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Ille mihi

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Lidwine machte schon eine schüchterne Gebärde, aber Askania schob entschlossen ihren Arm unter den der Schwester und antwortete: »Das können wir nicht mehr – wer einem der unseren etwas tut, ist auch unser Feind.«

Also hatte das Zehrentum um Ilse zum letztenmal geworben. An dem Gitter des Vorgärtchens lehnend, starrte sie den beiden alten Stiftsdamen nach. Unscheinbar und kümmerlich schritten sie dahin, und doch war es Ilse plötzlich, als ginge von diesen beiden dürftigen schwarzen Gestalten ein großer Schatten aus, der des Frühlings ganzes Licht mit seiner Dunkelheit bedeckte.

*

In der darauf folgenden Nacht schreckte Ilse plötzlich auf und starrte entsetzt in die Dunkelheit. Wo war das Gebilde geblieben? Sie hatte es ja so greifbar deutlich gesehen – oder sollte es doch nur ein Traum gewesen sein?

Eine glühend kahle Felsenwand. Ein schmaler Pfad wand sich hinan. Und auf diesem steilen Wege schritten zwei zusammen. Gebeugt unter schwerer Last und an den Knöcheln Sträflingsketten mit Kugeln dran, die sie keuchend nach sich schleiften. – Ein Mann und eine Frau. – Erschöpft, verlassen. In Steineseinsamkeit. Und doch, mit Trotz auf der Stirn und manchmal einem huschenden verzückten Aufleuchten in den brennenden Augen. – So klommen sie empor. Und mußten schon viele vor ihnen den steinig steilen Weg gegangen sein, denn er wies Blutspuren wunder Füße. – Ein Ziel war nicht zu schauen.

Ja, da in Greinchens Fremdenstübchen, in dem Berliner Vorort, wo die todgeweihten Kiefern im Nachtwind klagten, da hatte Ilse zum erstenmal diese Traumesvision erblickt. Doch wieder und wieder sollte sie ihr noch erscheinen. Bei nächtlichen Meerfahrten tauchte das Bild vor ihr auf, in der Einsamkeit mondbeschienener Andenpässe, wo nur die Kondore hausen, und auch in fernen östlichen Riesenstädten, hinter deren hohen düsteren Umfassungsmauern Millionen fremdartiger Wesen schlummern.

Ja, später da kannte Ilse jene beiden Bürdenträger gar wohl, wußte, wie müde die Schultern unter der Last wurden, wie schmerzhaft die Füße zuckten auf dem glühenden Felsenpfad.

Zweiter Band

Bald nachdem der Reichstag aus den Osterferien nach Berlin zurückgekehrt war, schrieb Fräulein von St.Pierre:

Liebste Mechtild!

Ich brauche es Dir wohl nicht erst auszusprechen, wie tief mich alles erschüttert hat, was Du mir über diese schwere Zeit schreibst, und wie sehr ich für Euch fühle, jetzt, wo Ihr es erleben müßt, daß all Eure Güte und die neidenswerte Stellung in Eurer Mitte von einer Undankbaren und Leichtfertigen herzlos vergessen und mißachtet beiseite geworfen werden. Sagen möchte ich Euch aber doch, daß hier Entrüstung herrscht und ganz allgemein für Euch Partei genommen wird. Ich will es mir nicht zum Verdienst anrechnen, denn es entsprach meiner heiligsten Überzeugung: aber bei manchen in ihrem Urteil noch Schwankenden habe ich geholfen, daß sie klare Einsicht in das wahre Wesen Deiner Schwägerin gewönnen. – Solche Frauen sind Gefahren für die Gesellschaft, mit ihrer loreleihaften Art, die Männer ins Verderben zu locken! – Wie hatte Sie doch Deinen trefflichen Schwager umgarnt! Ohne auch nur wirklich hübsch zu sein. Heut ist sie seiner müde, weil ihr ja jedes Verständnis für seine wahrhaft vornehme Persönlichkeit abgeht, und sie hat nur noch Sinn für den neuen Fang in ihrem Netze. – Nun, mit diesem Fremden habe ich kein Mitleid, er wird wohl Art von ihrer Art sein. Aber um Deinen Schwager ist es mir leid, daß er gerade da so wenig gewürdigt wurde, wo er demütigste Hingabe erwarten durfte! Und daß sie die Schamlosigkeit so weit treibt, ihm diese sogenannte Liebe sogar offen zu bekennen! Es ist empörend! Er muß nun wirklich auch äußerlich jede Gemeinschaft mit dieser Verirrten zerreißen, die innerlich doch nie zu uns allen gehört hat. Ich habe vorsichtig zu ergründen getrachtet, wie in maßgebenden Kreisen heute der Fall beurteilt wird – und ich kann Dir sagen: bei allem prinzipiellen und religiösen Abscheu gegen Scheidungen findet man doch, daß Dein Schwager zwar wahrhaft großmütig und christlich gehandelt hat, der verblendeten Frau die reuige Rückkehr in sein Heim so lange offen zu lassen, daß er nun aber nicht nur berechtigt ist, sondern seine Würde, ja die Heiligkeit der Ehe selbst es heischen, daß er diese Bande lösen lasse. – Ich glaube Dich aufs bestimmteste versichern zu können, daß ihm dadurch keinerlei Sympathien verloren gehen werden, sondern daß er im Gegenteil auf besonders wohlwollende Gesinnung rechnen kann.

Wenn ich ihn jetzt auch in Gesellschaft treffen sollte, so verbietet es doch die Natur der Sache, daß ich darüber mit ihm rede, darum teile ich Dir, liebste Mechtild, meine Eindrücke mit.

Bitte, versichere Deine verehrte Schwiegermutter meiner warmen Anteilnahme und treuen Anhänglichkeit und sage ihr, daß meine bescheidenen Kräfte ganz in Euren Diensten stehen.

Stets Deine treue Cousine

Adelaide von St.Pierre.

Dieser von Berlin nach Mechtilds Witwensitz gesandte und von dort mit vielen Ratschlägen nach Berlin in die Zelten an Theophil zurückexpedierte Brief befreite diesen von manch sorgenvoller Erwägung der letzten Wochen.

Nach Ilses plötzlicher Flucht hatte er zuerst völlig ratlos dagestanden. Daß ihm, dem immer schon feierlich Würdevollen und unter der goldenen Kuppel des Reichstages noch zu besonderer Bedeutung Emporgeschossenen, solches widerfahren könne, erschien einfach unglaublich. – Ein Zehren! der mit erdrückender Mehrheit gewählte Abgeordnete des Kreises Sandhagen!

Über Ilse selbst machte er sich dabei keine Gedanken. Etwa, wie sie zu solchem Tun gekommen, noch, ob ihn nicht selbst auch ein Teil der Schuld träfe, weil er, der so viel Ältere und Erfahrenere, sich ja nie, ehe er sie heiratete, die Frage vorgelegt hatte, ob sie beide denn eigentlich zusammen paßten, und ob es ihm möglich sein würde, diesem so anders als er gearteten jungen Wesen etwas Verständnis entgegen zu bringen. Auch empfand er kein wehmütiges Erinnern noch irgendwelch sehnsüchtiges Zurückverlangen. – Die Phantasie gehörte nicht zu seinen Gaben – so quälten ihn denn auch nicht all jene Vorstellungen, mit denen Eifersucht sonst foltert. Für die Frau, die aus solch unerwartetem Entschluß heraus plötzlich von ihm gegangen war, hatte er ja längst nur noch ein halb gleichgültiges, halb gereiztes Gefühl des Nichtverstehens, des Fremdseins gehegt. Bis zu welchem Maße aber sie ihm fremd gewesen, bewies gerade dieser unerklärliche Schritt! So etwas tat man doch nicht! Das kam ja gar nicht vor! Drum suchte er auch gar nicht zu begreifen. Er staunte nur.

Aus dem Staunen erwuchs dann als erster klarer Gedanke der Wunsch, daß ihm durch das Gebaren dieser Närrin kein Schaden erwachse. Die Bauernschlauheit, die auch aus dem schlechtesten Handel noch Vorteil zu ziehen trachtet, mußte wohl seines Wesens stärkste Triebfeder sein – sie zuerst regte sich wieder nach dem ersten lähmenden Schrecken.

Nun, Fräulein von St. Pierres Brief bewies, daß er bisher richtig gespielt! Ein Gewinner statt eines Geschädigten würde er sein – auf sozialem Gebiet. Aber noch ein anderes gab es, auf dem es galt, sich sicher zu stellen!

Ilse hatte inzwischen mehrere Zusammenkünfte mit Justizrat Schilderer gehabt, der ja Papas Vermögen für sie verwaltete, und den er ihr damals bei dem letzten Gespräch in Weltsöden genannt hatte.

Ein großer, breitgebauter Mann war er, hinter dessen mächtiger Stirn ein Geist wohnte, der nicht nur Feinstes verstand, sondern im Ergründen von Ursachen und Zusammenhängen etwas jener divinatorischen Gabe besaß, die auch ganz großen Ärzten eigen ist. Sein Beruf erschien ihm als die ideale Aufgabe, den Bedrängten und Bedrückten zu ihrem Rechte zu verhelfen. Drum war er auch sehr wählerisch in den Fällen, die er übernahm. Schutzlose waren seine Lieblinge, einsame Frauen, denen der Rechtsanwalt Freund und Vater wird. Die vertrat er dann nicht nur mit dem Verstand und Wissen, sondern auch mit seinem warmen Herzen, mit angesammelten Gefühlen, für deren Betätigung sein Leben sonst kaum Gelegenheiten bot. – In den langen Jahren seiner Praxis waren ihm wohl alle denkbaren Fälle von Bosheit und Niedertracht vorgekommen, und sie ruhten in seinem Gedächtnis wohlklassifiziert, wie in einem Lexikon menschlicher Tücke, so daß ihm bei jedem Namen gleich ganze Geschichten einfielen – aber trotz all dieser Erfahrungen hatte er sich doch einen schönen Glauben an das Vorhandensein eines großen Kapitals menschlicher Güte bewahrt. Jeder neue Fall von niedriger Gesinnung, von Übervorteilung Wehrloser war ihm ein persönlicher Schmerz, eine Enttäuschung! Ganz besonders aber, wenn es sich dabei um Mitglieder von Familien handelte, deren historische Vergangenheit die gegenwärtigen Träger solch stolzer Namen weit über gewöhnliche Versuchungen hinaus hätte erheben sollen. – Wenn der Justizrat durch die Straßen Berlins schritt und an all die Menschen dachte, die da so dicht beieinander wohnten, daß einer des anderen physische und geistige Bazillen einatmen mußte, so erblickte er hierin mit Wehmut die Erklärung für unvermeidliche Körper- und Seelenkrankheiten aller Art. Ganz anders aber schmerzte es ihn, wenn er von Leuten hörte, die, durch Tradition und Lebensumstände von der Allgemeinheit geschieden, hieraus nicht die ethische Forderung folgerten, ganz anders und unantastbarer dazustehen, als all die armen Zusammengepferchten. – Durch Geburt und Lebenslauf selbst ein Städter, hegte der Justizrat eine moralischem Optimismus entspringende Vorliebe für die Kreise ländlichen Adels, und trotz mancher gegenteiliger Erlebnisse hoffte er immer wieder in ihnen jene kernig gesunde und edle Einfachheit zu finden, die im Gesamtleben des Volkes das Gegengewicht bilden sollte zu all dem verlogenen, reklamehaften und nach Vorteil hastenden Wesen, von dem er sich stündlich umgeben sah.

Bei ihrer letzten Zusammenkunft hatte Ilses Vater dem Justizrat viel von der Tochter erzählt und von den Sorgen, die ihn ob ihrer Zukunft erfüllten, nachdem er gewähnt, durch die Verheiratung mit Theophil so gut für sie gesorgt zu haben. Das Ergebnis dieser Unterredung war dann das im Zehrentum später so großen Zorn erregende Testament gewesen.

 

In Erinnerung an jenes Gespräch zeigte der Justizrat sich denn auch nicht sonderlich erstaunt, als Ilse zum erstenmal, von Greinchen begleitet, bei ihm erschien und ihm ihr Anliegen wegen der Scheidung vortrug, was er von Ilses Vater vernommen, und ihr eigener Anblick ließen ihn bald die ganze traurige kleine Geschichte erraten, die Ilse als einen großen, nie gehörten Fall menschlicher Herzenserlebnisse ansah, weil sie just ihr passiert war, die dagegen dem alten Justizrat eine Wiederholung oft vernommener Mär erschien. – Sehr zart und schonend fragte er sie dann nach Einzelheiten aus ihrem Leben mit Theophil, und obschon sie deutlich sein Wohlwollen fühlte und den Wunsch, alle für sie günstigen Daten zu sammeln, war es ihr doch bitter peinlich, von all diesen Dingen zu erzählen, die sie am liebsten ganz aus ihrem Gedächtnis gestrichen hätte. Es erschien ihr jetzt ja so unfaßlich, daß es je einen Theophil in ihrem Leben gegeben hatte! Warum an all das schmerzlich Beschämende rühren.

»Ich muß doch über den Fall orientiert sein, wenn ich Sie gegen Beschuldigungen verteidigen soll,« hatte Schilderer gesagt, und Ilse antwortete: »Wozu überhaupt Angriffe und Gegenwehr da hineintragen? Es muß doch sicher eine Art geben, durch ruhigen, friedlichen Entschluß auseinander zu gehen – wie wir ja auch einst, leider, zusammengekommen sind.«

»Gewiß,« antwortete der Justizrat, »es ist solch ein Weg von der Gesetzgebung vorgesehen – gegenseitiges Übereinkommen, unüberwindliche Abneigung, und das ist auch der kürzeste und einfachste Weg – aber – ich habe so eine Ahnung, als ob die Gegenpartei den nicht würde einschlagen wollen.«

»Aber nach meinem Brief und meinem Gespräch mit seinen Tanten kann doch Theophil, ganz wie ich, nur den einen Wunsch hegen, alles zu tun, damit unsere Ehe möglichst bald gelöst wird,« sagte Ilse.

Schilderer zuckte die Achseln. »Vielleicht hat er doch noch andere Wünsche,« erwiderte er bedächtig. »Wie dem aber auch sei – wir müssen abwarten. Denn Sie, meine liebe, gnädige Frau, können überhaupt nicht auf Scheidung klagen, da ja nach Ihren eigenen Aussagen Herr von Zehren nichts vor dem Gesetz Strafbares begangen hat. Wir sind leider in der nachteiligen Lage, den Gegner zu einem Eingehen auf unsere Wünsche überreden zu wollen – daraus aber kann sich leicht der Zwang ergeben, seine Bedingungen annehmen zu müssen – und zwar um so leichter, je mehr wir Eile verraten.«

So hatte denn Ilse gewartet, und die Osterzeit war vorbei geschlichen, ohne daß sie von Theophil gehört hätte. Auch ein Brief, den ihm der Justizrat doch noch auf ihr Drängen geschrieben hatte, um mitzuteilen, daß er ihr Bevollmächtigter sei, war unbeantwortet geblieben. Während dieses Wartens aber war, nach der alles Zagen überwindenden Erregung des ersten Entschlusses, eine Art Abspannung über Ilse gekommen; ohne daß sie es selbst wußte, war sie innerlich mürbe geworden. Sie hätte alles zugestanden, nur um dieser Ungewißheit zu entgehen und ihre heiß ersehnte Freiheit zurück zu gewinnen.

In dem entstehenden Vorort, wo Greinchen wohnte, war jetzt im Frühjahr die Bautätigkeit wieder aufgenommen worden, und zwischen den Kiefern wuchsen neue Häuser empor, die künftiges Glück und Leid beherbergen würden. Ilse jedoch sah kaum die um sie liegende Welt, weit fort waren ihre Blicke gerichtet auf eine ferne Insel, von der sie viele Tagereisen trennten. Alle Bücher, die über das Land, in dem Wolf weilte, geschrieben worden, hatte sie sich zu verschaffen gesucht und in diesen fremden Regionen lebte sie in Gedanken mit ihm, fühlte sich dort schon ganz heimisch. An Greinchens Küchenherd glaubte sie Tropenhitze zu atmen, die Kiefern draußen wurden ihr zu Kokospalmen, und die Maurer, die hier in märkischem Sande Fundamente von Villen neuester Stile errichteten, dichtete sie um zu arabischen Lastenträgern, zu Suaheli-Ackersklaven. – So baute ihr Phantasie Brücken über die Meere!

Am nahesten fühlte sie sich Wolf aber doch, wenn sie vor dem Klaviere saß. Immer wieder spielte sie da die Lieder, die er gesungen, und es war ihr dann, als höre sie seine Stimme dicht neben sich, wie an jenem Abend, da sie ihn zuerst begleitet hatte. Und leise flüsterte sie heute mit ihm die Worte des Griegschen Liedes: »Ich liebe dich in Zeit und Ewigkeit.« Doch nicht nur ein wehmütig Träumen war ihr die Musik, nein, sie übte sehr fleißig, sie wollte ja so viel für ihn können! Sie hätte gewünscht, etwas Vollendetes zu sein, nur um es ihm schenken zu können. Jedem Worte seiner Briefe fühlte sie es ja an, wie sehr er sich nach ihr sehnte. Ach, daß er sie bei seiner Rückkehr ganz so finden möchte, wie er sie im Herzen trug!

In seinem letzten Briefe hatte er erzählt, daß er dort nun auch ein Klavier aufgetrieben habe. »Ich singe Wagners Lied von den Schmerzen,« schrieb er, »und ich glaube, daß ich das Lied jetzt zu verstehen beginne.« – Und der Brief schloß mit der Bitte, Ilse möge sich für ihn photographieren lassen, »obschon ich ja, wo ich auch bin, eigentlich nichts anderes mehr vor mir sehe wie Dich, immer und einzig nur Dich«.

Sie hatte sich fertig gemacht, um sogleich dafür in die Stadt zu fahren, und auf dem Wege zum Photographen wollte sie sich das Wagnersche Lied besorgen, um es gleich heute abend hier spielen zu können, wie er dort auf der fernen Insel. – Da trat die Wirtin ein mit der geheimnisvollen Miene, die sie bei allem annahm, was Ilse betraf und flüsterte: »Ich bringe der gnädigen Frau ein Telegramm.«

Ilse riß es angstvoll auf. Die Trennung, die weite Entfernung zerrten eben doch mehr an den Nerven, als sie es in ruhigen Stunden zugegeben hätte! – Aber gottlob, es war nur vom Justizrat, der sie für eine spätere Nachmittagsstunde in sein Bureau bestellte. Vielleicht schritt die Sache nun doch endlich vorwärts!

Solch gelegentliche Fahrten in die Stadt waren ihr jetzt stets etwas Beklemmendes. Sie hatte zwar zufällig bisher noch keine Bekannte getroffen, aber sie malte es sich aus, wie peinlich es sein würde, wenn sie diesem oder jenem begegnete, und man sie vielleicht teilnehmend fragte, wie es denn nun eigentlich alles stände.– Aber heute fühlte sie sich merkwürdig froh und frei! Es freute sie, sich für ihn photographieren zu lassen – sie wollte in den Apparat blicken, als schaue sie ihn selbst an! Und ihm viel, viel mit diesem einen Blick senden!

So hatte sie das Notenheft besorgt und trat nun beim Photographen ein. – Da aber herrschte jene erwartungsvolle Erregtheit, die den Deutschen aller Schichten so oft eigen ist, wenn sie höfische Luft einatmen. – »Die Frau Herzogin Wanda hat sich soeben mit ihrem Affenpintscher aufnehmen lassen,« flüsterte eine Verkäuferin mit geröteten Wangen. Ilse wollte nun eigentlich gehen, um nicht durch langes Warten die vom Justizrat anberaumte Stunde zu versäumen, aber einer der Angestellten versicherte sie, daß der Photograph sofort für sie frei sein würde. Und wirklich öffnete sich in diesem Augenblick auch schon die Tür, und die Herzogin trat, vom Atelier kommend, in das Wartezimmer, gefolgt von ihrer Obersthofmeisterin und einem Lakaien, der den Affenpintscher in den Armen hielt. Ilse stand dicht an der Tür und verbeugte sich vor der Hoheit. Diese hob ihre Lorgnette an die Augen, und als sie Ilse erkannt hatte, schaute sie verwirrt um sich, unschlüssig und Hilfe suchend, wie jemand, der nicht gewohnt ist, allein zu wissen, was in einer schwierigen Lage das Gebotene sein mag. Doch schon war die Obersthofmeisterin, eine Freundin Fräulein von St. Pierres, mit raschem Schritt zwischen die Herzogin und Ilse getreten, reichte ihrer Herrin scheinbar ganz unauffällig die Boa, die sie ihr nachtrug, und sagte dabei leise, doch so, daß Ilse jedes Wort hören mußte: »Eure Hoheit kennen ja diese Dame gar nicht.«

Der Hofwagen war längst davon gerollt, und Ilse begriff kaum, was geschehen. – Vor wenigen Wochen noch hatten diese selben Menschen sie umringt und gefeiert, was hatte sie ihnen denn seitdem getan? Und war dies etwas Vereinzeltes oder würden fortan alle so zu ihr sein? In dem schwülen Atelier, auf dessen Glasdach die Sonne brannte, fröstelte sie bei dem Gedanken. Denn sie gehörte zu jenen, denen weh zu tun nicht schwer hält, weil in ihrem innersten Wesen ein so großes Bedürfnis nach freundlichem Einvernehmen mit der Welt lag; das Musikalisch-Künstlerische in Ilse mochte es sein, das sie bei jedem Mißklang wie verwundet zusammenzucken ließ, gerade weil es so besonders sehnsüchtig nach Harmonie verlangte.

Umsonst sagte der Photograph: »Bitte nicht so ernst! Bitte recht freundlich!« Es blieb ein mühsam zu schmerzlichem Lächeln verzogenes Kindergesicht, das da mit großen, traurigen und nicht verstehenden Augen in den Apparat blickte. – Und dem, der nach Wochen das Bild in fernem Lande erhielt, schienen die zuckenden Lippen, wie schon einmal, zu sagen: »Warum geschieht so viel erlaubtes Unrecht auf der Welt?«

Auf der Fahrt vom Photographen zum Justizrat drückte sich Ilse in eine Ecke der Droschke, zog den Schleier vor und hielt den Schirm dicht über sich – sie hatte die Furcht vor den Menschen kennen gelernt.

Als Ilse bei dem Justizrat eintrat, begrüßte er sie mit den Worten: »Nun, ich habe einen Besuch gehabt,« und setzte dann auf die Frage ihrer Augen antwortend, hinzu: »Nein – ein anderer Zehren —« er suchte dabei nach einer Karte – »ich weiß nicht mehr, wie der Zuname war – aber ein ganz, ganz langer Mensch.«

»Eiffel-Zehren,« fiel Ilse ein.

»Das paßt allerdings. Der kam also, im Auftrag. Nun, es scheint ja, daß man jetzt prinzipiell zur Scheidung entschlossen ist – unter gewissen Bedingungen.«

»Oh, ich nehme jede an!« rief Ilse. Und sie fühlte, wie das Alleinsein und die Sehnsucht, sich zu Wolf retten zu können, während dieser letzten bitteren Stunde überwältigend stark in ihr geworden war.

Der Justizrat ließ die Brille auf die Nasenspitze gleiten und schaute mit den klugen Augen darüber hinweg, was er immer tat, wenn er schärfer sehen wollte. Ilses verstörten Ausdruck gewahrend, sagte er beschwichtigend: »Sachte, sachte, meine liebe, gnädige Frau, setzen sie sich da erst mal behaglich hin, und lassen Sie sich erzählen. Also Eiffel-Zehren, wie sie ihn nennen, war hier und erklärte, sein Vetter sei nunmehr entschlossen, die Scheidungsklage einzureichen. Ich sagte, es würde alles sicher rasch und glatt gehen, da wir uns doch natürlich auf gegenseitige unüberwindliche Abneigung einigen würden, was ja auch der wahre Grund sei. Aber hoho! lachte da Eiffel-Zehren, ne, mit so was dürfen sie mir nicht kommen, Herr Justizrat, wir wissen, was wir wissen – Theophil wird auf Scheidung wegen Ehebruchs klagen. – Dann wird er abgewiesen werden, antwortete ich, denn er kann nicht beweisen, was nie gewesen ist. – Seien sie man nicht zu forsch, Herr Justizrat, entgegnete darauf Eiffel-Zehren, in ihrem Brief an meinen armen Vetter brüstet sich seine Frau ja geradezu damit!«

»Das ist nicht wahr,« schrie Ilse auf.

»Hab ich ihm ja auch reichlich erwidert,« sagte der Justizrat gemächlich. »Er aber blieb dabei, jeder Richter würde das aus dem Brief herauslesen. Außerdem sei ein Brief Herrn von Waldens an sie gefunden worden, worin er sie nach seiner Versetzung um eine Unterredung bitte; die habe stattgefunden, trotz allem, was Ihnen vorher schon über solche Zusammenkünfte gesagt worden – und das alles zusammen mit den früheren Rendezvous würde ein Urteil gegen sie ermöglichen – und wenn wir das erreichen, schloß Eiffel-Zehren triumphierend, kann sie ihren Liebhaber nicht heiraten!«

»Dann folge ich Wolf eben auch ohne dem durch die ganze Welt,« sagte Ilse ganz leise, aber mit einem seltsam festen und entschlossenen Klang. Der Justizrat sah sie einen Augenblick erstaunt an. Dann glitt ein halb belustigter, halb bewundernder Ausdruck über sein Gesicht, und er sagte: »Nun, das muß man Ihnen lassen – Sie scheint nichts zu schrecken – aber zu so extremen Dingen wird es nie kommen. Ich antwortete diesem Eiffel-Zehren: Sollte Ihrem Vetter wirklich gelingen, womit sie da drohen, so könnte er sich seinerseits nirgends mehr blicken lassen: Ehebruchsdramen werden in ihren Kreisen doch nicht vor dem Richter beendet.«

Ilse zuckte entsetzt zusammen. Sie glaubte schon blutige Katastrophen vor sich zu sehen. Sie wurde ganz blaß.

»Na, na,« beruhigte der Justizrat, »geschossen wird noch lange nicht. Ich wußte ja, daß dieser Eiffel-Zehren die ganze Zeit bluffen wollte. Sehr bald war er denn auch so weit: Klage wegen böswilliger Verlassung sei das Mindeste, was er und der ganze Familienrat Herrn von Zehren-Weltsöden empfehlen könne. Ich blieb bei gegenseitiger unüberwindlicher Abneigung, aber er entgegnete, eine derartig unwahre Angabe sei dem geraden, aufrichtigen Wesen seines Vetters unmöglich – der wolle kein Spiel mit dem Gesetz treiben.«

 

»Ach, Herr Justizrat,« stöhnte Ilse, »lassen Sie‘s ihn doch machen, wie er will, nur daß ich frei werde und fort kann.«

»Wenn die Ehescheidung wegen böswilliger Verlassung gegen Sie erfolgt, würde Herrn von Zehren rechtlich der vierte Teil Ihres Vermögens zustehen,« sagte der Justizrat und setzte dann langsam hinzu: »Ich habe aber den Eindruck gewonnen, daß Sie mit Geldzugeständnissen viel erreichen könnten, vielleicht sogar die Scheidung auf Grund gegenseitiger unüberwindlicher Abneigung – was doch immerhin vorzuziehen wäre. Ihr mütterliches Vermögen soll ja zum größten Teil zu Meliorierungszwecken in Weltsöden verwandt worden sein – na, mir scheint, das Ganze dreht sich darum, ob sie dies Geld drangeben wollen, oder auf Rückerstattung der drei Viertel, die Ihnen in jedem Falle zuständen, bestehen wollen.«

»Ach, Herr Justizrat,« sagte Ilse mit einer müden Bewegung, »mich will heute dünken, daß man das Leben mit viel Wertvollerem wie Geld schmerzlich teuer bezahlen muß – geben Sie ihm doch so viel er verlangt, wenn ich mir damit Frieden und Freiheit erkaufen kann.«

Wieder sah sie der Justizrat mit hochgezogenen Brauen über die Brille hinweg an: »Gestatten Sie eine Frage: Sie wollen sich wieder verheiraten – ist das Vermögen Herrn von Waldens denn derart, daß Sie auf das Ihre nicht zu rechnen brauchen?«

»Ich weiß darüber nur sehr wenig,« antwortete Ilse, »er ist der Letzte seines Namens – was da an Geld und Land war, ist also vermutlich auf ihn gekommen – aber uns beiden ist das alles ja so gleichgültig! Wir wollen doch nur beieinander sein! – und – schließlich – mir blieben doch immer die Zinsen meines väterlichen Vermögens – ich war ja wohl, was man so eine gute Partie zu nennen pflegt.« Und dann setzte sie bitter hinzu: »Vielleicht würde mein Leben glücklicher geworden sein, wäre ich das nicht gewesen.«

Sehr müde, wie zerschlagen, kehrte Ilse schließlich in Greinchens kleines Vororthaus zurück.

Abends stellte sie das mitgebrachte Notenheft auf das Klavier und entzifferte Wagners Schmerzenslied, das Wolf jenseits der Meere sang. Dazu sprach sie leise die Worte des Textes vor sich hin: »Geben Schmerzen Wonnen nur: oh wie dank ich, daß gegeben solche Schmerzen mir Natur!« Bei den Tönen, bei den Worten erwachte ihre Tapferkeit von neuem. Ja, alles wollte sie lieben, was zu ihm führte, was durch ihn kam: auch die Schmerzen!

Und wer seine Schmerzen erst liebt, der hat ihren knechtenden Druck überwunden, der ist schon ein Freier – ein Sieger.

Das Scheidungsverfahren nahm nun wirklich seinen Fortgang, und es kam, wie Justizrat Schilderer vorausgesagt: Ilse erkaufte sich die Wiedererlangung ihrer Freiheit, erkaufte auch die Form, in der sie sie zurück erhielt. Ihr mütterliches Erbteil, das in den sandigen Boden von Wüste Teufelstrift gesenkt worden war, bildete den Preis. Es sollte drin ruhen bleiben und in langsamer Wandlung künftigem Geschlechte Früchte tragen: kümmerliche Bankskiefern, die nach zwanzig Jahren abgetrieben werden würden, um, im gebesserten Lande, neuer Aussaat Platz zu machen.

Es tobte ein langer Kampf zwischen Schilderer, der gern einen Teil der Summe für Ilse zurückerobert hätte, und Eiffel-Zehren, der, Theophil vertretend, die Anschauung wie einen selbstverständlichen Glaubenssatz verteidigte, daß was einmal der Scholle einverleibt worden sei, ihr verbleiben müsse und nicht mehr herausgegeben werden könne.

Auf Schilderers Widerspruch entgegnete er, daß ihm dieser Entgelt noch zu gering erscheine für der Familie Schweigen über die wahren Ursachen der Scheidung, »im übrigen glaube er kaum, daß diese Einwendungen von der bisherigen Frau Ilse von Zehren selbst erhoben würden, als vielmehr, daß der Herr dahinter stecke, der sie, wie es heiße, zu heiraten beabsichtige, und der daher ein begreifliches Interesse daran nehme, das Vermögen seiner künftigen Frau möglichst abzurunden. Bei Bekanntwerdung solchen Verhaltens an maßgebender Stelle dürfte die ohnedies erschütterte Stellung jenes Herrn vollends unhaltbar werden.«

Man hatte Ilse richtig eingeschätzt. Diese gegen Wolf gerichtete Drohung genügte, um sie von jedem weiteren Schritt zur Wiedererlangung ihres mütterlichen Erbteils abzuschrecken. – Zu Schilderer sagte sie dann: »Wissen sie, Herr Justizrat, in der Dachkammer in Weltsöden habe ich mal ein altes Buch über das Hofrecht und die Hörigen gelesen – mir scheint fast, die Zehren sehen auch heute noch jeden, der zu ihrem Hof mal in Beziehung gestanden hat, als hörig und abgabepflichtig an.«

Der Justizrat erwiderte: »Es bleibt immerhin ein sehr hoher Preis, den Sie zahlen müssen! – Aber freilich,« setzte er dann hinzu, »ein Irrtum in der schwierigsten aller menschlichen Entschließungen kommt, auf die eine oder andere Weise, eben immer teuer zu stehen. Bei einem Versehen in jeder anderen Wahl, handle es sich nun um Freunde, Angestellte, Einkäufe, Berufe, wird man bemitleidet und entschuldigt; nur in der Wahl des lebenslänglichen Gefährten, für die es kein Auskunftsbureau gibt, und die von so einem jungen, im Dunklen tappenden Wesen getroffen wird, da darf man nicht irren – sonst wird man dafür bestraft.«

Schließlich, nach einer Zeit, die Ilse endlos geschienen, war die Scheidung ausgesprochen worden. Sie hatte es nicht über sich vermocht, selbst mit dem Justizrat zum Gericht zu fahren, sondern erwartete ihn in seinem Sprechzimmer. So sehr er sie auch schon vorher beruhigt und versichert hatte, daß gar kein Zweifel über das Endergebnis bestehen könne, verbrachte sie diese Stunde doch in atemraubender, qualvoller Aufregung, und Greinchen, die sie begleitet hatte, stand dabei wie eine dicke kleine Bulldogge, die sich bemüht, gefährlich bissig auszusehen und doch die angeborene Gutmütigkeit nicht verbergen kann. – Große Tränen des Mitgefühls standen ihr in den vorspringenden Augen, und dabei sagte sie, daß alle Männer verdienten, endgültig vernichtet zu werden.

Endlich kehrte der Justizrat zurück, und Ilses Ausdruck gewahrend, rief er schon an der Türschwelle: »Alles gut!«

Da flog sie auf ihn zu, warf ihm die Arme um den Hals und küßte ihn auf beide Wangen.

»Wie eingebildet man doch werden könnte,« sagte der Justizrat, »aber leider gilt das ja nicht mir!«

»Der ganzen Firma!« rief Ilse zwischen Weinen und Lachen.

»Ach nein,« antwortete der Justizrat, »ich glaube eher einem Abwesenden!«

Eine ganz elementare Freude war in Ilse, etwas von den Naturgefühlen irgendeines armen Tieres des Waldes, eines eingefangenen Rehchens, das, nachdem es lange kläglich an der Kette gelegen, plötzlich losgelassen wird und nun gar nicht weiß, was es anstellen soll, um sein Entzücken, seine Dankbarkeit zu beweisen.

Und es waren ja Ketten gewesen, die nicht nur gedrückt, sondern erniedrigt hatten.

Greinchen mußte gleich mit Ilse auf das nächste Telegraphenbureau; sie konnte es kaum erwarten, die Nachricht an Gräfin Helmstedt und vor allem an Wolf zu senden. Staunend sah Greinchen, zu welcher Länge das Telegramm nach Zanzibar sich ausdehnte. – »Das wird aber sehr teuer werden, liebes Kind!« mahnte sie.

»Aber denke nur, wie glücklich er sein wird!« antwortete Ilse, »was ist da teuer!«

Von Gisi kam noch am selben Tage eine Antwort, in der sie Ilse bat, da ihre Anwesenheit in Berlin nun nicht mehr nötig sei, doch möglichst bald und für längeren Aufenthalt zu ihr nach Italien zu kommen. – Dazu entschloß sich Ilse sofort.