesorgt sein. Es kam kein Wort vor, das die wohlgehütetste Komtesse nicht hätte hören dürfen. Dafür war es allerdings auch nicht gerade sonderlich komisch.

»Hübsch – sehr hübsch,« lispelte die Hoheit nach jeder Nummer, und die sie umgebenden würdigsten Damen flöteten ihr nach: »so dezent – so zart.«

Während Ilse dem Vortrag halb zerstreut lauschte, überschlich sie, wie bisweilen in Gesellschaft, ein Gefühl völligen Fremdseins. Und doch kannte sie alle Welt. Sie hatte den Exzellenzen-Damen guten Abend gesagt und war der Hoheit vorgestellt worden. Die jungen Mädchen hatten vor ihr den jeder verheirateten Frau gebürenden kleinen Knix gemacht, der zu sagen scheint: »Heut knixe ich noch vor dir, aber wenn ich in ein paar Wochen einen der Leutnants geheiratet habe, die dort in der Ecke stehen, brauche ich es nicht mehr.« Und Ilses Augen hatten, wie die so mancher Frau, darauf geantwortet: »Du süßes, kleines Gänschen, wie viel lieber knixte ich doch vor dir!« Dann waren die Leutnants aus den Ecken gekommen und hatten sich ihr vom Sohn des Hauses vorstellen lassen – immer gleich fünf oder sechs auf einmal, wodurch sie mehr generelle wie individuelle Bedeutung gewannen und an wandelnde Ziffern der Militärstatistik mahnten. Und auch die ernsten offiziellen Herren hatten Ilse begrüßt, Minister, Unterstaatssekretäre, von denen einige den Landesorden der Hoheit angelegt hatten, und die alle denselben Ausdruck trugen: etwas müde, etwas süffisant, wie lebendig gewordene Artikel der Norddeutschen, die zu sagen scheinen: – »Liebes Kind, das verstehst du ja doch nicht, warum soll ich dir‘s noch lang erklären.«

Ja, Ilse kannte alle Anwesenden, und doch fühlte sie sich an diesem Abend so ganz besonders fremd und einsam. Und was kannte, was wußte sie denn auch von all diesen Leuten? Eigentlich doch nur ihre Namen. Es ist ja nie viel, was einer vom anderen wirklich weiß. Denn jeder ist ein Geheimnis und eine Einsamkeit. Jeder lebt auf seiner eigenen kleinen Insel, als müsse er wachen über etwas, das er da verborgen.

Ilse blickte an all diesen scheinbar höflich Lauschenden entlang. Von Manchen war die übliche Maske während des Vortrags etwas herabgeglitten. Sie dachten ersichtlich an ganz andere Dinge – und nicht an sonderlich komische. Einen neuen fremden Ausdruck trugen sie plötzlich, vielleicht war das der wahre. – Denn was sonst alle verbargen, trat jetzt, da sie sich unbeobachtet wähnten, und ihnen selbst wohl kaum bewußt, einen Augenblick zutage. – »Aber was mochten sie wohl alle zu verstecken haben?« dachte Ilse. Und sie fand die Antwort in den vom Willen unkontrollierten Zügen. Die meisten verbargen wohl geheime Sorgen, Ehrgeize, Kränkungen, Ängste und viel, sehr viel Langweile – und einige, ganz wenige, hüteten ein bißchen heimliches Glück.

Ja, auch solche gab es, und es war Ilse, als könne sie auf diesen wenigen, weicher und gütiger gewordenen und verträumt lächelnden Antlitzen das Wort lesen: »Glück, Glück.«

 

Selbst ganz verträumt, sprach sie es leise vor sich hin: »Glück, Glück.«

Und dann mußte sie plötzlich die Augen heben, mußte aufschauen und von fremder Gewalt gezwungen nach dem anstoßenden Salon blicken. – Da in der offenen Tür stand Wolf von Walden.

Sie starrte ihn erstaunt an. War er es denn wirklich? und wie kam es, daß er hier so plötzlich vor ihr auftauchte? Dann fiel ihr ein, daß sie bei Helmstedts gehört hatte, er würde nach Berlin berufen werden. Aber sie hatte nicht geahnt, daß sein Kommen so nahe bevorstände. Und nachdem sie ihn so, ganz in Gedanken, einige Augenblicke angestarrt hatte, besann sie sich endlich und erwiderte mit einem etwas verwirrten, lächelnden Nicken seinen Gruß. Er sah dabei so froh aus – als sei es etwas sehr Schönes, von ihr gegrüßt zu werden – da nickte sie ihm unwillkürlich ein zweites Mal zu und errötete dann, daß sie es getan.

Das kleine Nebenspiel ging während des Vortrags und über die Köpfe der Zuhörer zwischen ihnen beiden hin und her. Niemand bemerkte es. Nur Fräulein von St. Pierre, die gerade mit prall behandschuhter Rechten die langstielige Lorgnette über die Nase hielt, sah es. – Und wurde aufmerksam.

Kaum hatte der Komiker geendet und die Hoheit sich erhoben, als Walden auch schon neben Ilse stand.

»Sie sind wieder da?« sagte sie und fühlte dabei, wie sie verlegen errötete, daß ihr keine klügere Begrüßung einfiel.

»Ja, es kommt mir selbst ganz seltsam vor, hier zu sein,« antwortete er. »Vor ein paar Stunden erst bin ich angekommen. Auf der Straße begegnete mir unser Wirt, den ich schon lange kenne, und er bestand darauf, daß ich heute abend herkommen müsse. Ich wollte zuerst gar nicht.«

»Wirklich, Sie auch?« rief Ilse eifrig und dann, sein Erstaunen bemerkend, setzte sie erklärend hinzu: »Ich wollte nämlich gar nicht herkommen!«

»Aber jetzt bin ich sehr froh, daß ich kam,« sagte er.

Sie schwieg. Aber ihre Augen sagten dasselbe wie seine Lippen, während sie noch so standen, glitt, von der Hausfrau gefolgt, Herzogin Wanda raschelnd an sie heran, blieb plötzlich stehen und sagte: »Täusche ich mich oder sind Sie es wirklich, Herr von Walden?«

Er verbeugte sich und antwortete: »Es ist wirklich Eurer Hoheit untertänigster Diener.«

»Ich habe noch so oft an Ihr scharmantes Singen zurückgedacht,« lispelte die Herzogin, »damals auf meiner Weltreise hörte ich Sie ja – wo war es doch gleich? – Nicht wahr, in Bangkok?«

»In Tokio, Hoheit,« verbesserte er.

»Ja richtig, in Tokio, – ich wußte ja, in Asien,« sagte sie, »nun ich hoffe bestimmt, daß ich Sie heute abend doch wieder hören werde. Nicht wahr?«

»Ich bin untröstlich,« antwortete Walden, »aber ich habe gar keine Noten bei mir.«

»Aber die gibt es doch sicher hier im Hause,« sagte die Herzogin mit einem leisen Anflug von Ungeduld.

»Selbstverständlich,« fiel Frau von Tolck-Engel eifrig ein, »wir haben eine Menge Noten da, und Herr von Walden wird bestimmt Bekanntes darunter finden.«

»Nun also, kommen Sie, Herr von Walden, und singen Sie mir etwas Hübsches vor,« sagte Herzogin Wanda.

»Zu gnädig,« antwortete Walden, »aber wer wird denn begleiten?«

»Oh, das muß doch sicher irgendeiner hier können,« meinte die Hoheit, »nicht wahr, so jemand ist doch da?« wandte sie sich an ihre Wirtin.

Verlegen antwortete diese: »Wir hatten nicht auf Musik gerechnet, Hoheit – ich bin außer mir, aber es ist kein professioneller Akkompagnateur zugegen.« – »Aber unter Ihren vielen Gästen wird doch jemand sein, der so viel spielen kann?« entgegnete die Herzogin, und in ihrer Stimme lag wieder der ungeduldige Klang. Die Hausfrau fühlte, daß der Erfolg ihrer Soiree in Frage gestellt war, wenn dieser hohe Wunsch nicht erfüllt werden konnte. – Hilflos sah sie sich um.

In diesem Augenblick trat Theophil feierlich und gemessen an die kleine Gruppe heran, und nachdem Frau von Tolck-Engel ihm ihre Verlegenheit geklagt hatte, sagte er überlegen: »Aber das ist doch ganz einfach – da wird eben meine Frau aushelfen – sie hat ja in Frohhausen so viel musiziert und auch die eine Sängerin dort oft begleitet.«

Ilse, die etwas abseits stehen geblieben war, fuhr erschrocken bei diesen Worten zusammen und wollte ablehnen, aber schon war sie von der Herzogin und der erleichtert aufatmenden Hausfrau umringt.

»Oh wie reizend! wie schön von Ihnen! Sie helfen mir aus solch großer Verlegenheit!« riefen beide durcheinander.

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich es können werde,« warf Ilse leise ein und fühlte, wie ihr Herz zu hämmern begann, als stände sie plötzlich vor einer unbekannten Gefahr, in die der nächste Augenblick sie stürzen mußte. Dieselbe Angst, die sie vorhin zu Hause empfunden, war wieder da. – Sinnlos hatte sie sie genannt – war dies ihr Sinn gewesen? – Einen suchenden, flehenden Blick warf sie auf ihren Mann – der mußte ihr doch beistehen, der konnte nicht wollen, daß sie in dies drohende, unbekannte Etwas versänke. – Aber Theophil raunte ihr nur leise zu: »Es liegt mir sehr viel daran, daß du Frau von Tolck-Engel diesen Gefallen erweisest,« und zur Herzogin gewandt, sagte er mit einer ungelenken Verbeugung: »Meine Frau wird sich glücklich schätzen.«

Dann stand sie mit Walden im Saal am Flügel, und von einer vergoldeten Etagére reichte ihnen die Hausfrau allerhand Notenhefte. Während sie beide suchend darin blätterten, bemerkte Walden, daß ihre Hände bebten. Da beugte er sich näher zu ihr und sagte: »Nicht fürchten! wir beide wollen uns schon zusammen durchschlagen.«

Es lag so viel frohe Zuversicht und Siegesgewißheit in seiner Stimme! Sie fühlte, wie sie selbst dabei ganz ruhig wurde. – Unbekannten drohenden Gefahren hatte sie sich nahe geglaubt? aber die gab es ja gar nicht. Und wenn auch – wir beide wollen uns schon zusammen durchschlagen!

Die Herzogin hatte sich wieder auf dem Sofa niedergelassen. Die durch ihren allerhöchsten Willen so plötzlich in des Abends Programm eingeschobene Nummer erregte allgemeines Interesse. Man drängte in den Saal. Es mußte dort etwas Besonderes sein. Man fragte und erzählte. Amateure? – Walden? Ach ja, der aus der Diplomatie. Zuletzt in Tanger? – Ja, und jetzt ins Auswärtige Amt berufen. Und sie? Richtig, die hübsche Frau, die Gräfin Helmstedt so sehr protegiert. Zehren? Jawohl – Zehren-Weltsöden, und der Mann Reichstagsabgeordneter.

Während Ilse nun leise präludierte, hatte sich Fräulein von St. Pierre in den Kreis der um die Hoheit gruppierten würdigsten Damen gesetzt und hob mit der prall behandschuhten Rechten die langstielige Lorgnette zu den Augen empor.

Dann sang er.

Ilse konnte sich später nie erinnern, welche Lieder er da zuerst gesungen hatte. Sie war anfänglich viel zu sehr mit ihrer Aufgabe, der Begleitung, beschäftigt gewesen, als daß etwas anderes in ihrem Gedächtnis haften geblieben wäre. Herr von Walden hatte eine sehr persönliche Auffassung, und es erschien ihr zuerst schwer, ihm abwechselnd zu folgen und nachzugeben – bis sie plötzlich erkannte, daß er eigentlich genau so vortrug, wie sie selbst vorgetragen haben würde, wenn ihre Stimme noch gelebt hätte. Da wurde es ihr auf einmal leicht. Sie dachte nun nur noch daran, auf seine Absichten eingehend ihn zur Geltung zu bringen. Und dabei überkam sie ein ganz neues Gefühl – eine große Freude, so dienen zu dürfen, ein williges Selbstverlöschen, weil sie sich in eines anderen Art ganz wiederfand. Ganz und doch anders. Größer, mutiger, freier. Eine ungeahnte Seligkeit stahl sich in ihr Herz – kam sie von diesen ganz neuen Gefühlen, oder war es der Zauber seiner Stimme? – Sie wußte es nicht. Es war nur, daß das Leben plötzlich einen Zweck zu haben schien: dieser Stimme zu folgen und darüber alles andere zu vergessen.

»Hübsch! sehr hübsch!« lispelte die Hoheit nach jedem Liede, und sobald Walden aufhören wollte, folgte dem »hübsch! hübsch!« ein »mehr! mehr!«

Als er dann doch endlich innehielt, sagte Herzogin Wanda: »Ach singen Sie doch noch das eine Lied, um das ich sie schon in Bangkok bat – Sie wissen doch noch – das von Grieg.«

»Meinen Hoheit: Du mein Gedanke?« fragte Walden.

»Ja, ja«, antwortete die Herzogin, »ich habe es vor Jahren so viel gehört.«

»Die Noten dazu scheinen nicht hier zu sein,« sagte Walden, der mit Frau von Tolck-Engel in den Heften zu suchen angefangen, »aber vielleicht gelingt es mir, mich selbst dazu aus dem Gedächtnis zu begleiten.«

Ilse hatte ihm am Klavier Platz gemacht.

Die Herzogin, die sich einbildete, zu der Zeit, als jenes Griegsche Lied und auch sie selbst jung gewesen, einmal eine große Liebe gehabt zu haben, lehnte sich im Sofa zurück und schloß die Augen.

Nur mit halber Stimme sang Walden die wohlbekannte Melodie, als wolle er bloß Stichworte geben, an denen jeder die eigenen Erinnerungen weiter spinnen konnte. Und wirklich waren da noch manche Augen, außer denen der Herzogin, vor denen bei diesen Klängen für eine kurze Spanne Zeit die banale gesellschaftliche Gegenwart versank, und statt ihrer allerhand Gewesenes oder auch nur Geträumtes wieder auferstand.

Für Ilse aber, die noch keine Erinnerungen besaß, tönten die Worte wie eine Verheißung.

»Du mein Sein und Werden, mein beßres Ich,« ach, wer doch das in einem anderen fände! – Und daß es das wirklich gab, das wußte sie jetzt plötzlich ganz genau. – Man konnte so sehr in einem anderen Leben aufgehen, daß darüber das eigene Sein bedeutungslos versank.

Als dann später Ilse und Theophil im Wagen saßen und nach Hause fuhren, sagte er wichtig: »Es ist mir sehr viel wert, daß du Frau von Tolck-Engel mit dem bißchen Geklimper einen Gefallen hast erweisen können – Tolck-Engel wird nämlich sicher über kurz oder lang Landwirtschaftsminister werden – ich muß ihn mir warm halten. Siehst du nun, wie gut es war, daß du zu dieser Soiree kamst?«

»Meinst du wirklich, daß es so gut war?« antwortete Ilse kaum hörbar und starrte durch die Fensterscheibe hinaus in den nächtlichen, nebelerfüllten Tiergarten.

Als Ilse am nächsten Tage Gräfin Helmstedt besuchte, begrüßte diese sie mit den Worten: »Ich habe schon alles über den gestrigen Abend gehört. Wolf Walden war bei uns und hat mir erzählt, wie schön Sie seinen Gesang begleitet haben!«

Und Ilse antwortete ganz schlicht: »Ja, dieses Begleiten hat mich so glücklich gemacht, daß ich darüber ganz vergaß, wie sehr ich mir doch früher wünschte, in der Musik Selbständiges zu leisten.«

»Selbständige Leistungen,« sagte Gräfin Helmstedt sinnend, »sind für Frauen recht oft nur Notbehelfe, weil ihnen nicht das Glück wurde, einen anderen mit ihrem Herzen begleiten zu dürfen – das wird den meisten von uns doch stets das Liebste bleiben.«

Ilse traf Walden von da an beinahe täglich. sie sahen sich auf den Bällen, Diners und Jours, den Wohltätigkeitsfesten und Ausstellungen – bei all den Veranstaltungen eines Berliner Winters, wo die Menschen zusammenkommen, sie wissen oft selbst nicht recht warum. Und außerdem fanden sie sich bei Gräfin Helmstedt. Da musizierten sie zusammen, denn Walden hatte, gleich nach dem ersten Versuch bei Tolck-Engels, erklärt, niemand akkompagniere so wie Ilse. Dadurch war dauernd wie durch ein Wunder der nagende Schmerz um die eigene Stimme von ihr genommen. Sie dachte kaum noch daran. Aber zwischen ihr und dem, der dies Wunder bewirkt, war ein geheimnisvoller Zusammenhang geschaffen.

Bei all ihren Zusammenkünften sprachen sie indessen kaum je etwas, das nicht jeder hätte hören können, doch es war, als hätten all ihre Worte einen verborgenen, nur ihnen beiden bekannten Sinn. So lebten sie in einer sie von allen Übrigen absondernden Atmosphäre. Und einer fühlte des anderen Nähe, noch ehe sie sich sahen. Dann gewann alles plötzlich Bedeutung, was vorher trivial und langweilig erschienen. – Ja, es waren wirklich zwei sehr verklärende Augenpaare, die auf diesen Berliner Winter schauten, der die meisten Leute doch so gleichgültig und stereotyp dünkte, wie die vielen anderen, die ihm vorangegangen!

Wie war das so rasch über sie beide gekommen? wie hatte es angefangen? Das war nachher so schwer zu sagen. Es schien, als sei es von aller Ewigkeit an so gewesen.

Und was hatte Ilse unter den vielen jungen, eleganten und liebenswürdigen Männern, die sie kennen lernte, gerade zu diesem einen so sehr hingezogen? Auch das war nachher schwer zu sagen. Vielleicht daß sie gleich fühlte, wie sehr sie ihn anzog. Aber diese Erklärung warf ja eigentlich nur eine neue Frage auf.

Zwei Körnchen Staub mußten sie wohl sein, die der Wind zusammenblies. »Aber beseelt ist solcher Staub,« sagen die Menschen, »da muß er doch Rechenschaft geben können?« »Ja, über Mark und Pfennige ist das leicht, liebe Oberrechnungskammer, aber über das Entstehen von Gefühlen? Über all das Unbewußte, das in solchem Staubkörnchen schlummert?«

 

Und Ilse dachte auch in jener ersten Zeit gar nicht an Verantwortung und Rechenschaft.

Sie war wie von einem Strom ergriffen, gegen den es keine Wehr gab, der so stark war, wie nur das ganz Naturgemäße ist. Sie erlebte all das Süße, Wunderbare, das in ihren Jahren zu erleben jedes Menschen schönes Recht sein sollte, und all dies war so völlig im Einklang mit dem von der Natur gewollten, wie daß die Bäume im Frühling knospen, und die Nachtigallen in warmen Nächten sehnsüchtig schlagen. Nur was die Menschen ihrer Unwissenheit vorher angetan, daß sie schon verheiratet war, – das hätte nicht sein dürfen. Was das Gesetzmäßige schien, das war hier das Unsittliche.

Sie empfand dies aber noch nicht mit völliger Klarheit, sondern ließ sich treiben auf dem großen Strome, schloß die Augen vor den Konflikten, zu denen sie unerbittlich kommen mußte. Und sie konnte es, weil noch nichts zwischen ihnen beiden ausgesprochen worden, weil sie noch in einem seligen Traume lebten.

Später dann, als sie sich jede liebe Einzelheit jener Zeit zurückzurufen begann, um sie wie einen großen Schatz zu bewahren, erinnerte sie sich, daß sie damals zuweilen gedacht: dem gefalle ich, wie ich bin, der will nicht immer an mir ändern – und wie neu es ihr gewesen, durch ihr bloßes Sein beglücken zu können. Sie erinnerte sich auch, wie gern sie ihn hatte aus der fernen, weiten Welt erzählen hören, von der er so viel gesehen. Durch ihren Verkehr mit Helmstedts war ja ihr Interesse gerade für manche der Fragen, die Walden beschäftigten, schon geweckt worden. Aber sie merkte durch seine Gespräche doch erst recht, wie viel es in der Welt noch gab, wovon so eine zwanzigjährige Matrone wie sie rein gar nichts wußte! – Das Schönste aber war, daß sie ihn ohne Scheu nach allem fragen konnte, denn hinter allen weicheren und noch verschleierten Gefühlen bestand von Anfang an etwas Kameradschaftliches zwischen ihnen. Eine gewisse selbstverständliche Sicherheit, daß einer dem anderen helfen würde, und man sich aufeinander verlassen konnte. Er nahm auch nie die gewisse männliche Überlegenheitspose an, vor der Ilse so oft verstummt war. Sie fühlte sich ihm gegenüber, bei aller Anerkennung seines größeren Wissens und weiterer Erfahrung, doch nie als Wesen zweiter Kategorie, dem angedeutet wird, daß es gewisse Dinge nie begreifen werde, wenn er mit ihr sprach, verstand sie eben auch alles. – Selbst die Politik, die ihr in den gelegentlichen Gesprächen der Gutsnachbarn stets als ein noch öderes Gebiet wie die allersandigsten Weltsödener Felder erschienen war, zeigte, von ihm erläutert, plötzlich ganz neue Seiten. Freilich drehte es sich bei seinen politischen Betrachtungen nicht immer nur um die Höhe der Schutzzölle, die gegen fremde landwirtschaftliche Produkte zu erheben seien, – es gab offenbar noch andere Gesichtspunkte, von denen aus die Beziehungen zwischen den Nationen beurteilt werden konnten.

Vor allem aber wies Walden Ilses Begeisterungsfähigkeit neue Ziele. Erst durch ihn, den Eingewanderten, wurde in ihr der Patriotismus entfacht, die Liebe zum Lande, dem wir entstammen, das Bewußtsein, ihm unendlich viel zu verdanken und zu schulden. Vaterland bedeutete für Ilse bisher das kleine Städtchen, in dem ihre kurzen Mädchentage verstrichen, und Weltsöden, wo sie sich so völlig fremd gefühlt. Er aber lehrte sie nun das weite Vaterland kennen, in seinen Leistungen, seinen Bedürfnissen. Sie ließ sich gern von ihm erzählen, wie es ihn selbst zurückgezogen in dies Land, aus dem ferne Ahnen einst ausgewandert, und wie er ihm nun dienen wollte und wie er auch hoffte, in diesem Dienste Besonderes leisten zu dürfen. In solchen Worten lag aber nicht jenes persönliche Strebertum, das Ilse, sogar in ihren kurzen Berliner Erfahrungen, schon an so manchem bemerkt hatte, sondern ein jugendlich schwungvoller Glaube sprach daraus, beinahe ein Fanatismus. Nicht Karriere, sondern innere Berufung war Walden sein Amt. Und wenn sie ihm lauschte, dann liebte auch sie die Riesenstadt bis auf die Bäume des Tiergartens, und das ganze große Reich samt seinen vielen Bewohnern mit einer neuen großen Liebe. Diesem Reich auf vorgeschobenem Posten zu dienen und sein Ansehen draußen in der Welt zu mehren, das waren wahrlich Aufgaben! Und ein großes Sehnen erfüllte sie, – ach wer da mit könnte und helfen dürfte!

Ilse fühlte sich wachsen und werden. Sie gewahrte an der Freude, die Walden offensichtlich empfand, ihr seine Ideen und Pläne mitzuteilen, daß sie doch wohl befähigt sein müsse, auch schwierigen Fragen Verständnis entgegenzubringen. Das machte sie froh und zuversichtlich. Sie legte die in Weltsöden ihr erwachsene ängstliche Scheu ab, ward lebhafter im Gespräch, freier im Äußern ihrer Ansichten. Und auch ihr Aussehen gewann unter dieser inneren Wandlung. Man nannte sie jetzt nur noch »die hübsche Frau von Zehren.« Sie selbst begann mehr an ihr Äußeres zu denken – denn es war ja nun einer da, dem sie so deutlich anmerkte, daß er Wert darauf legte und Freude empfand an der Bewunderung, die sie erregte. Sie war ihm dankbar für all das Freudige, das er in ihr Leben gebracht.

Ja, freudig schien es – und mußte doch unendlich schmerzlich werden. Denn es konnte ja nicht ausbleiben, daß Ilse dazu kommen mußte, Vergleiche anzustellen. Daß sie keine glückliche Frau sei, wußte sie ja längst. Aber wie unglücklich und vereinsamt sie war, erkannte sie doch erst jetzt völlig, wo sie inne wurde, wie das Leben hätte sein können. Eheliches Unglück tritt ja meist erst dann ganz klar ins Bewußtsein, wenn der Andere erscheint. Und der Andere bleibt in solchen Fällen selten aus.

*

Walden hatte Ilse einmal beschrieben, wie er klopfenden Herzens zum ersten Male in das Auswärtige Amt getreten war, mit wie großen Erwartungen und ehrfürchtiger Scheu er sich dort umgesehen hatte. Ihm erschien die Wilhelmstraße ja nicht als jener stille Ozean der Langenweile, den Fontane einst darin erblickte, sondern sie war ihm der Weg zu diesem einen Hause, wo die großen Geschicke der Nation entschieden werden. Da wirkten und webten die Männer, die berufen waren, das Ansehen und die Interessen des Reichs in der ganzen Welt zu wahren, feindliche Ränke frühzeitig zu durchschauen und unschädlich zu machen, und die Stimme Deutschlands jederzeit mit dem Nachdruck zur Geltung zu bringen, die der dahinter stehenden Macht entspricht, – die dafür sorgen sollen, daß die Freundschaft eines starken Deutschlands als jenes begehrenswerte Gut bewertet bleibe, zu dem sein größter Sohn sie einst gemacht. Auf die Tätigkeit in diesem schlichten grauen Hause blickten ja auch die vielen im ganzen Weltall verstreuten Stammesbrüder, und jeder Erfolg, der hier errungen wurde, hob fortwirkend auch deren Mut und Lebenskraft. Menschen, die in den einsamen Wäldern Süd-Chiles oder dem Gewühl nordamerikanischer Riesenstädte lebten, die in den flachen Geländen des Ostseestrandes unter fremder Herrschaft standen, oder in Wolfs eigener Heimat, dem bergigen Sachsenlande Siebenbürgens, seit bald achthundert Jahren ihre Eigenart bewahrten – sie alle empfanden, wenn der Wilhelmstraße etwas gelang, ein stolzes Gefühl der Blutsgemeinschaft.

Wenn Ilse jetzt selbst einmal hier vorbeikam, schaute auch sie mit neu erwachter Ehrerbietung auf das Gebäude, an dem sie vor Waldens Kommen achtlos vorüber gegangen war, und das nun durch seine Worte so viel Bedeutung gewonnen hatte. Und sie wollte auch wissen, was die unscheinbare Außenseite im Innern barg, und ließ sich immer ausführlicher darüber von Walden erzählen. Vielleicht mochte sie dabei selbst glauben, daß ihre Fragen abgeklärtem Interesse an dieser historischen Stätte entsprangen, aber in Wahrheit wollte sie sich doch nur die Räume vorstellen können, in denen er seine Tage verbrachte.