... denn alles ist Vorherbestimmt

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»Ach Martha«, sagte er, »was ist aus mir geworden? Ich kann nicht mehr operieren, ich verletze eine Frau auf dem Friedhof und bin ruppig zu meinen Leuten und am meisten zu mir selber. Gut, dass es Andreas noch gibt. Er steht mir zur Seite, wenn es nicht mehr geht. Ich glaube, ich gebe meinen Beruf auf und ziehe nach Spanien. In das kleine Dorf, wo wir waren, nachdem wir geheiratet hatten.«

Martha saß da und konnte nichts sagen. Sie hatte geglaubt, dass ohne sie alles so weiter gehen würde wie mit ihr.

Aber dieses war offensichtlich nicht der Fall. Sie musste es wieder hinbekommen und würde alles tun, was in ihrer Macht stand, damit ihr Mann wieder operieren würde. Er kann so viele Menschen retten, dachte sie.

Sie teilte Marie ihren Entschluss mit, und dann machten die beiden sich wieder auf den Weg zu Tina.

Als sie in das schöne Zimmer ankamen, das mehr einem Hotel glich als einem Krankenzimmer, saß an Tinas Bett ein Arzt. »Andy«, sagte Martha, »schau Marie, das ist Andy. Er ist der allerbeste Freund von Peter und mir. Er hat das Herz auf dem rechten Fleck.« Marie sah zu Tina hinüber und sah das Leuchten in ihren Augen.

»Hupps«, sagte sie, »da hat sich aber jemand ein bisschen verliebt. Ich kenne Tina. Die lässt den nicht los. Wenn sie schon so schaut, dann weiß ich, wie es weiter geht.« Martha lachte laut los.

»Ja, er ist ein toller Mann. Aber er ist stockschwul. Er hat auch eine Beziehung, aber das ist nicht mein Fall. Der betrügt Andy nach Strich und Faden, und mein guter Freund merkt es nicht einmal. Ist schon schade, den hätte ich deiner Tina wirklich gegönnt.«

Tina bedankte sich für die Sachen, die er ihr schicken ließ. Sie wäre ihm für alles dankbar, sagte sie und möchte ihm das Geld dafür gerne zurückgeben.

»Nein, nein, Sie denken falsch«, meinte Andy.

»Die Sachen hat Dr. Weber bezahlt. Und das ist auch recht so. Er ist ja schuld an Ihrer Misere. Sie sagten mir, dass Sie gerne die Kleidung Ihrer verstorbenen Freundin gehabt hätten.

Würden Sie auch etwas von meiner besten, verstorbenen Freundin tragen? Ich hatte nämlich die Idee, dass Peter Ihnen etwas zum Anziehen von seiner Frau bringt. Sie war wirklich eine Seelenverwandte von mir, und ich konnte alles mit ihr bereden. Er könnte Ihnen die Sachen leihweise überlassen. Es hängen die schönsten Kleidungsstücke noch immer im Schrank und teilweise sind sie noch neu. Hätten Sie damit ein Problem? Der Jogginganzug da gefällt mir nicht.«

Martha und Marie schrien los.

»Ja, das ist die beste Idee! Mensch Tina, sag Ja. Sag doch bitte Ja.

Martha ist so eine liebe Frau. Du kannst den Jogginganzug bedenkenlos nehmen. Nimm ihn!«, schrien beide, so laut sie konnten.

Tina schaute ihren Chirurgen lange an. Sie wollte nichts von dieser toten Frau, und sie wollte schon gar nichts von diesem Weber. Aber Dr. Bergheim lächelte sie so liebevoll an, dass sie nur mit dem Kopf nickte.

»Wenn Sie es für richtig halten. Ich mache das, was Sie mir sagen, weil ich denke, ich fahre gut dabei.«

»Na, dann will ich unserem Verursacher allen Übels das Ganze mal beibiegen«, meinte Andy. Marie und Martha jubelten.

»Marie komm mit. Wir gehen zu meinem früheren Zuhause. Wir suchen was aus für Tina. Du wirst dich wundern, was für schöne Sachen sie nun bekommt. Ich habe vieles selber geschneidert. Wie schön ist das. Meine Kleidung findet eine gute Verwendung, und ich bin begeistert. Ob Peter allerdings mitspielt, das ist sehr fraglich. Ich hoffe, Andy kriegt das hin.« Wenn das klappen würde, das wäre so wunderbar!

Dass Tina diesen Dr. Bergheim so anhimmelte, das gab Marie zu denken. Wenn sie sich da bloß nicht verliebt, denn das wäre schlimm für Tina. Marie wusste noch zu gut, wie es war, als diese Geschichte damals mit Markus passierte. Das tat weh, und dieses wünschte sie ihrer Freundin nicht noch einmal. Aber dieser Mann machte Tina ja nichts vor. Solange er nichts unternimmt, dachte sie, wird auch sie ihre Gefühle im Griff haben. Sie kannte ihre Freundin schließlich gut genug, und es würde alles gut werden. Sie streichelte Tina noch mal die Wange, und schon war sie verschwunden.

8.

Martha schleppte Marie mit, und sie betraten ein wunderschönes, weißes Haus. Es war an einem Berghang gebaut, und sie gingen in einen Raum, den Martha ihr als Ankleideraum beschrieb. Hier hing tatsächlich noch die Kleidung ihrer verstorbenen Freundin.

»Oh Martha, wie viel Klamotten hast du denn? So viel hättest du nicht mal anziehen können, wenn du hundert Jahre alt geworden wärst. Und so viel Schuhe, ich kann das gar nicht glauben!«, sagte Marie.

Martha zeigte auf einige Jogginganzüge.

»Schau mal«, sagte sie, »dieser hellblaue würde ihr doch toll stehen. Oder besser der dunkelgrüne?«

Marie schaute sie mit Staunen an. So schöne Jogginganzüge! Und gleich so viele davon. Sie hatte nur einen besessen, und der war auch noch ganz verschlissen.

»Ach Martha, sie sind alle sehr schön. Egal, welchen Tina bekommt. Ich freue mich für sie. Sie wird darin Klasse aussehen.«

Martha freute sich über die Worte und meinte: »Komm, ich zeige dir das Haus.

Hier hat das Dach gläserne Dachziegel, und somit ist es schön hell. Dort habe ich geschneidert, wenn ich mal was zu Hause gemacht habe. Meistens waren meine Schwester und ich aber in dem Hinterzimmer der Boutique. Die werde ich dir auch noch zeigen, aber zunächst müssen wir aber ja deine Freundin versorgen.

Peter ist so ein Blödmann. Wieso kümmert er sich nun nicht um sie? So war er schon immer. Ich hatte alles gerade gerückt, wenn er sich in was rein geritten hatte mit seinem großen Mundwerk.

Nun bin ich nicht mehr da, und keiner bügelt es glatt. Komm, wir gehen in den Garten.«

Hier draußen befand sich ein schöner Rasen und einige kleine Beete, die alle sehr gepflegt waren. Die Kanten waren exakt geschnitten, das Gras war ohne Wildkräuter. Eigentlich sehr langweilig, aber Geschmäcker sind ja verschieden.

Martha sah Maries Gesicht und meinte, dass der Garten Sache eines Gärtners wäre. Sie hätte auch lieber, wenn es nicht so streng aussehen würde, aber Peter gefalle es so, und dann wäre es auch gut so.

Am Ende des Grundstücks standen hohe Büsche und Bäume und dahinter sah man einige einfache Mehrfamilienhäuser. Wie unterschiedlich doch die Straßen hier waren. An dieser Seite standen die feudalen Häuser und parallel dahinter Wohnblocks.

Martha zog sie wieder ins Haus, und sie gingen in das schwarz-weiß eingerichtete Wohnzimmer. Eine Wand war mit Fotos bedeckt. Auf vielen waren Frauen mit schicken Kleidern, und dann waren da welche von Peter und Martha.

»Er hat nichts verändert«, sagte Martha.

»Alles ist so, wie an meinem letzten Tag. Es würde mich nicht wundern, wenn meine Kaffeetasse noch auf dem Tisch stehen würde.«

Die stand zwar nicht da, dafür sah sie zwei Kisten Rotwein und diverse andere Flaschen mit Alkohol.

»Ach du meine Güte«, sagte sie. »Nun weiß ich, warum er nicht mehr operiert. Er säuft! Nein, das darf nicht wahr sein. Peter hat noch nie getrunken; er verträgt das gar nicht. Marie, wir müssen ihn davon weg bekommen. Er braucht meine Hilfe.«

Sie ließ sich in einen weißen Ledersessel fallen und dachte nach.

Sie hörten, dass ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde und die Tür ging auf. Peter ging als erstes in die Küche und goss sich einen Rotwein ein. Mit dem Glas in der Hand schaltete er den Fernseher an und zog erst dann seine Jacke aus.

»Oh Peter, was ist aus dir geworden? Du musst nun wieder der Alte werden. So geht es nicht weiter. Marie, was können wir bloß tun? Ob die Holle einen Rat weiß? Aber nein, die mischt sich bei den Erdenmenschen nur ein, wenn die sie um Hilfe bitten.

Aber ich bitte dich nun, liebe Holle. Bitte hilf ihm, und lass ihn wieder glücklich werden, denn er hat es verdient. Er hat schon so vielen Menschen geholfen.«

Martha wusste, wenn sie noch weinen könnte, dann würde sie es nun tun. Marie stand auch ganz betreten da und wusste nicht, was sie machen konnte.

Es klingelte an der Haustür, aber Peter machte nicht auf. Der Besucher ließ sich aber nicht abwimmeln und schlug so fest gegen die Tür, dass es richtig knallte.

»Mach auf, Peter Weber. Ich weiß, dass du da bist. Ich gehe hier nicht weg, bevor ich mit dir gesprochen habe.«

Martha jubelte.

»Das ist Andy«, sagte sie zu Marie.

»Vielleicht sagt er ja was wegen der Kleidung für Tina.«

Peter stellte das Rotweinglas so heftig auf den Tisch, dass es fast über geschwappt wäre. Was will der Idiot denn schon wieder, dachte er.

Er öffnete die Tür und blaffte: »Was willst du hier? Ich hoffe, du hast einen guten Grund, hier einfach so aufzutauchen.«

»Allerdings, den habe ich. Wann willst du dich, verdammt noch mal, um die Frau kümmern, die du verletzt hast? Denkst du, dass eine Orchidee alles gut macht? Sieh sie dir doch mal an. Sie liegt wie eine arme Sünderin in dem feudalen Zimmer und ist todunglücklich.

Du machst es dir hier bequem mit Saufen, und das kann und werde ich nicht dulden! Du hast dich um sie zu kümmern, nicht ich! Ich behandle lediglich ihren Fuß. Aber dass sie sich einigermaßen wohl fühlt, das ist deine Aufgabe.

Martha hätte ihr sofort etwas aus ihrem Kleiderschrank gebracht, damit sie nicht wie Aschenputtel da liegt. Ich habe mit Frau Braune geredet. Sie wäre dankbar für einige Sachen.«

»Bist du nun total ohne Verstand!«, schrie Peter.

 

»Du willst Marthas Kleidung weitergeben? Das ist nicht dein Ernst. Ich habe 50 Euro gegeben, und dafür wird sie ja wohl für die paar Tage einige Kleidungsstücke erhalten haben. Die Sachen meiner Frau werden nicht angerührt, verstanden?«

Andy dachte, dass er nun ein wenig einlenken müsse, denn sein Freund war nicht weit davon entfernt, ihm eine reinzuhauen.

»Nun«, sagte er, »dann geh aber doch wenigstens mal zu ihr. Sie ist ganz alleine. Wie kannst du das nur mit ansehen? Bitte besuche sie ein- oder zweimal. Was vergibst du dir damit?

Und einen Jogginganzug könntest du ihr doch ausleihen. Sie braucht wirklich einen vernünftigen. Tu immer das, was Martha getan hätte, dann wird es wohl richtig sein. Ich muss wieder los. Mach es gut, alter Freund. Und lass das weg. Ist besser für dich.«

Er zeigte auf den Rotwein und war schon an der Tür.

»Bis morgen. Adieu.«

Andy tippte sich an die Stirn und war auch schon weg, bevor sein Freund ihm wieder Schimpfworte oder sogar den Rotwein an den Kopf werfen konnte.

Wütend nahm Peter auf dem Sofa Platz und Martha setzte sich zu ihm.

»Peter, gib ihr den Jogginganzug. Sei doch nicht immer so verbohrt. Bitte, geh in mein Ankleidezimmer. Los! Geh dorthin! Bitte, geh hin!«

Sie versuchte, ihn zu schubsen, aber es ging natürlich nicht. Stattdessen nahm er seine Jacke vom Haken, holte die Autoschlüssel und überlegte kurz, ob er noch fahren dürfe. Ja, es waren nur zwei oder drei Schluck. Das ging noch. Er öffnete die Garage und stieg in sein Auto.

Bevor er den Schlüssel aber in die Zündung steckte, fühlte er sich wie wieder ins Haus gezogen. Er konnte einfach nicht den Schlüssel drehen. Hatte er doch zu viel Alkohol gehabt? Nein, das konnte es nicht sein.

Er ging wieder ins Haus, ohne den Schlüssel abzuziehen. Wie in Trance betrat er Marthas Ankleideraum und nahm einen dunkelgrünen Jogginganzug vom Bügel. Warum er es tat, wusste er nun selber nicht, aber vielleicht hatte er ja wirklich was gutzumachen. Also denn. Er konnte das Kleidungsstück ja im Wagen liegen lassen, wenn er es sich auf der Fahrt anders entscheiden würde, überlegte er.

Peter fuhr los und fühlte sich irgendwie gut. Was er ja nicht wissen konnte war, dass Martha und Marie auf dem Rücksitz lachten und jubilierten und dem Inneren des Wagens eine fröhliche Atmosphäre gab. Peter pfiff ein Lied und die beiden Lichtwesen pfiffen fröhlich mit.

»Danke, liebe Holle«, rief Marie.

9.

Peter stellte seinen Wagen etwas abseits ab, damit man in der Klinik nicht sah, dass er dort war. Irgendein Notfall war immer da, und dann würde er wieder vor Mitternacht nicht zu Hause sein. Er nahm, ohne nachzudenken, den Jogginganzug und lief die Treppen hinauf. Etwas Bewegung tat ihm gut und im Fahrstuhl würden unangenehme Fragen gestellt werden, weshalb er denn um diese Zeit hier sei.

Als er vor der Nummer acht auf der Privaten stand, da zögerte er. Ob es richtig wäre, dies zu tun? Peter fühlte sich, als ob er einen Schubs in den Rücken bekam und polterte gegen die Tür. Drinnen vernahm er ein »Ja?«.

Nun blieb ihm nichts anderes übrig als hineinzugehen. Er öffnete die Tür und blieb etwas ratlos stehen. Weshalb war er gestolpert? Marie und Martha lachten laut und stießen ihn, so gut sie es konnten, weiter. Gemeinsam klappte das nun. Nicht immer, aber immer öfter!

Als Tina den Verursacher ihres Übels sah, schoss ihr das Blut in den Kopf. Wie konnte er es wagen, hier hereinzustolpern? Das Gefühl, das Peter überkam war etwas, das er eigentlich aus seinem Leben verdrängen wollte. Er war verlegen.

Er, der Chefarzt der Neurologie, Kapazität auf seinem Gebiet und immer Herr seiner Sinne, stammelte ein »Guten Abend, Frau Braune«, und er hielt ihr den Jogginganzug hin.

»Dr. Bergheim sagte, dass ich Ihnen dieses bringen solle. Ich hatte sowieso hier zu tun und dachte mir, dass ich ihn noch eben vorbeibringe.«

Tina sagte nichts und starrte diesen abscheulichen Menschen an. Peter legte den Anzug an das Fußende ihres Bettes und fragte, was sie denn da malen würde.

Tina erwiderte knapp, dass sie nicht malen, sondern zeichnen würde. Es seien Zeichnungen von Wildpflanzen. Sie habe sich die Bilder von den Heilkräutern aus dem Internet gezogen auf ihrem Handy, und nun würde sie sie nachzeichnen.

Er nahm ein Blatt, musterte die Bilder von Löwenzahn, Giersch und Brennnesseln und nickte anerkennend.

»Das ist wirklich gut. Sie zeichnen hervorragend. Anscheinend kennen Sie sich mit diesen Pflanzen aus. Wissen Sie auch die Heilwirkung dieser Gewächse? Ich habe schon viel darüber gehört und gelesen, aber ich weiß dennoch nichts darüber. Ich arbeite nach der herkömmlichen Schulmedizin. Ich weiß, dass man Brennnesseltee trinken kann, aber wofür dieser gut ist, weiß ich nicht.« Er sagte dieses, weil er einfach irgendetwas sagen musste.

Tina nahm ihm das Blatt aus der Hand. Eigentlich wollte sie sich mit dem Kerl nicht mehr unterhalten, aber bei diesem Thema konnte sie den Mund einfach nicht halten.

»Schauen Sie mal.« Sie deutete mit dem Bleistift auf die Brennnessel.

»Das ist eine sehr wertvolle Pflanze. Nehmen Sie sich doch einen Stuhl, dann erzähle ich Ihnen etwas darüber.«

Peter nahm sich einen Sessel und setzte sich neben das Bett, sodass er die Zeichnung betrachten konnte. Tina fuhr das Kopfteil ihres Bettes hoch und fing zu erzählen an.

Ganz sacht bewegte sich der Vorhang vor dem Fenster. So, als ob ein Windhauch durch das Zimmer huschte. Zwei Lichtwesen verließen fröhlich das Klinikum. Hier sei deren Anwesenheit nicht mehr erforderlich, meinte Marie. Tina wäre nun in ihrem Element, das wisse sie genau. Die beiden Leuchtwesen begaben sich zu ihrem Lieblingsplatz auf dem Felsvorsprung, wo sie einen Blick in einen herrlichen Wald hatten.

»Die Brennnessel hat eine große Heilwirkung«, sagte Tina.

»Sie wird auch Donnernessel oder Hanfnessel genannt. Denn einerseits waren die Menschen früher in dem Glauben, die Brennnessel schütze gegen Gewitter und anderseits wurde sie für die Herstellung von Hanfseilen oder auch Nesselstoffen verwendet. Die Blätter, die Samen und die Wurzeln sind reich an Kieselsäure, Magnesium, Eisen, Vitaminen und vielem anderen.

Sie ist blutbildend, stoffwechselanregend, blutdrucksenkend und stärkend. Aber es gibt noch viele weitere Eigenschaften dieser interessanten Pflanze. Früher hängte man Brennnesselbüschel an die Türen des Stalls, um das Vieh zu schützen. Ein Gemüse aus Brennnesseln wurde damals am Gründonnerstag gegessen. Es sollte vor Geldmangel schützen, aber sie wurden das ganze Jahr gegessen, um Krankheiten fern zu halten.

Sie wachsen gerne in der Nähe der Menschen. Sicherlich weiß die Brennnessel, dass sie für uns so wertvoll ist, aber leider nimmt die Menschheit diese wertvolle Pflanze gar nicht mehr in Anspruch. Wenn unsere Erdenbürger sich doch nur ein wenig damit befassen würden, dann wüssten sie, dass die Brennnessel sich mit den Giften im Körper anlegt, die sich in den Blutbahnen befinden. Ob als Tee oder Badezusatz, die Nessel spült alles Schlechte aus dem Körper. Und wissen Sie was?« Tina lehnte sich weit zu ihm rüber.

»Man kann mit der Brennnessel sogar Stoff färben.«

»Nein«, meinte Peter, den ihr Enthusiasmus erheiterte.

»Doch! Ja, ich weiß, es ist kaum zu glauben. Ich habe das allerdings noch nicht gemacht, aber wohl schon mit Holunder. Und nun sag ich Ihnen noch was! Der Holunder ist auch sehr interessant. Ich kann Ihnen stundenlang etwas über diese wichtige Pflanze erzählen. Soll ich?«

Peter schaute auf die Uhr. So lange war er schon hier? Die Zeit war ihm nur so davongerannt. Nun wurde es höchste Zeit, dass er sich verabschieden würde.

»Es interessiert mich wirklich sehr. Sie können diese Wildpflanzen dem Menschen nahe bringen.

Ich habe das alles nicht gewusst, aber ich muss schon bald wieder aufstehen, und morgen ist ein harter Tag. Zunächst Patientenvisite und dann Sprechstunde, dann der Papierkram und so weiter.

Aber ich würde gerne morgen Abend wiederkommen. Sie haben dann ja Ihre Operation hinter sich, und die Heilung kann beginnen. Ich werde mich sofort nach Ihrer OP nach Ihnen erkundigen, ob alles gutgegangen ist, und morgen Abend nach Feierabend schau ich wieder rein. Zunächst wünsche ich Ihnen alles Gute für den morgigen Tag.« Sie lächelte.

»Ja, danke schön. Mal sehen, wie es mir dann geht. Vielleicht kann ich unsere Heilkräuterstudien ja fortsetzen.«

Peter ging zur Tür, und Tina winkte ihm lächelnd hinterher.

»Bis morgen.«

Der kann ja sogar freundlich sein, dachte Tina und nahm den Jogginganzug in die Hand. Wie weich der war! Sofort fiel ihr Dr. Bergheim ein. Wie nett von ihm, dass er an mich gedacht hatte. Morgen sehe ich ihn schon wieder. Dieser Gedanke vertrieb ihr ein wenig die Angst vor dem kommenden Tag. Warum musste alles so kommen?

Sie knipste das Licht aus und dachte daran, dass sie, wenn sie wieder fit wäre, Holunderblüten und -beeren zeichnen würde. Und die würde sie dann diesem Arzt erklären. Sie hatte den Namen vergessen, aber der war ja auch nicht wichtig.

Als Peter nach Hause kam, stand noch ein fast volles Glas Rotwein auf dem Tisch. Er nahm es und schüttete es weg. Zufrieden ging er unter die Dusche und dann ins Bett. Zum ersten Mal seit Marthas Tod tat es nicht mehr so weh, ohne sie zu sein. Vielleicht heilt ja die Zeit wirklich alle Wunden.

Es war ein gutes Gefühl, dieser Frau den Jogginganzug von Martha zu bringen. Sie war ja wirklich nicht schuld an diesem Dilemma und morgen Abend würde er ihr noch zwei Schlafanzüge bringen. Hoffentlich ist das nicht zu aufdringlich, dachte er, und er wollte vorher noch Andreas fragen. In solchen Frauenangelegenheiten kannte der sich besser aus. Mit diesem Gedanken schlief er zufrieden ein.

Am nächsten Morgen wurde der Fuß von Tina nachgeschaut. Dr. Bergheim war sehr zufrieden und meinte, dass gleich noch ein Anästhesist käme, der ihr ein paar Fragen stellen würde. Tja, und dann könne es losgehen. Auf dem Stuhl sah er den grünen Jogginganzug liegen.

»Oh«, sagte er, »hatten Sie gestern Besuch?« Er zeigte auf den Stuhl.

»Ach ja, ich möchte mich noch bei Ihnen bedanken.«

Andy winkte ab. Er meinte, dass das ja wohl die Pflicht seines Freundes wäre.

Und dann klopfte es an der Tür, und Peter Weber trat ein. Die beiden Männer begrüßten sich freundlich und Andy fragte, ob sein Freund denn nun nicht die Visite durchführen müsse.

»Ja«, sagte Peter

»Ich bin dabei. Mein Team steht vor der Tür. Ich wollte Frau Braune nur diese Buntstifte bringen. Wenn Sie mir was über Löwenzahn erzählen, dann sollen die doch auch gelb sein, oder?«

»Doch nicht Löwenzahn. Es ist der Holunder«, sagte Tina.

Peter nickte und gab Tina die Stifte, und Dr. Bergheim stand der Mund offen.

»Was war das denn gerade?«, fragte er, aber Peter begab sich eilig wieder zu seiner Truppe.

Und nun kam auch schon der Anästhesiearzt.

Dr. Bergheim nickte ihm zu und sagte, wie immer mit seinem charmanten Lächeln zu Tina: »Bis gleich, Engel.«

So ein toller Mann. Wenn der sie doch nur einmal in den Arm nehmen würde. Tina lächelte ebenfalls, und nun ging alles ganz schnell. Sie bekam wieder ihr Nachthemd, hinten offen, an und wurde dann auf den Flur geschoben. Ihr Fuß schmerzte erneut. Sie wurde durch eine Glastür gefahren, und eine sehr nette Frau, Schwester Roswitha, brachte ihr eine warme Decke.

»Ihnen ist sicherlich kalt«, meinte sie. Gleich wird es besser. Sie befestigte an ihrem Zeigefinger eine Klemme und meinte, dass Tina gleich auf eine wunderschöne Reise gehen würde, und wenn sie wieder aufwachen würde aus dem Traum, dann wäre alles schon vorbei. Noch kurz aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Dr. Bergheim zu ihr kam. Ihr Bein war mit einem grünen Tuch abgedeckt. Und dann war sie auch schon weg.

Als sie wach wurde, war wieder eine Schwester an ihrem Bett und erzählte ihr, dass sie alles bestens überstanden hatte und dass der Chefarzt der Neurologie auch schon dagewesen wäre und sich nach ihr erkundigt hätte. Sie befände sich nun im Aufwachraum und würde gleich wieder in ihr gewohntes Zimmer kommen.

Keine wunderschöne Reise, Schwester Roswitha, dachte Tina. Nichts gemerkt von Allem, und schon fiel sie wieder in einen wohligen Schlaf. Als sie erwachte, kam auch schon ein Krankenpfleger und meinte, er würde sie nun zurück auf die Station bringen.

 

Er sagte, nachdem er Tina samt Bett in ihrem Zimmer Nummer acht abgestellt hatte, dass sie nun auch etwas essen dürfe. Hunger hatte sie allerdings nicht. Nur Kaffee wäre ganz gut.

Er kam dennoch mit einem Tablett wieder und Tina schmunzelte. Es war dieselbe Situation wie am Tag ihrer Einlieferung. Sie besah sich ihren eingegipsten Fuß mit dem Schlauch daran. Ein Tropf lief in ihren Arm. Schmerzmittel sei es, hatte der Pfleger gesagt. Überall Schläuche. In der Blase sogar.

Sie fragte den Pfleger, wie der Name des Chefarztes der Neurologie wäre. Er sagte es ihr, und dann fiel es ihr auch wieder ein. Dr. Peter Weber. Klar. Eigentlich war der Name ja gar nicht wichtig, aber wenn er tatsächlich am Abend wiederkommen würde, dann müsse sie ihn doch zumindest anreden können.

Nachdem sie gegessen hatte, war sie erstaunlich wach. Sie sah die Stifte auf dem Nachtschrank liegen und nahm sie in die Hand. Eigentlich hätte sie am heutigen Tag sehr böse auf Dr. Weber sein sollen, aber komischerweise gelang ihr keine Wut. Er hatte gesagt, dass er am Abend wiederkommen werde. Nun, dann wollte sie mal sehen, ob sie ein hübsches Exemplar des Holunders zu Papier bringen würde.

Immer wieder hatte Tina das Gefühl, nicht alleine im Zimmer zu sein. Immer wieder spürte sie einen leichten, kühlen Luftzug.