... denn alles ist Vorherbestimmt

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

10.

Erst am Nachmittag war die Sprechstunde von Dr. Weber beendet. Viele schwere Fälle waren heute dabei, und morgen war OP-Tag.

Er wollte nun eine Kleinigkeit essen, und dann war um 16 Uhr die Teambesprechung für morgen. Der Papierkram müsse warten. Er nahm sein Telefon und wählte die Nummer von Dr. Bergheim. Dieser ging auch sofort dran und stöhnte ins Telefon.

»Hallo Peter«, sagte er. Der Name Peter Weber hatte auf dem Display aufgeblinkt.

»Mann, war das ein Vormittag! Ich spüre jede Gräte in meinem Körper. So viele Operationen habe ich selten an einem Tag. Ich bin gerade fertig damit.« Peter nickte.

»Bei mir war es heute ähnlich. Es waren mehrere Leute da, die keinen Termin hatten, und da wurde es ganz schön eng.

Ist die Operation bei Frau Braune eigentlich gut verlaufen? Ich habe darüber nachgedacht, was du mir gesagt hattest. Ich war gestern noch bei ihr und habe ihr diesen Jogginganzug gebracht. Sie hat mir noch etwas über Heilkräuter erzählt, und es war recht interessant. Du hattest ja recht.

Sie wird circa eine Woche hier sein, und da werde ich sie ja wohl mal besuchen können. Die Sachen von Martha bekomme ich ja wieder, und wenn nicht, dann ist es auch nicht so schlimm. Martha hätte mit Sicherheit nichts dagegen gehabt. Ich beabsichtige, Frau Braune heute noch zwei Schlafanzüge zu bringen. Denkst du, es ist angebracht?«

Andy schmunzelte vor sich hin. Ganz egal, was sein Freund macht, die Hauptsache ist, dass er abends nicht Filme von sich und Martha schaut und sich mit Rotwein volllaufen lässt.

»Es ist eine gute Idee«, meinte er.

»Sie kann sie gut gebrauchen, und bei dir im Schrank hängen sie ja doch nur rum. Denk aber bitte daran, dass die Hose nicht zu eng ist an den Beinen. Sonst bekommt sie sie nicht über die Schiene. Ich gehe gleich nach Hause. Morgen ist wieder früh der Tag. Lass uns doch morgen die Mittagsstunde gemeinsam machen, wenn du magst.

Ach ja, die OP von Frau Braune ist gut verlaufen. Ich habe die Knochenfragmente mit Schrauben, Platten und Drähte fixiert. Die Bänder waren gerissen, und ich habe sie genäht. Ihr Fuß ist eingegipst, und ich hoffe, dass sie nicht auftritt. Ich schicke ihr noch heute einen Physiotherapeuten, damit ihr Kreislauf wieder fit wird und sie so schnell wie möglich lernt, an den Stöcken zu gehen. Die werden wohl sechs Wochen ihr Begleiter sein.«

»Ja, danke Andreas. Ich bin froh, wenn die Geschichte zu Ende ist. So ein Unglück!

Morgen Mittag, das ist eine gute Idee. Bis dann, und nochmals vielen Dank für alles. Ich verspreche, dass ich mich bis zur Genesung von Frau Braune auch um sie kümmern werde. Ich kann schließlich andere nicht für meinen Fauxpas verantwortlich machen. Bis morgen Andreas.«

Um 19 Uhr war Peter dann endlich fertig. Er räumte seine Sachen beiseite und schaltete den Computer aus. Die Reinigungsleute warteten wohl schon, dass er endlich das Büro verlassen würde. Er war viel zu müde, um nun nach Hause zu fahren und dann noch mal hierher zu kommen. Er würde nun nur eine kleine Stippvisite bei Frau Braune machen und dann heimfahren.

Peter zog seinen Kittel aus und die braune Lederjacke an. Er schaltete das Licht aus und ging umgehend zur Privatstation. Als er nach kurzem Klopfen die Tür öffnete, stockte ihm im Moment der Atem. Martha!

Schnell gewöhnte er sich jedoch an den Anblick, und er grüßte freundlich die Frau in dem grünen Jogginganzug.

»Hallo Frau Braune. Na, nun haben Sie ja das Schlimmste überstanden. Wie ist denn der Tag verlaufen? War alles gut?« Tina schob die Unterlippe vor.

»Nun ja, gut ist etwas anderes. Ich wurde ganz schön rangenommen, und man gewährte mir nach der OP nur einige Zeit zum Schlafen. Aber dann kam ein junger Mann und hat mich aus dem Bett gelockt. Zunächst musste ich eine Weile sitzenbleiben, mit den Beinen aus dem Bett. Und stellen Sie sich vor, ich musste laufen! Mit Krücken! Ach nee, die heißen ja nicht mehr so, hat Bernd mir erzählt. Bernd ist der Physiotherapeut. Die heißen nun Unterarmgehstöcke. Aber ich darf Stöcke sagen. Nett, was?

Den kaputten Fuß darf ich auf gar keinen Fall belasten, und als ich so einen Schritt durch das Zimmer tat, da wurde mir ganz schön schwindelig. Wenn Bernd mich nicht festgehalten hätte, wäre ich bestimmt samt der Stöcke in die Waagerechte gegangen. Aber ist ja nichts passiert. Ich war jedenfalls froh, als ich wieder in dem Bett lag. Morgen kommt er wieder und quält mich weiter. Ich darf auf keinen Fall auftreten, und dabei möchte ich so gerne duschen.«

Er nahm ihre Hand, und sie wollte sie schon wieder wegziehen. Aber sie merkte, dass er ihren Puls fühlen wollte, und sie ließ es geschehen. Angenehm war es nicht für sie, und vor lauter Unsicherheit redete sie weiter, dass alles nicht so einfach sei.

Peter lächelte. Sie war wohl froh, dass sie endlich jemanden zum Reden hatte. Eigentlich wollte er nach diesem stressigen Tag sofort nach Hause gehen, aber nun zog er doch einen Stuhl neben das Bett und fragte, ob sie denn heute schon zum Malen gekommen sei.

»Nein«, meinte Tina, »heute nicht. Ich male nicht, Dr. Weber, ich zeichne.

Ich habe heute so viel geschlafen. Ich danke Ihnen übrigens noch ganz herzlich für den wunderschönen Jogginganzug. So etwas Schönes hatte ich noch nie.«

Sanft streichelte sie über ihren Arm.

»Er ist ganz weich.«

Fast hätte sie gesagt: »Fühlen Sie mal.« Aber Gott sei Dank hatte sie es nicht ausgesprochen.

Peter war froh, dass er Frau Braune den Anzug geliehen hatte. Das komische rosa Nachthemd blitze im Ausschnitt des grünen Anzugs. Wenn das Martha sehen würde, dachte er.

Aber sie war ja nicht da. Peter schaute kummervoll zu Boden. Wenn er wüsste! Martha war direkt hinter ihm.

Tina sah seinen traurigen Blick.

»Bedauern Sie, dass Sie ihn mir gegeben haben?«, fragte sie ihn.

»Erinnert er Sie an Ihre Frau? Dann werde ich ihn nicht mehr tragen, so leid es mir auch täte. Ich hoffe, dass ich nicht an Ihre Gefühle kratze.«

Peter kniff die Lippen zusammen. Was nahm diese Person sich raus, so zu reden? Niemand hatte das Recht, über seine verstorbene Frau zu sprechen. Und eine Fremde schon gar nicht!

Tina sah seine blitzenden Augen und sagte schnell: »Nun sehen Sie aus wie letzte Woche auf dem Friedhof. Ich bin wehrlos hier. Bitte nicht ausflippen.«

Tina schob sich mit ihrem gesunden Fuß etwas aus seinem Umfeld.

Schlagartig wurde Peter bewusst, dass er nun wirklich auf dem besten Weg war, sich wieder mal nicht unter Kontrolle zu haben. Er starrte sie an und räusperte sich. Hatte ihn etwas am Kopf berührt? Er strich sich über das leicht ergraute Haar.

»Bitte entschuldigen Sie. Der Tod meiner Frau hat mich sehr mitgenommen, und ich rede nicht gerne darüber. Das mit dem Jogginganzug ist schon in Ordnung.

Es freut mich, dass er Ihnen so gut passt.

Eigentlich wollte ich heute Abend nach Hause fahren und Ihnen noch zwei Nachthemde bringen, wenn das für Sie in Ordnung ist. Aber ich war so müde, dass ich dieses auf morgen verschieben muss. Ich hoffe, Sie halten es so lange noch in diesem wunderschönen babyrosa aus?

Wenn meine Frau Sie so sehen würde! Martha war sehr modebewusst, und sie mochte rosa überhaupt nicht. Sie hat viele Sachen selbst genäht, und sie war sehr talentiert. Früher ist mir das Rattern der Nähmaschine auf den Nerv gegangen. Ich habe sie oft gebeten, es zu unterlassen, weil ich vieles für die Klinik zu Hause bearbeitet habe. Und nun fehlt es mir. Man macht manchmal viele Fehler, und im Nachhinein tut es einem dann sehr leid.

Die Sache, die mir mit Ihnen passiert ist, gehört auch dazu. Ich möchte mich noch mal in aller Form bei Ihnen entschuldigen. Sie glauben gar nicht, wie verzweifelt ich bin, wenn ich an die Situation auf dem Friedhof denke. Es hätte niemals passieren dürfen.«

Tina schaute den zusammengekauerten Mann an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Einerseits war sie fürchterlich böse auf ihn, andererseits schien es ihm aufrichtig leid zu tun.

»Tja«, meinte sie, »es ist nun einmal passiert, und nun müssen wir halt das Beste daraus machen. Nun machen Sie schon ein anderes Gesicht. Sie sehen ja fürchterlich aus! Wir müssen die Sache annehmen, denn ändern können wir die Situation doch nicht. Also: Augen zu und durch. Alles hat seinen Sinn.«

Tina lächelte, obwohl sie eigentlich so losheulen könnte. Weshalb sie so redete, war ihr selbst ein Rätsel. Es war ihr, als würden ihr Worte in den Mund gelegt, die sie gar nicht sagen wollte.

Dr. Weber schaute sie erstaunt an, denn so hatte Martha auch geredet. Welche Parallelen es hier gab!

Er sah nun betreten zu Boden und sagte: »Wenn davon jemand erfährt, dann könnte es der Klinik immens schaden. Das ist eigentlich meine größte Sorge.«

»Das ist Ihre größte Sorge?« Empört stöhnte sie auf.

»Ihre größte Sorge sollte eigentlich sein, dass mein Fuß wieder gut wird und wie das arme Opfer allein in ihrer Wohnung zurecht kommen soll. Wie bekommt sie etwas in den Kühlschrank? Sechs Wochen gefangen! Daran sollten Sie mal denken.

Wie soll denn jemand was erfahren von all dem? Dr. Bergheim und Sie werden mit Sicherheit nichts preisgeben. Und ich werde es auch nicht tun.« Tina nahm unbewusst seine Hand.

»He, ich schwöre bei allem, dass es unser Geheimnis ist. Mensch, nun machen Sie endlich wieder ein anderes Gesicht.«

Peter bemerkte, dass Tina seine Hand hielt und zog sie abrupt zurück.

»Das ist sehr nett von Ihnen. Verdient habe ich es wahrlich nicht. Ich werde alles tun, damit Sie gut versorgt werden. Auch wenn Sie zu Hause sind, wird sich jemand kümmern, das verspreche ich. Wenn ich etwas tun kann, dann lassen Sie es mich bitte wissen.«

 

Eigentlich hätte Peter nun aufstehen und nach Hause fahren sollen. Aber er blieb sitzen und beide sagten nichts.

Warum gehe ich nicht?, dachte Peter. Was hält mich hier nur? Plötzlich fingen beide zur selben Zeit an zu reden und lachten zusammen los.

»Sie zuerst«, sagte Tina lachend.

»Ich wollte fragen, ob Sie denn noch etwas gebrauchen. Scheuen Sie sich bitte nicht, es mir zu sagen. Und was wollten Sie sagen?«

»Ach, es ist nicht wichtig. Ich bin hier gut versorgt, danke. Wenn Sie mir noch die Schlafanzüge bringen, dann lasse ich Sie in Ruhe, dann ist alles gut. Das heißt, Sie müssen ja noch etwas über den Holunder erfahren. Also, so einfach kommen Sie doch nicht hier weg.«

Nun lachten beide wieder. Sie hat Grübchen in den Wangen, bemerkte er.

»Ja, das muss ich wohl unbedingt. Meine Patienten werden irgendwann keine herkömmlichen Rezepte mehr von mir erhalten, sondern nur noch Teerezepte. Die beiden lachten wieder. Wie lange war es her, dass Peter so lachen konnte? Es war ein gutes Gefühl.

»Gute Nacht, Frau Braune, bis morgen. Wenn Sie Schmerzen haben sollten, dann melden Sie sich bitte bei der Nachtschwester. Und sollte Ihnen kalt sein, dann bringt man Ihnen eine warme Decke. Ich geh gleich mal im Schwesterzimmer vorbei und ordere eine, die schon vorgewärmt ist. Hier im Raum ist eine leichte Kühle.«

Er kontrollierte die Heizung, die sich aber warm anfühlte.

Er verließ das Zimmer Nr. 8, ging ins Schwesternzimmer, damit Tina die warme Decke erhielt und verließ dann das Klinikum. Es hatte etwas zu nieseln angefangen. Schnell lief Peter zu seinem Auto und schaute nach oben zu den beleuchteten Fenstern. Es war sehr nett, dass Frau Braune den Mund hielt. Wirklich sehr nett.

Die Fenster in Tinas Zimmer waren zwar geschlossen, aber trotzdem bewegte sich die Gardine. Seltsam. Aber ja, es wird die Nachtschwester mit der Decke sein, die einen Luftzug bewirkt hatte. Peter stieg ein und fuhr los.

11.

Als Peter in Negnil ankam, regnete es bereits heftig. Aber er konnte direkt von der Garage ins Haus und wurde somit nicht nass.

Er zog sich seine Schuhe und die Jacke aus, die er einfach auf einen Stuhl in der Küche warf.

Wenn Martha doch nur noch einmal schimpfen würde, dass er so achtlos alles rumliegen ließ. Früher hatte er sich über das Gekeife geärgert, und heute fehlte es ihm sehr. Er ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher an, um eine Ton- und Geräuschkulisse zu haben. Er goss sich einen Rotwein ein, stellte das Glas auf den Tisch und ging in Marthas Ankleideraum, um nach den Schlafanzügen zu sehen. Wieso hatte Martha so viele von diesen Dingern. Man konnte doch nur einen tragen!

Es klingelte an der Tür, und Peter ging hin, um sie zu öffnen. Auf dem Monitor sah er, dass sein Freund Andreas vor der Tür stand. Schnell öffnete er die Tür, weil Andy bereits pitschnass war.

»Hallo Peter«, sagte er.

»Ich war vorhin schon mal da. Warst du so lange im Klinikum?« Peter antwortete nicht auf seine Frage, sondern zog ihn mit sich.

»Gut, dass du kommst. Ich weiß nicht, welche Schlafanzüge ich Frau Braune mitnehmen soll. Sieh mal, da liegt ja alles voll. Der blaue ist ganz schön, oder? Ach, ich weiß es nicht.«

Andy sah sich die Sachen an und entschied sich für einen dunkelroten und einen grauen.

»Du musst darauf schauen, dass sie ihn über das Bein bekommt. Kann ich mal mit dir reden, Peter?«

Erst nun sah Dr. Weber, dass Andy ein ganz betretenes Gesicht machte.

»Was ist passiert? Komm mit ins Wohnzimmer, da können wir besser reden.« Andy sah das Glas mit dem Rotwein und kippte es ex hinunter. Er setzte sich auf das Sofa und schaute in das leere Rotweinglas.

»Ich bin heute früher nach Hause gegangen, wie du weißt. Und bereits als ich in den Flur kam, merkte ich, dass jemand da war, aber ich konnte niemanden sehen. Ich ging durch alle Räume, und dann sah ich es: Jörg lag mit einem anderen im Bett.

Peter, ich dachte, es zieht mir jemand den Boden unter den Füßen weg. Ich habe diesem Mann alles gegeben. Er hatte seine Arbeit verloren und konnte bei mir wohnen. Er durfte mein Auto fahren und Freunde einladen, wann immer er wollte. Ich kann es noch gar nicht fassen. Kann ich heute Nacht bei dir bleiben?«

Peter nickte.

»Natürlich. Bleib, solange du willst. Ich habe ja die Gästesuite. Zwei Zimmer, eine kleine Küche und ein eigenes Bad stehen dir zur Verfügung.«

Martha saß auf der Sofakante und legte ihre unsichtbare Hand auf den Arm ihres Freundes.

Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: »Dieser Hallodri hat dich doch gar nicht verdient. Ich habe ihn nie gemocht und habe ihn nur geduldet, weil du ihn so sehr geliebt hast. Ich bin froh, dass du ihn los bist und traurig, dass du nun so leidest.«

Marie setzte sich zu Martha und meinte: »Es ist fast dieselbe Situation wie bei Tina. Sie hat die beiden damals auch in flagranti erwischt. Er soll sich mal mit ihr darüber unterhalten, das wird ihm ein wenig helfen. Sag ihm das, Martha.«

Martha tat, wie Marie es ihr gesagt hatte und flüsterte dieses in sein Ohr.

Er stand nun auf und fühlte sich ein klein wenig besser, seit er mit Peter geredet hatte. Andy ging zur Tür, öffnete sie und holte seine Tasche aus dem Auto. Der Regen hatte aufgehört, aber überall standen Pfützen.

Als Peter am nächsten Morgen auf den Parkplatz des Klinikums fuhr, sah er den gelben Sportwagen seines Freundes bereits auf einem der für die Ärzte reservierten Plätze stehen. Er parkte seinen Wagen ebenfalls dort und betrat die Klinik. Die beiden Schlafanzüge hatte er in eine Jutetasche gesteckt und kam sich damit recht lächerlich vor.

Beate Müller, seine Sekretärin, war bereits an ihrem Arbeitsplatz und hatte das Chefbüro schon aufgeschlossen.

»Kaffee Chef?« fragte sie.

»Ja, danke Beate, das wäre nun gut.«

Bea wusste, dass Peter am Morgen zu Hause nie frühstücken würde und hatte schon alles geordert. Als die Praktikantin mit dem Kaffee und dem belegten Brötchen kam, nahm Bea es ihr ab und brachte ihn wie immer zu Peter ins Büro.

»Waren Sie heute Morgen schon einkaufen?«, meinte sie schmunzelnd und zeigte auf den Beutel mit den Schlafanzügen.

»Das geht Sie gar nichts an«, brummelte der Chefarzt und betrachtete das Gespräch als beendet.

Ein knappes »Danke« kam noch über seine Lippen, und dann wandte er sich dem Stapel Akten auf seinem Schreibtisch zu. Das würde heute wieder ein harter Tag werden, aber eigentlich war es ja immer so.

Er unterschrieb einige Briefe, die Bea ihm am Morgen schon hingelegt hatte und nahm dann die erste Kartei der Patienten zur Hand, die heute in seiner Sprechstunde sein würden. Ein 54-jähriger Mann, der an Morbus Parkinson litt, sollte überprüft werden, ob das neue Medikament angeschlagen hatte. Es war ein neues Präparat, das in Amerika gute Erfolge hatte.

Dann waren noch drei Patienten da, die an schwerer Torticollis litten und eine Botulinum-Injektion benötigten. Dr. Peter Weber war auf dem Gebiet des Schiefhals-Syndroms, wie der Torticollis auch genannt wurde, eine Kapazität und deshalb kamen die Patienten teilweise von weit her, um ihre Schmerzen und ihre schiefe Körperhaltung hier behandeln zu lassen.

Die einzige Medikation, die hier hilft, ist die Behandlung mit Botulinum, kurz auch Botox genannt. All seinen Patienten hat er bei dieser Diagnose helfen können. Sie hielten nun ihren Kopf gerade und waren so gut wie schmerzfrei. Gut, dass es dieses Gift gibt, dachte Peter bei sich.

Eine 59-jährige Frau brauchte vor der Injektion immer eine psychologische Zuwendung, denn sie hatte eine Panik vor Spritzen. Hier war Ruhe und Feingefühl gefragt.

Der nächste Patient kam zu einer Nachkontrolle. Peter hatte ihm vor einem Jahr einen Tumor aus dem Kopf operiert. Als er die CT betrachtete, war er stolz. Er hatte gute Arbeit gemacht, denn es war nicht einmal eine Narbe zu sehen. Der 42-jährige Mann hatte keinerlei Beschwerden mehr und konnte seine Arbeit als Grafiker wieder aufnehmen.

Dann war noch ein Schlaganfallpatient da, eine MS-Kranke, zwei Demenzerkrankte und Patienten mit Nerven- oder Muskelerkrankungen. Und als letzter Patient war Herr Meyzer dran.

Noch zwei Patienten, und dann konnte Peter Weber durchatmen. Eine Stunde würde es wohl noch dauern, zumal bei Herrn Meyzer eine längere Untersuchung anstand. Er rief Andy an und sagte ihm, dass die Mittagsstunde bei ihm wohl noch etwas ausstehen würde, und dieser sagte ihm, dass auch bei ihm viel los sei und es ihm auch gut passen würde. Um 14 Uhr würde die Kantine schließen, aber bis dahin müsste es klappen.

Herrn Moser, dem vorletzten Patienten mit einem Bulbärsyndrom, ging es glücklicherweise nicht schlechter, als bei der letzten Untersuchung. Die Sprache war fast weg und das Schlucken wurde auch immer schlechter, aber die körperliche Verfassung war gut. Peter sprach ihn auf eine Magensonde an und erklärte ihm die Vorteile, aber davon wollte Herr Moser nichts wissen. Nun denn, er ist der Patient, dachte Peter und sagte ihm, dass er zu jeder Zeit kommen könne, egal wie wichtig es ihm scheine. Peter schluckte. Eine schlimme Sache mit wenig Lebensqualität.

Peter hatte im Laufe seiner Berufstätigkeit viel Leid gesehen, aber als die Tür aufging und Herr Meyzer eintrat, erschrak er. Drastisch abgemagert, keine Haare, zermartertes Gesicht! Peter stand auf und traute sich nicht zu fragen, wie es ihm gehe. Er bat das Ehepaar, doch bitte Platz zu nehmen und Frau Meyzer gab ihm eine CD, die man ihr bei der letzten MRT mitgegeben hatte. Peter legte sie ein und sah sofort, dass die Strahlen- und Chemotherapien gut angeschlagen hatten.

Der primäre Hirntumor war zwar noch sichtbar, aber die Metastasen waren nicht mehr zu sehen. Zwar deutete alles auf einen bösen Tumor hin, aber Peter wollte nun sicher gehen. Es war nach dieser Behandlung möglich, eine Biopsie vorzunehmen, so dass man eine ganz genaue Diagnose hatte. Er teilte dieses der Familie mit, und ein freudiges Ausatmen bei beiden erstaunte den Neurologen.

Er sagte: »Herr Meyzer, dies ist keine Entfernung des Tumors. Wir holen nur etwas aus Ihrem Kopf um zu sehen, wie böse der überhaupt ist. Den Tumor können wir nicht entfernen. Sie würden vielleicht überleben, aber Sie wären schwerst behindert. Mit absoluter Sicherheit.«

Er drehte den Bildschirm und zeigte ihnen den Tumor, der an den wichtigsten Stellen im Gehirn angewachsen war. Die einzige Methode war, ihn mit Strahlen klein zu halten. Aber zum jetzigen Zeitpunkt war eine Strahlentherapie undenkbar. Herr Meyzer musste sich erst einmal erholen.

Peter teilte ihm mit, dass er morgen stationär aufgenommen werde und dann noch mal alle Untersuchungen gemacht würden. PET, die Biopsie, und alles andere. Die Belastung der Untersuchungen wären zum jetzigen Zeitpunkt ambulant fatal. Und allein schon wegen der Psyche dieses Mannes sollte man noch was tun.

Frau Meyzer stand auf und bat inständig, ob es nicht doch möglich wäre, ihren Mann zu operieren. Vielleicht gäbe es ja irgendeine Möglichkeit.

Peter versprach, sich noch einmal ganz intensiv mit dem Tumor zu befassen. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, dann würde er sie auch finden, sagte er. Aber er war sich nun schon sicher, dass es nicht gehen würde.

Frau Meyzer wollte schon wieder aufbrausen, aber Peter sagte ihr, dass er im Moment noch gar nichts sagen könne. Er hasste solche Situationen, wenn er die Leute auch verstehen konnte. Er verabschiedete sich und sagte seinem Patienten, dass er ihn in der Klinik aufsuchen werde, und dann wollte er alles mit ihm besprechen. Die PET würde ihm alles ganz genau zeigen, und darauf wolle er nun erst einmal warten.

Peter schaute noch eine Weile das Krankheitsbild seines Patienten an. Man durfte diesen Mann nicht operieren. Aber auf der anderen Seite: Dieses Leben ist vielleicht schlimmer als der Tod. Der Tumor würde wieder nachwachsen, das stand fest. Und irgendwann wären auch wieder Metastasen da, und dann würden seine Körperfunktionen ohnehin nachlassen. Heute um 16 Uhr war wieder eine Teambesprechung. Mal sehen, ob seine Kollegen auch seiner Meinung wären.

 

Mitten in seinen Gedanken klingelte sein Telefon und Andy meinte, wenn er nicht gleich käme, würde er eine kalte Suppe bekommen.

»Es passt nun«, sagte Peter. »Der letzte Patient ist gerade gegangen. Eine wirklich schwierige Sache. Ich bin auf dem Weg. Bis gleich. Bestell mir bitte schon mal etwas. Egal was, ich habe einen Bärenhunger. Außer einem Brötchen und einer Tasse Kaffee habe ich noch nichts gehabt.«

Er steckte das Handy in die Brusttasche seines Kittels und ging zum Fahrstuhl. Bea kam gerade von der Mittagspause zurück. Peter wechselte noch ein paar Worte mit ihr und sagte, dass er gegen 15 Uhr wieder da sei. Dann wäre er im Besprechungsraum.

Er bestieg den Fahrstuhl und ging in die Mensa, die nur für das Personal zugänglich war. Andy war nicht zu sehen. Peter ging zur Essenstheke und sah seinen Freund mit einem Tablett auf ihn zukommen, auf dem beide Menüs Platz hatten.

»Hast du es auf meine Karte setzen lassen?«, fragte er.

Andy lächelte ihn schelmisch an und meinte: »Ich muss mich mit meinem Vermieter gut stellen. Geht auf mich.«

Peter nahm ihm das Tablett aus den Händen und meinte, dass er es dann doch wenigstens tragen würde.

Die Mensa war um kurz vor zwei bereits ziemlich leer. Nachdem sie sich einen schönen Fensterplatz gesucht hatten, erzählte Peter seinem Freund von dem Stress, der heute da war und erfuhr, dass es in der Orthopädie nicht viel anders war.

»Was macht denn mein Schützling? Ich werde heute Abend zeitig Schluss machen und dann noch zu ihr gehen. Sie wartet sicherlich schon auf die Schlafanzüge.«

Andy nickte.

»Ich habe gleich meine Sprechstunde, und Frau Braune ist mit dabei. Ich denke, es sieht gut aus. Sie übt schon tüchtig, aber klappen will es noch nicht so recht mit den Stöcken. Sie lief heute mit dem Gehwagen, sagte mir der Therapeut. Damit soll es besser gehen. Ich schau mir das gleich mal an, ob der Wagen für sie was ist.«

Die beiden hingen nun jeder seinen Gedanken nach und aßen ruhig weiter.