... denn alles ist Vorherbestimmt

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6.

Dr. Peter Weber war noch auf dem Friedhof geblieben, als Tina mit dem Krankenwagen fortgebracht wurde. Er goss die Stiefmütterchen auf Maries Grab und zündete die Kerze an. Dann ging er zu Marthas Grab und sagte ihr, dass er sie vermissen würde. Das tat er seit ihrem Tod jedes Mal.

Heute fügte er noch leise hinzu: »Du warst mit einem riesigen Rindviech verheiratet. Was ich heute getan habe…

Ich wünschte, du wärst noch da. Bestimmt hättest du einen Weg gewusst.« Dann brachte er die Kannen weg, packte alles ins Auto und fuhr los.

Ein Berg voller Arbeit wartete auf ihn. Als er dann im Klinikum ankam, fing es leicht zu regnen an. Wenn ich das gewusst hätte, dachte er, dann wäre ich gar nicht zum Friedhof gefahren zum Gießen. Dann wäre das alles gar nicht geschehen. Auf dem Flur vor seinem Sprechzimmer warteten zwei Personen auf ihn. Er ging zu seiner Sekretärin und fragte sie, was die Leute wollten.

»Gut, dass Sie da sind, Chef«, sagte sie.

»Das sind Herr und Frau Meyzer. Er hat einen Tumor im Kopf und will, dass Sie ihn operieren. Sie seien der Beste, hätten sie gehört. Sie würden nicht weggehen, bevor sie sich ihn nicht angeschaut hätten.« Dr. Weber zog die Augenbrauen hoch.

»Ich operiere den nicht. Wenn eine Operation nötig ist, dann sind hier viele, die es machen können. Was spricht dagegen, dass die anderen drei ihn operieren?«, fragte er erstaunt.

Sie tippte auf ihren Bildschirm.

»Chef, wir sind voll. Ich weiß nicht, wie ich ihn dazwischen nehmen soll. Wenn wir damit anfangen, dass die Leute sich hier einfach hinsetzen, dann können Ihre Kollegen Tag und Nacht operieren, und es reicht immer noch nicht.

Wo waren Sie denn bloß so lange? Es liegt eine Liste aller Anrufe auf Ihrem Schreibtisch. Bitte rufen Sie zurück. Ich habe es versprochen, denn sie sind alle sehr wichtig. Was soll ich denn nun mit den Leuten da machen? Die gehen nicht weg.«

»Ich kümmere mich darum. Danke Beate. Und noch was: Können Sie mir einen Kaffee besorgen?«

Bea nickte und ging wieder zu ihrem Schreibtisch, wo schon wieder das Telefon klingelte. Immer der gleiche Satz: »Klinikum Roderstadt, Neurologie. Mein Name ist Beate Müller.«

Wie oft hat sie diesen Satz heute schon sagen müssen. Und stets musste sie freundlich sein, denn die Personen, die anrufen, sind fast immer in großer Not.

Sie wusste, dass Dr. Weber ohne sie nicht zurecht kommen würde. Aber es war gut, dass Bea solch eine Arbeit hatte, die ihr Spaß machte und wo sie gutes Geld verdiente. Ihr Mann war seit einem halben Jahr arbeitslos, und sie hatten zwei Kinder, die noch im Schulalter waren.

So, und nun erst mal den Kaffee für den Chef ordern. Der scheint einen nötig zu haben, so wie der ausschaut, dachte sie.

Dr. Weber ging zu den wartenden Leuten.

»Meine Sekretärin meinte, Sie wollten zu mir? Was gibt es denn?« Pure Verzweiflung stand in den Gesichtern der jungen Leute.

Die Frau gab ihm eine CD und sagte: »Bitte helfen Sie uns. Mein Mann muss operiert werden. Keiner will es machen. Er wird sterben.«

Dr. Weber schaute auf die CD und meinte: »Ich will mir das Ganze gerne anschauen, aber Sie müssen sich einen Termin geben lassen und zu mir in die Sprechstunde kommen. Das ist der Weg.« Er wollte in sein Sprechzimmer gehen, aber die Frau hielt ihn am Arm fest.

»Sie müssen uns helfen!«, schrie sie.

Eine Schwester brachte ein Kännchen mit Kaffee, und Bea nahm ihn ihr ab. Sie ging an die aufgebrachten Leute vorbei in das Chefzimmer und stellte das Tablett ab.

Sie sah, dass ihr Chef die Farbe wechselte. Gerade noch war er kreidebleich, und nun hatte sein Gesicht eine tiefrote Farbe. Oh weh, dachte sie, das geht nicht gut. Dr. Weber hatte die Hand schon erhoben, um die junge Frau von sich zu stoßen, aber blitzartig erinnerte er sich an die Situation auf dem Friedhof. Nie wieder würde er sich so vergessen wie heute Mittag. Kommen Sie schon rein«, sagte er barsch.

Sofort gingen die beiden in das Zimmer. Dr. Weber schaute sich die Aufnahme an und sah besorgt auf den Monitor. Das war nicht gut.

Er sagte: »Ihr Tumor sitzt an einer höchst ungünstigen Stelle. Wenn wir ihn entfernen, machen wir mehr kaputt als heile. Die Schmerzen werden wir Ihnen nehmen können. Aber entfernen werden wir ihn nicht. Vielleicht kann er verkapselt werden. Wir müssen sehen. Kommen Sie morgen in die Sprechstunde. Frau Müller soll Ihnen einen Termin geben. Rechnen Sie mit einer langen Wartezeit. Genaues kann ich erst dann sagen. Operieren werde ich sowieso nicht.« Wieder fasste die junge Frau Dr. Weber am Arm und schüttelte diesen heftig.

»Sie müssen es tun!« Sie schaute auf seine Kaffeetasse und wollte schon sagen, dass er lieber den Patienten helfen solle, anstatt hier nur Kaffee zu trinken.

Aber Dr. Weber zog seinen Arm zurück und sagte: »Wenn Sie mich noch einmal anfassen, dann können Sie sich einen anderen Arzt suchen! Ich führe die Behandlung durch, aber ich werde nicht operieren«.

Gut, dass ich nichts gesagt habe von dem Kaffee, dachte Frau Meyzer. Erschrocken gingen die beiden zu Bea, die sich immer noch wunderte, dass ihr Chef die beiden in das Sprechzimmer mitgenommen hatte. Nun sollte sie denen einen Termin geben.

Man kann nur hoffen, dass jemand absagt. Sonst wird es ein langer Tag, dachte sie. Aber wenn er es so will! Wenn dieser gute Arzt doch bloß wieder operieren würde! Alle im Klinikum warteten darauf. Er gab seinen Kollegen zwar alle nötigen Anweisungen, aber er betrat nicht mehr den OP-Raum.

Als Peter Weber vom Schreibtisch aufstand, wurde es schon dunkel. Er knipste das Licht an und ging hinüber zu seinem Kollegen Andreas Bergheim.

»Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir zu danken wegen der Sache heute Mittag. Ist alles glatt gelaufen mit ihr?«

»Ja, sie liegt auf der Privaten, Zimmer 8. Ich hoffe, dass die Schwellung am Montag weg ist. Dann werde ich sie operieren, und in einer Woche haben wir dann alles hinter uns. Du hast ganze Arbeit vollbracht, mein Freund. Totale Trümmerfraktur! Die Syndesmose ist gerissen.« Er grinste über das ganze Gesicht.

»Hör mit dem Grinsen auf. Die Sache ist schlimm genug. Ich habe überreagiert,« sagte Peter. Dr. Bergheim grinste wieder. »Überreagiert? Du hast einen Wutanfall bekommen, weil jemand in das Areal deiner verstorbenen Frau getreten ist.« Peter schmiss seinem Freund einen hasserfüllten Blick zu. Andy war der Einzige, der so etwas zu ihm sagen durfte. Aber zu weit gehen sollte auch er nicht.

Auf dem Weg zurück in sein Büro überlegte Peter, dass er vielleicht mal bei seinem Opfer vorbeischauen könne.

Er ging zur Privatstation hinüber und blieb vor Zimmer 8 stehen. Sicherlich würde sie wieder ein Donnerwetter loslassen, und das auch noch mit Recht.

Er hatte sich total schofel verhalten, und das hätte jemandem in seiner Position niemals passieren dürfen. Aber nun ist es passiert.

Er klopfte leise an die Tür und trat ein. Er sah, dass sie schlief und trat vorsichtig an ihr Bett. Ihr Fuß war hoch gelagert. Sie trug nur ein T-Shirt. Sicherlich hatte man ihr noch keine Nachtwäsche gebracht. Morgen würde er ihr einen Blumenstrauß kaufen. Ja, das war eine gute Idee, um es wieder gut zu machen. Er legte noch am selben Abend einen Zettel auf Beas Schreibtisch, worauf er geschrieben hatte: Bitte besorgen Sie einen Blumenstrauß und lassen Sie ihn zur Privatstation Zimmer 8 liefern mit einem Vermerk: »Bitte entschuldigen Sie. W.« Er hatte den Satz leise vor sich hingesprochen, und nun fühlte er sich viel besser.

Als Bea am nächsten Morgen den Zettel sah, schaute sie ihn ratlos an. Was hat Dr. Weber bloß gemacht? Die weibliche Neugier war groß. Sie würde es schon noch raus bekommen und schaute in den Computer, wer auf Zimmer 8 lag. Bettina Braune. Fibulafraktur. Hm...

Ob er sie mit dem Auto angefahren hatte?, überlegte Bea und rief ihre nette Kollegin Irene von der Privaten an, mit der sie lange Zeit zusammen gearbeitet hatte. Sie fragte nach einigen freundlichen Sätzen, wie denn der Unfall bei Frau Braune passiert sei, und ob da ein Fremdverschulden vorlag. Irene schaute nach und verneinte. Sie sei lediglich umgeknickt. Was das wohl bedeutete?

Aber im Moment hatte sie nicht die Zeit zum Nachdenken. Sie rief bei Fa. Kisten an und bestellte zwei Rispen Orchideen. Das war immer passend.

Die Sonne blitzte durch einen Spalt im Vorhang. Tina blinzelte und wusste zunächst nicht, wo sie war. Als sie ihren Fuß nicht bewegen konnte, fiel es ihr schlagartig wieder ein. Sie war im Klinikum Roderstadt.

Sie angelte nach einem Schalter, um Licht zu machen und erreichte die Fernbedienung. Sie drückte irgendwo drauf und hui – die Vorhänge öffneten sich. Nun testete sie auch die anderen Tasten. Das Licht im Vorraum ging an, das Licht ging wieder aus, das Licht im Zimmer ging an, die Jalousien öffneten und schlossen sich, der Fernseher ging an, das Bett fuhr rauf und runter und bei dem roten Knopf kam eine Schwester.

Sie stellte sich vor und schüttelte Tinas Kissen auf. Sie fragte Tina, ob sie nun gewaschen werden möchte. Es wäre noch früh, und sie sei dann zum Frühstück fertig. Das käme um 8 Uhr. Ja, duschen wäre nun gut und Zähne putzen. Sie sagte es der Schwester, aber diese schüttelte ihren Kopf.

»Duschen geht erst mal nicht, aber wir putzen Sie blitzblank.« Nun fiel Tina ein, dass sie keine Wäsche und Waschzeug hatte. Nichts hatte sie hier, und als sie es der Schwester sagte, meinte diese, dass Tina erst mal Wäsche vom Klinikum erhalten würde. Das war ihr ganz schön peinlich. Die Schwester sagte, sie würde gleich zurückkommen und sie fertig machen.

 

»Wir kriegen das hin«, sagte sie und verließ das Zimmer.

Vor der Tür stieß sie fast mit Dr. Bergheim zusammen, der gerade erst das Krankenhaus betreten hatte.

»Guten Morgen«, sagte er fröhlich, »gibt es was Neues auf Zimmer 8?«

»Ja«, meinte die Schwester, »Frau Braune hat nichts zum Anziehen. Ich hole ihr erst mal hauseigene Wäsche.« Dr. Bergheim nickte und klopfte an die Zimmertür.

»Guten Morgen, Prinzessin«, meinte er verschmitzt. Tina lachte.

»Prinzessin ist gut. Muffeline wäre richtiger. Ich habe nichts zum Anziehen und Waschen.«

Dr. Bergheim schaute sie an: »Gibt es jemanden, der Ihnen etwas aus Ihrer Wohnung bringen könnte?« Tina schüttelte den Kopf. Sie kannte zwar eine Menge Leute und mochte diese auch gerne, aber sie wollte sie doch ungern in ihre Wohnung lassen.

»Ich habe vor einigen Tagen die Sachen meiner verstorbenen Freundin zum DRK gebracht. Vielleicht haben sie die ja noch. Die würde ich gerne haben wollen. Ich kann ja dort gleich mal anrufen und fragen, ob die Sachen noch dort sind.« Dr. Bergheim fasste sich an die Nase.

»Bitte warten Sie einen Moment. Ich habe da eine Idee.«

Der Schwester, die gerade mit einigen Kleidungsstücken auf dem Arm zurück kam, sagte er: »Ja, das ist gut, ziehen Sie ihr zunächst die Sachen an. Wir sehen dann weiter.«

Er zeigte mit dem Zeigefinger auf Tina und sagte: »Ich komme später wieder. Es kann etwas dauern, vielleicht geht es erst heute Nachmittag. Aber ich komme. Schön hierbleiben.« Tina lächelte ihn mit ihrem schönsten Lächeln an.

»Eigentlich wollte ich ja gleich die Treppe hinauf flitzen, aber wenn Sie mich so nett bitten, dann bleibe ich natürlich hier.« Beide lachten und Andreas Bergheim ging mit dem Lächeln auf den Lippen in sein Sprechzimmer. Eine tolle Frau!

Dr. Bergheim ging zunächst in die Visite. Dieses dauerte fast 2 Stunden. Danach besprach er alles Wichtige mit seinen Kollegen und der Chefarzt der orthopädischen Chirurgie stellte den OP-Plan für die nächsten drei Tage vor.

Tina war am Montag mit dabei. Kurz vor Mittag fand er endlich Zeit, sich wieder um Tinas Angelegenheit zu kümmern. Er machte sich auf den Weg zu seinem Freund Peter Weber. Als er dessen Sprechzimmer betrat, stand Peter am Fenster und schaute gedankenverloren hinaus.

»Hallo Andreas,« sagte er, als er seinen Freund sah.

»Hallo«, sagte auch Andy.

»Hast du Langeweile oder schaust du dir deine Patienten an, wie sie spazieren gehen?«

Peter Weber verzog das Gesicht: »Wieso machst du alles so lächerlich?«, fragte er verständnislos.

»Hier war heute der Bär los. Gerade geht das letzte Ehepaar raus.« Andy nickte. Er kannte das.

»Wollen wir zusammen in die Kantine zum Mittagessen?«, fragte er. Peter nickte.

»Ja, das ist eine gute Idee. Schnell weg, sonst kommt gleich wieder jemand oder es gibt einen Notfall, und wir kommen wieder nicht zum essen.«

Die beiden Ärzte gingen zum Fahrstuhl und drückten den Knopf für die Kantine.

»Was möchtest du?«, fragte Andy, als sie den Essensraum betreten hatten.

»Mir egal, nur eine Suppe«, sagte Peter.

»Nix da. Suppe! Du siehst schon aus wie ein Suppenkasper. Bitte zwei Mal Menü 1 und 2 Wasser.«

Das Essen war köstlich, was meistens in dieser Klinik der Fall war. Sogar Peter hatte alles aufgegessen, und Andy brachte das Gespräch wieder auf Tina Braune.

»Hast du deinen Schützling schon besucht?«, fragte er vorsichtig.

»Ja, gestern Abend noch. Aber da schlief sie. Ich habe ihr Blumen schicken lassen.«

»Oh, das ist aber nett von dir«, meinte Andy sarkastisch.

»Das wird sie sehr freuen.«

»Ja«, nickte Peter zufrieden. »Das denke ich auch.«

Und damit hast du alles wieder ins Lot gebracht, dachte Andy. Wie einfältig er doch manchmal war. Andy legte seine Hand auf den Arm seines Freundes.

»Du Peter, diese Frau hat keine Nachtwäsche und auch keinen Jogginganzug, wenn sie zur MTT muss. Du musst es ihr kaufen.« Peter schmiss den Löffel in das Dessert, dass es schepperte.

»Nein, nein«, sagte er in lautem Ton, das werde ich nicht tun! Ich habe schon Blumen gekauft. Was bildet sich diese Person bloß ein? Ich lasse mich doch nicht ausnehmen!«

»Peter, bitte beruhige dich. Sie hat gar nichts gefordert. Sie hat niemanden, der ihr die Sachen bringen könnte. Und sie hat mir heute früh gesagt, dass sie beim DRK anrufen wollte, ob die Kleidung ihrer verstorbenen Freundin noch da wäre. Das geht doch nun wohl gar nicht. Die Kleiderkammer soll die Sachen wieder rausrücken? Wie peinlich.

Kauf ihr zumindest Unterwäsche und zwei Nachthemden. Und eine Zahnbürste.« Peter wurde rot im Gesicht.

»Ich soll ihr Unterwäsche kaufen?‘«

Andy legte seinen Zeigefinger auf den Mund.

»Peter, schrei doch nicht so!«

»Ich schreie so viel ich will. Impertinent das Ganze! Okay, du hörst ja doch nicht auf. Hier sind 50 Euro. Gib sie einer Praktikantin, damit sie was einkauft. Und nenne diesen Namen Braune nie wieder in meiner Gegenwart!« Die anderen Kollegen und Schwestern, die sich in der Kantine befanden, achteten schon gar nicht mehr auf die lauten Ausbrüche von Dr. Weber. Sie kannten es schon.

Andy nahm die 50 Euro und sah ihn über den Rand seiner Brille an: »Mein lieber Freund, du hast Frau Braune in diese Lage gebracht. Du! Und du hast dich um sie zu kümmern, bis sie wieder vollkommen gesund ist.«

Schnell hielt er mit beiden Händen den Pudding seines Freundes fest. Er riskierte, dass der Chefarzt Dr. Weber so außer Kontrolle geriet und ihn den Pudding samt Schale ins Gesicht schleudern würde.

Als sich Tina, frisch gewaschen, das letzte Stückchen Brötchen in den Mund steckte, schaltete sie den Fernseher an. Sie wählte alle Programme durch, aber es war nichts dabei, was sie interessieren könnte. Sie war ohnehin kein großer Fernseh-Fan. Ein Mädel kam, räumte das Tablett ab und stellte Tina eine Karaffe Wasser und ein Glas hin.

Und was nun?, dachte Tina. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und wollte ein wenig schlafen. Was sollte man sonst hier tun? Aber es klappte nicht.

Sie nahm ihre Handtasche und stöberte darin. Die müsste wohl mal aufgeräumt werden! Also kippte sie den gesamten Inhalt auf ihre Bettdecke. Einige Geldmünzen sammelte sie ein und steckte sie in die Geldbörse. Dann waren da diverse trockene Kräuter, die sie einsammelte, noch einmal betrachtete und dann wegwarf.

Und dann war da ein Foto von ihr und Marie. Arm in Arm saßen die beiden auf einer Wiese unter einem Apfelbaum. Sie hatten dort ein Picknick gemacht. Tina konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

»Marie, sieh doch nur, ich brauche dich nun. Ich bin so alleine. Warum musste das denn bloß passieren? Wenn ich dich doch nur noch hätte! Sieh nur, ich liege hier in einem Totenhemd. Hinten ist es offen. Mit langweiligen blauen Blüten, immer dieselben Blüten.

Und der Slip! Ein Netzhöschen! Ich will zu dir, Marie. Bitte hole mich doch. Bitte Marie. Oder besorge mir Klamotten. Ich mag einfach nicht mehr. Dieser blöde Kerl ist an allem schuld. Gib mir doch ein Zeichen, meine Marie. Zeige mir, dass du bei mir bist.«

Tina schnäuzte sich die Nase wischte sich die Augen. So unglücklich wie heute war sie noch nie.

Es klopfte an der Tür. Tina schaute erstaunt, als sie sich öffnete. Eine Krankenschwester stand dort mit Blumen. Sie waren in Papier eingewickelt, aber Tina erkannte es sofort. Meine Firma, dachte sie. Die schicken mir Blumen. Woher wissen die es nur?

Die Schwester holte eine Vase und verließ das Zimmer. Marie packte die Orchideen aus. Sie nahm den kleinen Umschlag und las »Zimmer 8« auf der Vorderseite. Dann öffnete sie ihn und schmiss ihn umgehend in die Ecke des Zimmers. So ein Schuft! Schickte der ihr Maries Kinder!

So nannte sie ihre Züchtungen immer, weil sie ihnen ja das Leben geschenkt hatte. Diese hier waren besonders schön, weil sie neben der roten Lippe zwei Augen hatten. Marie war so stolz auf sie. Nein, diese Blumen wollte sie nicht. Sie wollte sie gerade in den Mülleimer werfen, als sie innehielt.

Sie hatte um ein Zeichen gebeten, und just in diesem Moment wurden ihr die Kinder von Marie gebracht. Die sind gar nicht von ihm, die sind von Marie. Er ist nur der Vermittler. Liebevoll stellte sie die schönen Blüten ins Wasser.

Allein der Gedanke daran, dass Marie sie einmal in ihren Händen gehabt hatte, ließen die Blüten nun noch wertvoller erscheinen. Wieder kamen ihr die Tränen.

»Wie sehr ich dich vermisse, meine Marie. Wo bist du denn nur?« So viel geweint wie in der letzten Zeit hatte sie in ihrem ganzen Leben nicht. Buddhas Worte konnten auch nicht trösten.

7.

Marie saß auf einer großen Sonnenblume und schaukelte dort hin und her. Martha hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Sie dachte viel an Tina, konnte sie aber nicht sehen. Andere Personen, wie zum Beispiel ihr Mütterlein, sah sie. Sie freute sich immer, wenn sie die alte Frau wieder lachen hörte. Das war auch gut so, aber wo war Tina?

Marie war schon ein paar Mal in ihrer Wohnung gewesen, aber da war sie nicht. Es sah so aus, als ob sie verreist wäre. Aber alle ihre Sachen waren noch da. Sie spürte, dass etwas nicht stimmen konnte.

Tina rief sie. Warum konnte sie nicht zu ihr durchkommen. Wo war Martha denn bloß? Sie ging ganz tief in sich und rief Martha zu sich. Da, ein Blatt wirbelte durch die Luft, und Martha stand vor ihr.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Martha, es stimmt etwas nicht. Ich weiß, dass mit Tina was nicht stimmt.« Ihre Freundin schaute sie lieb an.

»Marie, wir können auf der Erde nichts mehr tun. Wir sehen nur das Gute, das weißt du doch. Bestimmt geht es Marie gut. Vielleicht hat sie einen Mann kennen gelernt und ist ein paar Tage bei ihm. Es gibt viele Gründe. Es muss nichts passiert sein, und du weißt das auch.« Ja, Martha hatte recht.

»Wollen wir noch mal zu unseren Gräbern?«, fragte sie nun. »Marie, wir waren doch schon oft da. Es ist alles in Ordnung. Lass uns zu den Wolken hinauf fliegen und uns treiben lassen.«

»Bitte Martha. Mit dir ist es besser. Ich habe so ein mulmiges Gefühl wegen Tina. Da ist es gut, du bist bei mir. Tust du es für mich?«

»Okay, denn man los.« Schnipp, und schon waren sie da. Wie wunderschön die Blumen blühten. Auf beiden Gräbern.

»Siehst du, alles ist wunderbar. Das würde so nicht aussehen, wenn was nicht stimmen würde.« Marie starrte auf eine Stelle hinter dem Kreuz mit ihrem Namen. Dort lag ein vertrockneter Kranz aus Wildblumen. Der kam von ihrer Kräuterhexe, das sah sie sofort.

»Ich wusste, dass da was nicht stimmt. Niemals hätte Tina den Kranz so dahin geschmissen. Nie!«

Sie hatte ihn liebevoll für sie gebunden, wie sie es früher schon getan hatte. Und wenn er vertrocknet wäre, hätte sie einen neuen gebunden und diesen verbrannt, das wusste Marie ganz genau.

»Ich will wissen, was da los ist. Komm, wir gehen zur Holle.«

Dort angekommen sah ihnen die alte Frau staunend entgegen. »Wieso schneit ihr so hier herein? Ich hoffe, ihr habt für euer Verhalten einen guten Grund.« Die Holle ahnte nichts Gutes. Sie wusste, dass es in Maries irdischem Umfeld nicht gut bestellt war. Aber das konnte Marie nicht wissen, denn sie konnte ja nur das Gute sehen.

Marie erzählte der gütigen Frau von ihrem Fund und dass sie Tina sehen wolle. Sie würde keine Ruhe geben.

»Wo ist meine Freundin? Sie ruft nach mir, das spüre ich. Ich will sie sehen! Du sagst, es soll uns hier gut gehen. Das tat es auch. Bis jetzt. Nun ist alles anders, und ich habe keine Ruhe mehr.«

»Marie, auch wenn du deine Freundin sehen könntest, und auch wenn du sehen würdest, dass sie Kummer hat, so könntest du ihr doch nicht helfen. Du würdest nur leiden. Und das wollen wir hier vermeiden. Was man nicht ändern kann, das muss man annehmen. Auch ich kann nichts ändern, denn das machen die Menschen selber. Ich kann ihnen nur einen Weg weisen. Gehen müssen sie den alleine. Ein guter Rat von mir ist, dass du es einfach sein lässt.«

Marie protestierte lautstark.

»Nein, nein, nein! Ich lasse es nicht sein. Ich will Tina sehen. Ich gehe hier nicht weg. Du hast gesagt, es soll mir hier gut gehen.

 

So! Dann sorge du bitte auch dafür. Ich will nur eines: Ich will zu Tina. Ich gehe hier wirklich nicht mehr weg.«

»Was tu ich nur mit dir?«, meinte die Holle kopfschüttelnd.

»Wenn ich es nicht will, dann wirst du nicht gehen, und ich kann dich auch vergessen lassen. Aber du bist ein so liebes Kind, dass ich das nicht kann, und ich werde dich zu deiner Freundin bringen. Wenn ich aber sehe, dass du zu sehr leidest, dann hole ich dich da wieder weg. Ist das für dich so in Ordnung?« Ja, das war es.

»Bevor wir gehen, erzähle ich dir, was Tina passiert ist. Nimm deine Freundin Martha mit. Allein kommst du damit sicherlich nicht klar.«

Die Holle holte Martha herbei und erzählte den beiden von dem Unfall, den Tina erlitten hatte.

Sie ließ nichts aus und erzählte, dass sie versucht hatte, die beiden, Peter und Tina miteinander bekannt zu machen auf dem Friedhof. Aber dass so etwas dabei herauskam, das hätte sie nicht gedacht.

»Aber wie konntest du das zulassen?«, fragte Marie empört.

»Die Menschen machen aus guten Situationen ungute, weil sie die positiven Seiten manchmal nicht sehen. Ich habe eine gute Situation geschaffen. Die beiden haben getrauert, und beide waren in derselben Lage. Die zwei hätten sich gegenseitig trösten können.«

»Das hast du gut gedacht«, meinte Martha, »aber mit Peter geht so etwas gar nicht. Er ist sehr eigenwillig und tut, was er für richtig hält. Ihr habt es ja gesehen.«

Marie schnaubte: »Das ist ja ein widerlicher Kerl. So ein schlimmer ...« Martha unterbrach sie.

»Nein, er ist im Grunde ganz weich. Er lebt für seine Arbeit. Deshalb haben wir uns auch auseinander gelebt. Ich war aber auch nicht besser und war auch lieber in der Nähstube als zu Hause.

Peter hat mir nie etwas Böses getan. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Bei unseren seltenen gemeinsamen Mahlzeiten fragte er mich immer um Rat, denn meine Meinung war ihm wichtig. Dass er Tina geschubst hat, das bereut er sicher heute sehr. Ich weiß das, aber er wird es niemals zeigen können.

Wenn ich noch leben würde, dann wäre er schon längst bei mir in der Boutique gewesen und hätte mir alles erzählt. Und was ich ihm geraten hätte, das hätte er auch getan. Weißt du wie es ihm geht?«, fragte sie die Holle.

»Ja, das weiß ich. Es geht ihm nicht so gut. Er vermisst dich ebenso, wie Tina Marie vermisst. Geht hin, ihr zwei und schaut es euch an. Ihr lasst mir doch keine Ruhe. Tina liegt im Klinikum Roderstadt, Privatstation, Nummer acht.«

Schon waren die beiden Seelen in der Klinik. Tina lag mit rotgeweinten Augen im Bett und hatte ein scheußliches Nachthemd an. Sie rief nach Marie. Diese nahm ihre Hand und tätschelte sie.

Sie hörte Tina sagen: »Sieh nur Marie, was die aus mir gemacht haben. Dieser verdammte Dr. Weber. Ich bin hier ganz allein. Keiner kann mir was zum Anziehen bringen, keiner kümmert sich um mich, und mein Fuß tut auch weh. Wenn du doch bloß hier wärst.« Marie schaute Tina erstaunt an.

»Martha, sie kann mich sehen. Tina, siehst du mich?«

»Nein«, sagte Martha, »sie kann dich nicht sehen.«

»Aber sie spricht doch zu mir.« Martha schüttelte den Kopf.

»Sie spricht zu der Orchidee. Und darin sieht sie dich.«

Marie bekam auf einmal ein Leuchten im Gesicht, wovon alle Lichtwesen nur träumen konnten. Sie sah ihre Kinder, ihre Züchtung. Die mit den Augen. Oh wie wunderschön sie waren.

»Tina, woher hast du die?« Sie zeigte Martha ihr Lebenswerk. »Sieh mal, die habe ich gezüchtet. Sind die nicht toll?«, fragte sie ihre Freundin. Martha musste zugeben, dass sie wirklich besonders schön waren.

»Oh Martha, was können wir bloß machen? Wie können wir Tina helfen? So geht es nicht weiter.« Eine Schwester brachte Tina den Nachmittagskaffee und fragte, ob sie noch etwas bräuchte. Tina schüttelte nur den Kopf.

»Schau mal Marie, es gibt Marmorkuchen. Den mochtest du doch auch immer so gerne.« Sie hielt den Teller mit dem Kuchen in Richtung der Orchidee. Marie versuchte, ob sie den Kuchen berühren konnte, aber es ging nicht. Sie setzte sich auf die Bettkante und schaute Tina beim Essen zu.

Martha meinte, dass sie mal nach ihrem Mann sehen wolle und war auch schon weg. Was hatte Peter mit Tina gemacht? Das wollte sie nun rausfinden.

Ach Tina, ich wusste doch, dass etwas nicht stimmt, dachte Marie. Niemals hätte ihre beste Freundin einen selbst gemachten Kranz so achtlos fort geworfen.

Das Tablett wurde wieder abgeholt, und Tina war wieder alleine. Jedenfalls dachte sie das. Sie hob das Oberbett etwas an und schaute an sich herunter. So ein Nachthemd! Sie wollte nun noch mehr als vorher wieder nach Hause. Es klopfte an die Tür, und eine Schwester kam mit einer Tüte herein. Sie lächelte fröhlich und meinte, dass sie was eingekauft hätte und so sehr hoffen würde, dass es das Richtige wäre.

Tina öffnete die Plastiktüte und holte zwei Nachthemde hervor, einen Jogginganzug und Unterwäsche. Dann war noch in einer kleineren Tüte Zahnbürste, Seife, Haarshampoo und Zahnpasta. Sie hätte ja lieber Schlafanzüge gehabt, aber besser als dieses Totenhemd war es allemal.

An dem Jogginganzug hing ein rotes Schild.

Sonderangebot. 29.90 Euro. Na ja, aber besser als nichts. Sie wollte auch nicht undankbar sein.

»Wie viel Geld bekommen Sie nun von mir?«, frage Tina. Die Schwester winkte ab.

»Ist alles schon bezahlt. Dr. Bergheim hat mir das Geld mitgegeben. Gefällt es Ihnen denn?«

»Ja«, meinte Tina, »es ist ganz wunderbar. Können Sie mir helfen, dass ich dieses scheußliche Zeug ausbekomme?«

»Ja, natürlich«. Sofort machte das Mädel sich daran, die Schleife des OP-Hemdes aufzumachen.

»Woher wussten Sie denn meine Größe?«, fragte Tina. Die Schwester freute sich ganz offensichtlich.

»Die hat mir Dr. Bergheim gesagt. Er meinte, das könnte wohl stimmen.« Alles passte perfekt. Tina lächelte.

»Das haben Sie ganz toll eingekauft. Vielen herzlichen Dank. Und alles war so günstig!«

Sie öffnete ihre Geldbörse und gab dem jungen Mädchen fünf Euro. Sie wollte sie zunächst nicht annehmen, aber Tina bestand darauf. Das war ihr die Sache ganz bestimmt wert.

Wenn auch nicht alles ihrem Geschmack entsprach, so war es doch im Moment die schönste Kleidung der Welt. Ob sie ihm auch wohl gefallen würde?

Lächelnd schaute Tina an die Decke. Marie rümpfte die Nase. Was hat die denn?, dachte sie. Noch immer lächelnd legte sich Tina in die Kissen zurück und schlief ein. Marie konnte gar nicht verstehen, dass sich ihre Freundin über diese Klamotten so sehr freuen konnte. Sie waren schrecklich! Nun ja, von einem Dr. Bergheim wusste sie ja auch nichts.

Marie ging hinaus auf den Flur und schaute nach, wo denn wohl ihre Freundin abgeblieben war.

Sie ging in den nächsten Flur und entdeckte dort eine Tür mit dem Schild »Dr. Weber. Chefarzt. Neurologie.«

Ja, das musste er sein.

Als Marie eintrat, da sah sie, dass Martha in einem sehr bequemen Sessel Platz genommen hatte. Ihr Lichtschatten spiegelte sich im Leder des Sessels wider.

Sie war damit beschäftigt, ihr Foto anzustarren. Ihr Mann war offensichtlich nicht da.

»Was tust du da?«, fragte Marie.

»Sei still. Ich muss das Foto umkippen. Ich muss ihn dazu bringen, die ganze Geschichte zu erzählen. Was ist hier denn bloß passiert? Wenn er das Foto anfasst, wird er vielleicht was sagen.« Sie setzte ihre ganze Energie ein, aber es wollte nicht klappen.

»Ich mache mit«, sagte Marie.

»Bei drei versuchen wir es. Eins, zwei, drei.«

Und tatsächlich fiel der schwere Fotorahmen mit ihrem Bild um. Es dauerte eine ganze Weile, bis Peter sein Zimmer wieder aufsuchte. Sofort sah er, dass das Bild umgefallen war.

»Wer war denn an meinem Schreibtisch?« Er schaute nach, ob etwas angerührt wurde, aber alles war wie vorher. Er stellte das Bild wieder an seinen Platz.

»Mensch Peter, nimm es wieder hoch. Erzähle mir, was hier los ist. Was ist mit Tina passiert? Was hast du mit ihrem Fuß zu tun. Rede!«

Peter schaute auf das Foto seiner verstorbenen Frau.