... denn alles ist Vorherbestimmt

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12.

Als Tina am Nachmittag in ihrem grünen Jogginganzug den Aufzug betrat, kam eine Schwester dazu, die einen kleinen Jungen im Rollstuhl fuhr. Die beiden schienen viel Spaß zu haben, denn sie lachten, bis die Tränen kamen. Dabei passte die Krankenschwester wohl nicht auf, so dass der Rollstuhl gegen Tinas Gehwagen stieß, und sie ins Wanken kam. Im letzten Moment konnte sie sich noch halten. Der Junge hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, und auch die Krankenschwester war sichtlich erschrocken.

»Verpetzt du uns?«, fragte der Knirps und sah sie mit großen Augen an. Tina hatte sich zwar auch erschrocken, aber es war ja nichts passiert.

»Nee, aber das kostet was. Du gehst nachher mit mir ein Eis essen. Ich bezahle, okay? Wie heißt du denn?«

»Nils. Ich heiße Nils, und wie heißt du?«

»Ich bin Tina. Musst du auch zu Dr. Bergheim?« Nils nickte.

»Ja. Und danach gehen wir Eis essen. Muss ich ja wohl, oder?« Er zog ein Gesicht, als ob es für ihn eine große Strafe wäre.

»Ja«, sagte Tina, »das hast du dir selber eingebrockt. Aber wenn ich es so richtig bedenke, ist ja Schwester Marianne Schuld. Sie muss mit mir zum Eis essen. Du konntest ja nichts dafür.« Da stützte er sich auf die Lehne des Rollstuhls und wurde hektisch.

»Nein, nein, das kommt nicht in Frage. Ich gehe mit. Das ist nun abgemacht. Marianne mag gar kein Eis, glaub ich. Ist doch so, oder Marianne?«

Die Schwester lächelte und meinte: »Das hast du richtig erkannt. Für ein Eis ist es viel zu kalt für mich. Geh du ruhig mit.«

Der kleine Junge bekam rote Wangen und freute sich.

Er schaute Tina an und sagte: »Ich mag so gerne Eis. Haben die hier sowas? Auch mit Schokolade?« Tina nickte.

Der Fahrstuhl hielt, die drei stiegen aus und gingen zum Behandlungszimmer von Dr. Bergheim.

Schwester Anna nahm Nils schon in Empfang und meinte zu ihrer Kollegin: »Danke Marianne. Ich übernehme ihn. Ich rufe dich an, wenn er fertig ist. Bis nachher.«

Sie wollte mit Nils in das Zimmer gehen, aber er rief: »Halt! Tina, gehst du wirklich nicht weg? Bitte bleib hier. Ich bin gleich fertig. Versprochen ist versprochen.« Und dann erzählte er Anna, dass er gleich ein Eis bekäme.

Tina versprach, dazubleiben. Sie konnte ja gar nicht fort, sagte sie, weil sie doch auch noch untersucht werden müsse.

Das sah er ein und meinte zu Anna: »Dann fahr jetzt los. Tina wartet auf mich. Wir müssen uns beeilen.«

Und es dauerte auch wirklich nicht lange, als er mit Dr. Bergheim im Schlepptau in der Tür erschien.

»So, Frau Braune, dann kommen Sie mal. Nils wartet hier. Klar, Sportsfreund?«

»Klar Boss.«

Und zu Tina meinte Andy: »Da sind Sie wohl zur rechten Zeit am rechten Ort. Der Kleine hat schon eine Menge mitgemacht und soll am Freitag noch mal unters Messer. Aber er ist sehr tapfer. Und wie ist es nun mit Ihnen? Mit dem Wagen klappt das Laufen etwas besser, oder?«

»So richtig gut geht es auch nicht, aber ich übe. Ich soll am Wochenende entlassen werden und bin ja alleine. Also muss es bis dahin gehen mit dem Gehen.«

Andy nahm ihr die Schiene ab und meinte, dass die Wunde gut heilen würde. Er zog die Drainage, und Tina war dankbar dafür. Immer mit diesem Beutel gehen, das ging ihr total gegen den Strich. Die Schiene wurde wieder angelegt, und ihr orange-roter Fuß wurde wieder umwickelt.

Mühselig stand sie auf und bedankte sich. Andy half ihr und Tina zuckte bei seiner Berührung zusammen. Er merkte es und fragte sie, ob es weh täte. Nein, der Fuß tat nicht weh. Sie wurde ganz verlegen.

Tina spürte, dass mit dem Arzt etwas nicht stimmte. Er war gestern noch so fröhlich.

Was hat er bloß, dachte sie. Hab ich was Falsches gesagt? Sie war sich keiner Schuld bewusst. Er hielt ihr die Tür auf und mit ein paar knappen Worten verabschiedete er sich. Als Nils sie sah, beschwerte er sich.

»Du bist ganz schön lange da drin geblieben. Ich dachte schon, dass du den Hinterausgang genommen hast. Das wäre echt fies gewesen.« Tina lachte.

»Nils, wenn ich sage, dass ich mit dir Eis essen gehe, dann tu ich es auch. Ich glaube, du schaust zu viel Fernsehen. Warte, ich hole eine Schwester, die dich da hinfährt.«

»Brauchst du nicht, ich kann das alleine«, meinte er und sauste schon los.

»Nils, warte, ich kann doch nicht so schnell, und außerdem ist das der falsche Weg. Nun komm schon zurück, wir müssen auch noch kurz in mein Zimmer. Ich muss noch Geld holen.« Nils machte ein langes Gesicht.

»Ach nein, das auch noch! Ich hab da schon so lange gewartet. Nun mach schon. Kannst du nicht ein bisschen schneller laufen?«

»Nein, das kann ich nicht. Noch nicht. Nun maule nicht rum und komm mit.«

Als Tina ihre Station betrat, fiel ihr ein, dass die Leute auf der Kinderstation wissen müssen, wo der Kleine abgeblieben ist.

Sie ging zur Stationsschwester und erzählte ihr, dass sie nun zur Cafeteria ginge mit Nils und ob sie wohl bitte auf seiner Station Bescheid geben würde, damit man ihn nicht suchen würde. Die Schwester versprach, es sofort zu tun.

Tina holte das Geld und nun endlich würde der kleine Zappelphilipp sein lang ersehntes Eis bekommen.

Die Cafeteria war ziemlich besetzt, aber Nils hatte schnell einen freien Tisch entdeckt und fuhr keck in dessen Richtung. Bevor Tina etwas sagen konnte, war er schon da und hielt mit dem Rollstuhl vor einem Stuhl, damit niemand ihn wegnehmen konnte.

Tina setzte sich und streckte das kaputte Bein lang unter den Tisch. Nils schob einen Stuhl zur Seite, damit er mit dem Rollstuhl Tina gegenüber sitzen konnte.

Als ein junges Mädchen kam und fragte, was sie möchten, sagte er wie aus der Pistole geschossen: »Zwei Eis. Mit Schokosoße und Schokostreusel. Zwei Kugeln für jeden.« Die junge Frau mit weißer Schürze lächelte.

»Du weißt ja ganz genau, was du willst.« Tina lachte auch.

»Er hatte ja eine Menge Zeit zum überlegen, was er will, nicht wahr Nils?« Nils nickte.

»Hattest du einen Unfall?«, fragte er nun betreten. Tina sagte ihm, dass es auch ein Unfall war, aber kein Verkehrsunfall. Sie sei umgeknickt und auf einen Stein aufgeschlagen. Nun wäre der Fuß gebrochen und in einer Operation mit Schrauben wieder zusammengeflickt worden.

Nils rückte nervös in seinem Rollstuhl hin und her.

»Wann kommt denn endlich das Eis? Soll ich mal hinfahren und fragen?« Tina fasste über den Tisch seine kleine Hand.

»Du bleibst hier sitzen, mein Freund. Es wird schon gleich kommen. Da sieh mal, sie stellt es schon auf das Tablett.«

Endlich kam das Eis und sah sehr lecker aus. Nils hatte noch zusätzlich ein paar Schokoladenbonbons darauf. Das Kind war überglücklich, und Tina freute sich auch. Sie mochte eigentlich gar kein Eis, aber sie konnte es dem kleinen Kerl ja wohl schlecht absagen.

»Darfst du eigentlich gar nicht aufstehen?«, fragte Tina.

»Doch, aber nur wenn Bernd dabei ist. Ich muss jeden Tag Sport machen mit ihm. Alleine darf ich das noch nicht.«

Tina beugte sich etwas vor und meinte: »Ich muss auch jeden Tag mit Bernd Sport machen. Wollen wir ihn mal fragen, ob wir es zusammen machen dürfen?« Nils war begeistert.

»Ja«, rief er laut und danach gehen wir wieder hierher zum Eis essen. Das ist eine tolle Idee.«

Tina musste lachen. »Nein, nein, so haben wir nicht gewettet. Du platzt ja irgendwann und dann wird deine Mama sich wohl bei mir bedanken.« Nils schaute auf einmal ganz traurig drein und sah aus, als ob er anfangen würde zu weinen.

»Meine Mama ist tot. Ich wohne nun bei Oma.« Tina schaute betreten auf ihr Eis.

»Und dein Papa?«

»Der ist abgehauen. Der hat immer nur geschrien und hat Mama sogar mal gehauen. Da hat sie die Polizei angerufen und Papa ist weggelaufen. Aber das macht nichts. Oma ist voll in Ordnung.« Der kleine Junge tat Tina so leid.

»Woran ist denn deine Mama gestorben«, fragte sie voller Mitgefühl. Ein dickes Stück Eis fiel Nils auf den Pullover. Tina beugte sich vor, nahm es mit ihrem Löffel auf und legte es auf den Teller, auf dem ihr Glas mit dem Eis stand.

»Das macht nichts. Es gibt Wasser und Waschpulver und dann sieht man gar nichts mehr. Magst du mir erzählen, wie deine Mama gestorben ist, Nils?«

Er nickte. »Ja, aber ich will es nun noch nicht.«

Tina schob den Stuhl, der neben ihr stand, zur Seite und sagte: »Komm, stell deinen Rolli neben mich. Dann nehme ich dich in den Arm, wenn du willst.«

»Das will ich aber nicht«, sagte Nils empört.

»Was denken denn die Leute? Wir sind doch kein Liebespaar.« Aller Kummer war vergessen.

»Ist gut, dann erzählst du mir ein anderes Mal von deiner Mama, okay? Wir sehen uns ja morgen schon wieder.«

Nils wechselte schnell das Thema. »Das Eis ist voll lecker, nicht Tina? Ich mag so gerne Schokoladeneis. Sieh mal, ich habe es schon fast auf. Du bist aber langsam. Du hast ja noch eine Kugel und noch mehr in deinem Glas.«

Als er anfangen wollte, das Glas auszulecken, nahm Tina es ihm weg.

»Nils, du bist ein Ferkel. Dein ganzes Gesicht ist schon voller Schokolade. Man macht sowas nicht! Auslecken geht gar nicht! Möchtest du mir helfen? Ich schaffe das ganze Eis nicht, denn eine Kugel ist für mich genug.«

Nils riss das Glas von Tina zu sich herüber und nahm die schon angetaute Kugel heraus. Man sah ihm an, was er dachte: So ein toller Tag!

Hoffentlich bekommt er keine Bauchschmerzen, dachte Tina. Sie wollte ihn gleich auf die Kinderstation begleiten und der Stationsschwester sagen, dass er eine Riesenportion Eis verdrückt hatte.

 

13.

Als sie die Cafeteria verließen, sah Nils am Ausgang ein Regal mit kleinen Autos. Er blieb davor stehen und liebäugelte mit einem schwarzen Landrover mit orangefarbenen Flammen darauf.

»Ist das Auto schön?«, fragte Tina. Nils nickte.

Er erzählte Tina, dass er zu Hause noch mehr Landrover habe, aber in anderen Farben. Er nahm es in die Hand und schaute genau hin. Dann hängte er es wieder auf die Stange und wollte losfahren. Tina schaute auf das Preisschild. 3,49 €. Das ist ein teurer Nachmittag, dachte sie. Aber sie empfand so viel Freude in ihrem Herzen, dass sie gar nicht anders konnte, als ihm nun 3,50 € in die Hand zu drücken und das Auto noch dazu.

»Gehst du bitte bezahlen?«, fragte sie ihn. Nils stierte auf das kleine Auto.

»Ist der für mich?«, fragte er erstaunt. Tina nickte und freute sich über das Leuchten in den Augen des kleinen Jungen. Als er sah, dass an der Kasse einige Leute standen, fuhr er kurzerhand hinter die Theke und gab der Kassiererin das Geld. Tina hörte, wie die Frau zu ihm sagte, dass er vorne warten müsse, aber Nils redete sich natürlich raus.

»Ich bin doch im Rolli«, sagte er, »da kannst du mich ja gar nicht sehen. Und so ist das besser. Nun siehst du mich.«

Die junge Frau lächelte und nahm ihm das Geld ab und gab ihm einen Cent zurück. Er wollte ihn Tina geben, aber sie meinte, er solle ihn behalten. Es sei ab heute sein Glücks-Cent. Ganz behutsam steckte er ihn in seine Hosentasche.

Im Fahrstuhl fragte sie Nils, ob er das Auto denn gar nicht auspacken wollte. Sie hatte fest damit gerechnet, dass er die Verpackung sofort aufreißen würde.

»Nein«, sagte er stattdessen. »Das mache ich erst später.«

»Ach so«. meinte Tina, als ob sie es verstehen würde. Sie gingen zur Kinderstation, und Tina wechselte ein paar Worte mit der Krankenschwester. Nils sauste unterdessen schon zu seinem Zimmer. Ein lustiger Bär hing vor der Tür, die er einfach offen ließ.

Tina betrat den Raum und sah, wie Nils sich an seinen Nachtschrank lehnte und etwas flüsterte. Tina kam näher und sah, wie er das Auto in den Händen hielt und damit leise sprach. Dabei hielt er es immer in die Richtung der geöffneten Lade und bemerkte Tina gar nicht. Sie sah, wie er den Glücks-Cent aus seiner Tasche holte und den ebenfalls zum Nachtschrank hielt und wieder flüsterte.

»Nils, was tust du da?« fragte Tina ratlos. Er sah sich um und meinte, dass er ja seine Sachen in das Schränkchen legen müsse.

Wenn ein neues Kind in sein Zimmer käme, könnte er ihm ja das Auto wegnehmen. Heute Morgen wäre Mina entlassen worden. Sie hätte dort an der Wand geschlafen. Sie war zu Hause aus dem Fenster gefallen und ginge schon zur Schule.

Schwester Anna hätte gesagt, dass bald ein neues Kind käme, und dann hätte er wieder einen Freund. Aber das Auto bekäme der nicht. Er legte es in die Lade, schloss diese und wirkte sehr verlegen.

Tina meinte, dass sie gerne mit ihm das Auto auspacken wollte, weil man es dann doch besser sehen könne.

Nils stierte sie an und meinte leise: »Ich wollte das eigentlich mit Mama auspacken.« Tina schluckte.

»Das wusste ich nicht. Natürlich, ich verstehe das«, sagte sie und fragte ihn: »Glaubst du, dass Mama etwas dagegen hätte, wenn ich auch dabei bin, wenn du das Auto auspackst?«

Er meinte: »Soll ich sie mal fragen?«

»Ja«, meinte Tina, »das mach mal.« Er öffnete die Lade, während Tina die Tür des Krankenzimmers schloss.

Er flüsterte wieder etwas in die Lade und wollte das Auto herausholen, aber es blieb mit einer Ecke unter der Schiene stecken. Nils zog tüchtig daran, aber da er im Rollstuhl saß, bekam er es nicht heraus. Tina ging zu ihm und half.

»Mama ist einverstanden«, sagte er. »Du darfst mitmachen.«

Da sah sie unter dem Karton des Autos ein abgegriffenes Foto mit einer lächelnden, jungen Frau liegen. Tina zeigte darauf.

»Darf ich es mal sehen,« fragte sie vorsichtig.

»Meinetwegen,« meinte Nils. »Aber mach Mama nicht kaputt.« Tina nahm das Foto in die Hand und spürte, wie Tränen in ihre Augen stiegen.

Wie gemein doch das Schicksal ist, dachte sie und sagte schnell, dass sie das Bild besser auf das Bett legen könnten, damit Mama auch alles sieht.

Bloß nicht losheulen, dachte sie. Sie setzte sich neben das Foto aufs Bett, und Nils saß im Rollstuhl vor ihnen und hielt das Auto auf seinen Knien. Er öffnete eine Seite der durchsichtigen Folie und hielt das Ganze dem Foto hin.

Er flüsterte: »Du bist zuerst dran, Mama« und gab dann Tina das Auto.

»Und jetzt du.« Das Auto war schon fast ausgepackt. Das Foto bekam es noch einmal, und den Rest erledigte dann Nils.

Tina entsorgte den Müll und bestaunte dann das schwarze Auto.

Sie meinte zu dem Foto: »Danke, dass ich mitmachen durfte. Es ist wirklich ein sehr schönes Auto, das Nils sich da ausgesucht hat.«

»Ja, das ist wirklich schön. Und schau mal Mama, ich habe von Tina noch einen Glücks-Cent bekommen. Der beschützt mich nun immer.«

Er zeigte auf das Foto und sagte: »Guck mal, Mama freut sich auch. Sie lacht.«

Es war fast zu viel für Tina. Sie hatte sehr viel Mitleid mit dem kleinen Knirps, der bei jedem »s« so niedlich lispelte, der das ganze Gesicht voller Sommersprossen hatte und ein Rotstich schimmerte in seinen blonden Locken. Was mochte das Leben so einem Kind wohl geben, das schon so jung seine Mutter verloren hatte?

Nils schaute Tina an und fragte sie: »Wohin geht man, wenn man tot ist? Oma sagt, dass man dann ein Stern wird. Ein ganz neuer Stern am Himmel. Stimmt das? Ist Mama nun ein Stern? Und ist mein kleiner Bruder nun auch ein kleiner Stern?«

Tina war entsetzt. »Dein Bruder? Ist dein Bruder auch gestorben, Nils?«

Er nickte und sagte: »Ja, wir saßen alle drei im Auto. Da war so ein Geisterfahrer und hat Mama und Jannes totgefahren. Ich lebe aber noch.« Tina hatte schon Tränen in den Augen.

»Oh Nils, ich glaube auch, dass sie nun neue Sterne sind. Sie schauen auf dich herunter.«

Tina nahm den kleinen Mann in ihre Arme und fing nun bitterlich zu weinen an.

»Weißt du, ich hatte eine ganz, ganz liebe Freundin. Sie hieß Marie. Sie ist bei demselben Unfall gestorben wie deine Mama. Ich bin so fürchterlich traurig, dass sie nicht mehr bei mir ist. Ich brauche sie so sehr. Wenn sie nicht gestorben wäre, dann könnte sie mir nun helfen. Ich weiß ganz genau, wie sehr du deine Mama und deinen Bruder vermisst. Es tut richtig weh in dir drin.«

Nun fing auch Nils zu weinen an. Er klammerte sich an Tina und sagte, dass seine Mama ihm immer Geschichten vorgelesen hätte.

»Sie hat gesagt, dass sie immer für mich da wäre, aber sie hat mich angelogen. Ich vermisse Mama ganz schlimm, Tina.«

»Doch«, sagte Tina. »Sie ist auch nun immer noch bei dir. Du kannst sie nur nicht sehen, aber sie ist immer noch da für dich. Das spüre ich ganz genau.«

Sie hielten sich fest und weinten. Sie hatten dasselbe Leid zu tragen, und sie merkten, dass es verbindet. Wie lange sie so umklammert dagesessen hatten, wusste Tina nicht. Aber als das Schluchzen von Nils weniger wurde, holte sie einen Waschlappen und wischte ihm übers Gesicht und sich selber auch. »Heute Abend komme ich noch mal zu dir und singe dir ein Lied vor und dann öffnen wir das Fenster und winken in den Himmel. Ich hoffe, dass wir dort heute die Sterne sehen können. Wollen wir das tun?« Nils nickte und lächelte schon wieder.

Ein Pfleger kam und wollte Nils auf das Bett heben, aber er protestierte.

»Ich muss gleich noch in das Spielzimmer und den anderen unbedingt mein neues Auto zeigen. Schau mal, cool, oder?«

Er fuhr mit dem Spielzeug auf seiner Jogginghose herum.

»Das ist echt cool. Wenn was ist, dann sagst du Bescheid, ja? Und du verlässt heute nicht mehr die Station. Auch klar? Und mach mal ein anderes Gesicht. Lachen ist das Zauberwort. Bei so einem Auto! Komm, gib mir fünf.«

Er hielt Nils seine Hand hin und dieser schlug ein. Als der Pfleger gegangen war, nahm Nils das Foto seiner Mutter und legte es vorsichtig wieder in die Lade.

»Tschüss Mama«, sagte er.

»Ich komme gleich wieder und dann schauen wir zusammen unsere Serie, und heute Abend winken wir dir zu.«

Er schob die Lade zu und meinte zu Tina: »Willst du mit ins Spielzimmer? Da ist es ganz toll.«

»Nee, da geh mal alleine hin, und lass dir nicht das Auto wegnehmen. Um sechs Uhr komme ich wieder. Wenn der große Zeiger oben ist und der kleine unten. Schau da hin.«

Tina zeigte auf die Elefanten-Uhr. Als Nils den Kopf wandte, um zur Uhr zu sehen, gab Tina ihm einen Schmatz auf die Wange, den er aber sofort wieder abwischte.

»Küssen ist voll doof«, meinte er.

»Bis nachher, Nils.«

»Bis nachher Tina.« Nun wieder lächelnd verließ sie die Kinderstation und ging in ihr Zimmer.

Ihr Nachmittagskaffee stand da und war schon kalt. Aber es gab eine Kaffeemaschine und sie würde eine Schwester bitten, ob sie ihr wohl einen besorgen könnte, denn Kaffee wäre nun gut und die Schwester meinte, dass sie ihn ihr sofort bringen würde. Das war der Service der Privatstation, dachte Tina. Kurz darauf klopfte es kurz, und die Tür wurde gleich drauf geöffnet.

»Zimmerservice«, sagte eine Männerstimme. Andy stand in der Tür mit einem Becher Kaffee.

»Den hab ich gerade der Schwester abgenommen. Ich wollte noch mal eben schauen, ob alles in Ordnung ist.«

Schon wieder war Dr. Bergheim so seltsam. Sie spürte, dass er witzig sein wollte, aber es gelang ihm nicht. Tina ging immer den direkten Weg und fragte ihn einfach.

»Sie sind so komisch, Dr. Bergheim. Habe ich Ihnen vielleicht etwas getan? Heute Morgen habe ich es auch schon gemerkt. Sie wollen zwar immer noch witzig und freundlich sein, aber es ist nicht echt.«

Andy blickte sie intensiv an und sagte zunächst nichts. Dann setzte er sich zu ihr aufs Bett und meinte, dass er ein paar private Probleme hätte.

»Sie müssen ein ganz empfindsamer Mensch sein«, meinte er.

»Ich versuche, so normal wie möglich zu sein. Aber manchen Menschen kann man eben nichts vormachen.«

Tina nickte und meinte: »Wollen Sie darüber reden? Ich rede immer sehr viel, aber ich kann auch gut zuhören. Probieren wir es mal aus?«

Dr. Bergheim schüttelte den Kopf, aber irgendetwas trieb ihn an, nun doch zu reden.

»Ich lebe schon seit längerem mit einem Mann zusammen. Als ich gestern nach Hause kam, war da noch einer, und ich traf die beiden in eindeutiger Position an. Ich dachte, ich falle in ein tiefes Loch. Ich bin kurzerhand ausgezogen und wohne nun in der Gästewohnung meines Freundes Peter Weber. Meine Arbeit fordert meine ganze Aufmerksamkeit, aber es ist schwer, bei der Sache zu sein. Immer schweifen meine Gedanken wieder ab.«

Tina hörte nur: »Mit einem Mann zusammen.«

Oh nein, es ist doch immer dasselbe! Die tollen Männer sind schwul. Warum hatte sie nur so viel Pech?

Dann erzählte er ihr alles, und sie hörte nur zu. Als er zu weinen anfing, nahm sie ihn wie den kleinen Nils Kramer in den Arm und streichelte seinen Rücken, und er ließ es willenlos geschehen.

Dann fing sie an, alles von Markus und sich selber zu erzählen, und am Ende sagte sie ihm, dass es zuerst weh täte, dass es dann wütend machen würde und dass es dann verblassen würde. Immer mehr.

Ganz automatisch waren die beiden zum »Du« übergegangen. Sie hatten solange geredet, dass darüber der Kaffee kalt geworden war.

»Ich hol dir einen neuen«, meinte Andy.

»Ich meine den Kaffee, nicht einen Markus.«

»So einen will ich auch nie wieder haben«, lachte Tina.

Andy ging Kaffee holen, und Tina schaute auf die Uhr. Gleich gab es Abendbrot und danach musste sie wieder zu Nils. Und sie musste pünktlich sein.

Als Andy zurück kam, erzählte Tina ihm von Nils.

»Sag das bitte noch einmal. Hat Nils wirklich geweint? Seit dem Unfall arbeiten Psychologen mit ihm. Manchmal dachten sie, dass sie nahe dran wären, dass Nils nun seinen Kummer heraus spülen könne, aber er wirkte immer verschlossen, wenn es um seine Mutter ging. Und nun sagst du, dass du nach einer Stunde dieses Wunder erreicht hast? Morgen haben wir Dienstbesprechung, und da werden sich aber manche wundern, wenn ich das erzähle.

 

Nils Kramer ist ein Kind, das schon sehr viel in seinem kleinen Leben mitgemacht hat.

Erst der Vater weg, dann die Mutter weg, der kleine Bruder weg, und die Oma ist auch nicht mehr so fit. Es ist lieb von dir, wenn du dich ein wenig kümmerst. Ich hoffe, wir kriegen ihn wieder vollkommen hin. Ich habe seine Hüfte gut hergestellt, und er wird bald wieder laufen können.

Aber am Freitag steht eine Hirn-OP an, denn es hat sich bei dem Unfall ein Stückchen Knochen in die Hirnmasse gebohrt. Es dauert nicht mehr lange, und er kann die Schmerzen nicht mehr aushalten. Wir geben schon so viel Morphin, wie es sein kleiner Körper verkraftet.

Für Peter Weber wäre es ein Kinderspiel, aber er operiert nicht mehr, seit seine Frau gestorben ist. Mal sehen, wie es wird. Er bereitet die Operation bis ins kleinste Detail vor.

Ich hoffe, dass die Kollegen es auch so ausführen können. Danke Bettina, für dein Zuhören.«

»Bitte sag Tina zu mir. Keiner nennt mich Bettina. Wenn du noch mal ein Ohr brauchst, dann komm ruhig wieder. Ich laufe ja nicht weg.«

»Danke, Tina. Du erinnerst mich sehr an meine verstorbene Freundin Martha. Sie war so ein wundervoller Mensch. Ich vermisse sie ganz schlimm. Ob sie wohl gewusst hat, wie sehr wie sie geliebt haben?« Tina schmunzelte.

»Da bin ich mir sowas von sicher. Vielleicht kann sie uns nun sogar sehen. Manchmal spüre ich etwas um mich herum, das ich nicht erklären kann.

Vielleicht ist es nur ein Wunschdenken, vielleicht aber auch nicht. Es ist ein gutes Gefühl, wenn ich meine, dass Marie bei mir ist. Siehst du Dr. Weber gleich noch?«, fragte Tina.

»Nein, ich denke nicht. Wieso fragst du?«

»Er wollte nachher noch kommen und mir was bringen. Es wäre schade, wenn ich dann nicht im Zimmer bin. Ich muss ja noch zu Nils Kramer.« Andy nickte.

»Ach ja, die Schlafanzüge. Schreibe doch einen Zettel mit einer Notiz, wo du dich befindest. Dann kann er entweder die Tasche mit den Schlafanzügen hinlegen oder zu dir auf die Kinderstation kommen. So hast du keinen Stress.«

Tina sagte: »Ein toller Tipp. So mache ich es. Oh, mein Essen kommt. Nun aber flott. Ich muss um 18 Uhr bei Nils sein.«

Andy ging in Richtung Tür und sagte: »Nochmals danke, Tina. Das Gespräch mit dir hat mir sehr gut getan. Wenn ich mich mal revanchieren kann, dann komm gerne zu mir. Und bitte vergiss, was ich dir über Nils gesagt habe. Ich hätte es eigentlich gar nicht tun dürfen. Aber ich habe so viel Vertrauen zu dir.«

Tina hatte sich schon Tee eingegossen und schmierte sich nun ein Brot.

Sie schaute Andy an und meinte: »Das ist ja wohl klar. Ich verstehe zwar nicht, warum Dr. Weber ihn nicht operiert, aber das ist ja nicht meine Aufgabe, mich da einzumischen.

Aber eines noch, Andy: Vergiss den Kerl. Er hat dich nicht verdient, glaub mir. Du hast mir gesagt, es sei deine Wohnung, in der ihr lebt.

Ich kann dir nur eines raten: Geh noch heute Abend hin und setze den Schmarotzer vor die Tür. Egal, was er dir sagt, alles ist Lüge. Schmeiß ihn raus. Achtkantig! Sowas hat ein toller Mann wie du nicht nötig. Auch andere Mütter haben hübsche Söhne.«

Andy konnte nun wieder lachen.

Er zeigte mit dem Finger auf Tina und sagte: »Genau das werde ich auch tun. Bis morgen, du Engel.«

Sie hauchte ein angedeutetes Küsschen in die Luft. Als Andy die Tür hinter sich schloss, dachte Tina, dass es doch so schade sei, dass dieser Mann auf Männer stand. Die Natur ist manchmal ungerecht, aber sie wusste, dass sie es akzeptieren musste.

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