... denn alles ist Vorherbestimmt

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3.

Wieder und wieder schaute Tina die DVD vom letzten gemeinsamen Urlaub mit Marie an. Wie lebendig sie doch war! Noch immer konnte Tina es nicht glauben. Sechs Wochen sind es her. Sechs Wochen ohne Marie.

Marie, wo bist du nur? Wenn ich bloß wüsste, dass es dir gut geht.

Ein großes Foto von ihr stand auf ihrem Nachtschrank. Oft ging sie Frau Heidemann besuchen. Maries Mutter fand Trost bei einem älteren Priester. Dieser war Holländer und hatte immer die richtigen Worte des Trosts. Vielleicht sollte Tina auch mal zu ihm gehen. Auch wenn sie nicht zu seiner Gemeinde gehörte, so wusste sie, dass er auch Menschen hilft, die er noch nie gesehen hat.

Fast jeden Abend hatte sie mit Marie telefoniert. Sie sahen sich auch täglich bei der Arbeit, aber es gab so viel Privates zu bequatschen.

Marie hatte bis zu ihrem Tod in Roderstadt gewohnt, 55 km entfernt von Negnil. Tina wohnte hier schon seit zwei Jahren. Damals war sie zu Markus gezogen, und die beiden hatten sich dann eine größere und doch günstige Wohnung gemietet. Sicher, der Weg zur Arbeit war weit, aber die Liebe lässt alle Wege kurz werden.

Markus war ein schöner Mann, so gut gebaut und so liebevoll. Ein richtiger Frauenversteher.

Das fand wohl auch seine Nachbarin Katrin. Dass die beiden eine Liaison hatten, das hatte Tina nicht gewusst und wohl auch nicht sehen wollen.

Eines Tages war sie mit Marie zum Schoppen verabredet. Sie gingen in ein wundervolles Schuhgeschäft und Tina probierte ein paar schwarze high heels an. Sie bückte sich und – ratsch! Der enge Rock platzte an der Seite auf. Peinlich! Marie lachte laut.

»Oh nein«, sagte sie, »das kann doch nicht sein. Das kann doch nur dir passieren! Wie kann man nur solch piekfeine Sachen beim Schoppen tragen.«

Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Es nützte nichts. Sie mussten nach Hause fahren, damit Marie sich umziehen konnte. Tina duckte sich hinter einem Regal, während Marie ihr, immer noch lachend, eine Einkaufstüte zum Verstecken des Risses holte. Die Schuhe mussten warten.

Zu Hause angekommen blieb Marie im Auto sitzen, da gerade ein schönes Lied im Radio lief.

Verträumt lehnte sie sich zurück und summte mit: »Nights in white satin.....«, während Tina hastig im Haus verschwand. Kreidebleich und schwankend kam sie zurück.

Sie stammelte irgendwas und Marie wusste nicht, was ihre beste Freundin dort so Schockierendes gesehen hatte. Und schon kam die Aufklärung: Diese Katrin von nebenan kam aus dem Haus und knöpfte sich ihre Bluse zu. Dann tauchte Markus in der Tür auf und lief mit erhobenen Händen auf Tina zu und meinte, dass doch alles nicht so wäre wie es nun aussähe.

Tina schlug ihm ins Gesicht und schrie, dass er verschwinden solle. Sie wollte ihn nie wiedersehen.

Sie stieg zu Marie ins Auto und endlich kamen die Tränen. So ein Schuft! Marie schlug vor, dass Tina mit zu ihr kommen sollte, aber so einfach würde sie das Feld nicht räumen. So ein gemeiner Kerl!

Nach einiger Zeit gingen die beiden Frauen dann ins Haus und gossen sich erst mal einen Cognac ein. Im Magen breitete sich sofort eine wohlige Wärme aus. Marie sagte zu Tina, dass sie diesen Windhund noch nie leiden konnte. Aber das war kein Trost. Sie liebte Markus und diese Situation tat so weh. Er stand nun in der Tür wie ein begossener Pudel und bat Marie zu gehen.

»Marie bleibt!«, schrie Tina und putzte ihre rote Nase.

»Du gehst!«

»Tina bitte. Lass uns doch reden. Ich weiß ja, dass es ein Fehler war. Es war ja nur einmal und es tut mir so leid. Sie hat mich völlig überrumpelt. Bitte Tina.«

Marie zog es vor zu gehen. Sie merkte, hier war sie im Weg. Sie sagte Tina, dass sie am Abend anrufen würde, und sie zu jeder Zeit bei ihr willkommen wäre.

Die beiden Frauen umarmten sich innig, und Marie fuhr los. Am liebsten hätte sie dem Blödmann eine runtergehauen, aber es war gut, dass sie es nicht getan hatte. Dieses musste Tina alleine entscheiden. Und wie sie entschied, das war dann für Marie okay.

Als sie am Abend anrief, hatte Tina noch einige Cognac auf und lallte, dass der Fremdgänger im Wohnzimmer auf dem Sofa liege und sie im Bett. Nie mehr würde sie mit ihm reden. Nie!

Aber dennoch war am nächsten Tag eine Aussprache. Tina ging es sehr schlecht. Entweder vom Alkohol oder von dem Anblick der Sexpraktiken. Sie wusste es nicht.

Markus versprach hoch und heilig, dass er diese Frau nie wiedersehen wolle. Er würde doch nur Tina lieben und dass er mit ihr alt werden möchte.

Nur zu gern wollte sie dieses glauben, aber sauer war sie noch immer. Am Abend musste er wieder aufs Sofa. Aber er war noch da, und das wunderte sie selber.

Tina bat Marie, die zwei Mal angerufen hatte, sie doch bitte bei der Arbeit krank zu melden. So konnte sie unmöglich die Kunden bedienen. Markus ging zu seiner Arbeit, und Tina konnte sich ganz ihrem Selbstmitleid hingeben. Sie saß stundenlang am Fenster und grübelte über ihre Zukunft nach. Wie gerne würde sie Markus verzeihen. Wie gerne!

Und dann sah sie plötzlich die Ursache des ganzen Übels aus dem Nachbarhaus kommen. Diese widerliche Person, die ihr ganzes Glück zerstören wollte.

Tina stürzte aus dem Haus auf die erschrockene Frau zu.

»Kannst du dir keinen eigenen Kerl suchen!«, schrie sie.

»Wage dich bloß nie mehr in die Nähe meines Markus. Verschwinde von hier. Du hast mein Leben zerstört. Markus will nie wieder was von dir hören!«

Diese Katrin schaute betreten zu Boden und meinte: »Das wird schlecht machbar sein. Ich bin im 3. Monat schwanger. Markus ist der Vater.«

Da sackte Tina der Boden unter den Füßen weg.

Markus zog noch am gleichen Tag aus. Er hatte mit Tina kein Wort mehr gewechselt. Anscheinend wusste er schon alles von Katrin. Er holte am Abend seine Sachen und kam nie wieder.

Vier Wochen später sind sie dann aus Negnil weggezogen, hatten gute Bekannte Tina erzählt. Aber ihr war es egal. Es tat so weh!

Zuerst wollte Tina wieder nach Roderstadt ziehen, aber sie hatte die Wohnung so hübsch eingerichtet, und hatte dort eine wundervolle Kräuterküche. Es gab hier wunderschöne Wiesen, und die Heilkräuter sammelte sie im Morgentau. Sie verarbeitete sie zu Tees oder Salben. In ihrem kleinen Garten wuchsen Salbei und Thymian, Ringelblumen und Kapuzinerkresse und so vieles mehr.

Viele Leute kamen zu ihr, wenn sie etwas für ihre Gesundheit benötigten. Geld nahm sie nicht dafür. Sie bat die Leute, ihr kleine Tiegel und Fläschchen zu bringen. Das taten sie gern und brachten ihr Marmelade, Honig, Kuchen oder selbstgebackenes Brot. Alles hätte so schön sein können.

Noch schlimmer als der Betrug von Markus war aber der Tod von Marie.

Sie, Tina Braune, 42 Jahre alt, war ein Verlierer. Sie verlor immer alles.

Am besten ist es wohl, wenn man kein großes Glück mehr erlebt. Je höher man steigt, umso tiefer fällt man dann, dachte sie.

Tina hatte Stiefmütterchen gekauft, die sie auf das Grab ihrer verstorbenen Freundin pflanzen wollte. Blaue und gelbe hatte sie ausgesucht. Die kleinen Gesichter der Blüten schauten sie an.

Sie streichelte sie und sagte: »Wir fahren zu Marie. Sie wird sich sehr freuen, denn ihr seid wunderschön. Und dann fahre ich zu Frau Heidemann. Es wird ein langer Tag.«

Sie packte eine kleine Schaufel und eine Harke zu den Blumen ins Auto. Eine Kerze hatte sie auch gekauft, und einen kleinen Kranz aus Gundermann, anderen Wildkräutern und Gänseblümchen hatte sie gebunden. Frau Heidemann hatte ein Kreuz mit Maries Namen darauf bestellt. Ob es wohl schon da war? Dann würde sie den Kranz über das Kreuz hängen.

Als Tina in Roderstadt ankam, kam sie an der Orchideengärtnerei vorbei, in der sie und Marie gearbeitet hatten. Nach Maries Tod hatte sie gekündigt, denn sie konnte dort nicht mehr sein und wusste, dass jede Orchidee eine Züchtung von Marie war. Manchmal waren die beiden Freundinnen sogar zusammen im Treibhaus und hatten pikiert oder getopft. Diese Arbeit von Marie hätte Tina auch weiter machen können, hatte ihr der Chef, Herr Kisten, angeboten. Er sah auch selber ein, dass sie mit dem verheulten Gesicht nicht hinter der Verkaufstheke stehen konnte.

Aber Tina konnte hier nicht mehr sein. Sie war zum Arbeitsamt gegangen und hatte sich arbeitslos gemeldet. Ihr Chef war so freundlich und hatte ihr eine Kündigung gegeben, sodass sie sofort Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte.

Tja, dachte sie, schon wieder etwas verloren. Aber sie hatte das Angebot, zu jeder Zeit wieder anfangen zu können. Für Tina einen Ersatz zu bekommen, war nicht so schwer. Wenn jemand Blumen liebt und ein Händchen dafür hat, dann macht es Freude, und die Arbeit ist schnell erlernbar. Aber Marie im Labor zu ersetzen, das war sehr schwer. Sie hatte selbst einen Nährboden entwickelt, und jeder Same ging auf.

Sie bestäubte die Mutterpflanzen mit so viel Liebe, als wären es ihre Kinder, die hier auf die Welt kommen sollten.

Vor ein paar Monaten hatte Tina versehentlich eine Mutterpflanze verkauft. Marie hatte sonst immer ein Schild an ihren Prachtexemplaren angebracht. Aber hier hatte sie es vergessen. Gott sei Dank kannte Tina die Kundin und holte die wertvolle Pflanze, die schon viele Samen gebildet hatte, wieder. Noch am Tag vor Maries Tod hatten die beiden herzlich darüber gelacht.

Beim Anblick ihres Blumenladens kamen ihr schon wieder die Tränen.

Leise sang sie vor sich her: »All kinds of everything reminds me of you«. Sie schnäuzte sich die Nase und wischte sich die Augen. Immer dieses Heulen. Schluss damit! Jammern bringt sowieso nichts.

 

Buddha sagt: »Verweile nicht in der Vergangenheit, träume nicht von der Zukunft. Konzentriere dich auf den gegenwärtigen Moment.«

Jawoll, das wollte sie nun auch tun.

Als sie beim Friedhof ankam, bekam sie einen guten Parkplatz direkt neben dem schönen schmiedeeisernen Tor. Gut, dann brauchte sie wenigstens nicht so weit zu laufen mit ihrer Kiste mit den Stiefmütterchen darin.

Sie stellte alles auf den Bürgersteig, was sie zum Grab mitnehmen wollte, schloss ihr Auto ab und ging die Wege durch die gepflegten Gräber entlang. Schon von weitem sah sie den Baum, wo sich das Grab ihrer allerbesten Freundin befand.

Erstaunt stellte sie fest, dass ein Mann bei Maries Grab am Arbeiten war. Er trug einen dunklen Mantel und hatte dunkles, schütteres Haar. Aber als sie näher kam sah sie, dass er bei dem Grab neben dem von Marie beschäftigt war.

Sie sagte: »Guten Tag« zu dem Mann, aber der reagierte nicht.

Auch gut, dachte Tina, dann eben nicht. Das Kreuz mit Maries Namen war bereits da. Wunderschön sah es aus.

Schnell pflanzte Tina die blauen und gelben Blumen ein. Es wurde Zeit, denn sie waren schon fast eine Stunde im Auto. Sie wollte sich eine Gießkanne holen, damit die durstigen Pflanzen auch anwachsen konnten. Aber an so einem warmen Tag waren alle Friedhofskannen in Gebrauch. Tina hatte zwei Kannen zu Hause. Hätte sie doch nur eine mitgenommen!

4.

Tina ging zurück zu dem Grab und sah, dass der Mann, der bei dem Nachbargrab war, zwei Gießkannen vor dem Grab stehen hatte. Er drapierte gerade einen großen Blumenstrauß in einer silbernen Vase.

Tina fragte ihn höflich, ob sie wohl eine Kanne nehmen dürfe, denn es sei keine an dem Haken bei den Wasserhähnen.

»Nein!« Das war das einzige, was der Mann ihr in einem frechen Ton ins Gesicht schleuderte.

Marie blieb die Luft weg. Das war ja wohl die Höhe! Die Kannen waren Eigentum des Friedhofs und nicht seine. Der konnte doch nicht einfach zwei nehmen, und sie hatte keine!

Tina wurde sauer.

In demselben Ton wie der von ihm blaffte sie: »Sie haben zwei Wasserkannen und ich keine. Was bilden Sie sich ein?«

Sie ging zu einer gefüllten Plastikkanne und nahm sie ihm einfach weg.

Zunächst bemerkte es der Mann gar nicht. Er war wohl in Gedanken vertieft.

Aber als er aufschaute schrie er: »Das ist ja eine Frechheit! Sofort geben Sie mir das Wasser!«

Tina goss einfach weiter.

Der Mann im schwarzen Mantel kam mit einem Satz auf sie zu und schubste heftig gegen ihre Schulter. Sie stolperte über die Grabeinfassung, schlug mit dem Knöchel auf die spitze Kante und fiel auf den Weg vor Maries Grab.

Die Gießkanne flog auf das Grab, und das Wasser spritzte auf Tinas Blazer.

Der Mann nahm die leeren Kannen und ging noch mal Wasser holen, ohne Tina aufzuhelfen. Sie rappelte sich hoch, und ein bestialischer Schmerz durchzuckte ihren Fuß. Sie setzte sich auf die Grabumrandung und Tränen stiegen ihr in die Augen. Es tat so weh!

Vorsichtig zog sie ihre Sandale aus und dann das dünne Söckchen. Der Mann war mittlerweile zurückgekommen und ignorierte Tina. Endlich waren Schuh und Socke aus. Ein Seufzer des Entsetzens kam Tina über die Lippen.

Ihr Fuß war ein einziger Klumpen und feuerrot! Am Knöchel blutete es. Nun wurde der Mann auf den geschwollenen Fuß aufmerksam und begriff endlich, was er da angerichtet hatte.

»Das habe ich nicht gewollt«, stammelte er. »Bitte verzeihen Sie.«

Tina wollte aufstehen, denn dass dieser arrogante Typ nun auch noch auf sie herab blickte, das war zu viel.

Er wollte ihr helfen, aber Tina zischte: »Wehe, Sie fassen mich an, Sie Verbrecher! Gleich schlagen Sie mir auch noch die Harke über den Schädel!«

Das Aufstehen ging nicht, und sie jammerte und stöhnte vor Schmerz. So sitzenbleiben konnte sie auch nicht. Tina war völlig verzweifelt. Nicht mal ein Taschentuch hatte sie.

Der Mann bemerkte dieses und gab ihr ein weißes Stofftaschentuch. Tina schnäuzte sich sofort die Nase und wischte sich die Tränen ab. Was sollte sie bloß tun? Das Telefon lag im Auto. Aber wen sollte sie denn auch anrufen? Vielleicht ihren ehemaligen Chef?

Der Mann sagte nun leise zu Tina: »Mein Name ist Peter Weber. Ich bin Arzt. Bitte lassen Sie mich doch nach Ihrem Fuß sehen. Bitte!«

»Arzt? Sie sind Arzt? Das darf ja wohl nicht wahr sein. Ärzte heilen, aber sie verletzen doch nicht!«

Aber was blieb ihr schon übrig? Widerwillig und ganz vorsichtig streckte sie ihm den geschwollenen Fuß hin. Und erneut durchzuckte sie ein schneidender Schmerz.

»Ich werde einen Krankenwagen rufen. Er muss geröntgt werden. Ich vermute, Ihr Außenknöchel ist gebrochen.«

Tina schaute ihn mit offenem Mund an. Krankenwagen?

»Nein«, sagte sie. »Das geht nicht. Ich muss das hier noch fertig machen.«

Sie zeigte auf die Kerze und die Blumen.

»Und ich muss mir eine Gießkanne holen, sonst können die Blumen nicht anwachsen. Danach muss ich zu der Mutter meiner verstorbenen Freundin.«

Tina schluchzte bitterlich. »Gehen Sie weg! Lassen Sie mich in Ruhe!«

Sie wollte ihre Sandale wieder anziehen, aber die passte nicht mehr.

Tina verzweifelte immer mehr.

»Was soll ich denn bloß tun? Wie komme ich zu meinem Auto?«, fragte sie sich selber. Der Mann im dunklen Mantel fuhr sich nervös durchs Haar.

»Sie können mit dem Fuß kein Auto fahren. Bitte lassen Sie sich doch helfen.«

Tina sah ein, dass es keinen anderen Ausweg gab. Sie nickte unter Tränen, und der Mann holte sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.

»Hallo Andreas«, sagte er, »schicke mir bitte einen Rettungswagen. Wenn es geht, dann komme auch mit. Ich habe etwas Schlimmes getan. Ich habe eine Frau verletzt. Bitte hilf mir. Ja. Ja. Ich erkläre es dir nachher. Auf dem Friedhof. Bitte kommt zum Grab meiner Frau. Nein, sie kann nicht laufen. Ich denke, es ist eine distale Fibulafraktur. Ja, gut. Ich danke dir. Bis gleich.«

Er nahm die Gießkannen und stellte sie vor Maries Grab.

»Ich werde Ihren Blumen reichlich Wasser geben und auch die Kerze anzünden. Wir müssen das Bein hochlagern.«

Er zog seinen Mantel aus und wickelte ihn dann umständlich um Tinas Blumenkiste.

»Versuchen Sie, das Bein dort hinauf zu bekommen.«

Aber es war, als ob jemand mit einem Messer in den Fuß stach. Es ging nicht, obwohl sie sich die größte Mühe gab.

In der Ferne hörten sie nun schon die Sirene des Krankenwagens.

5.

Als die Sanitäter mit einer Krankenliege den Friedhof betraten, folgten die Besucher des Friedhofs den Männern. Tina sah die Prozession, und ihr wurde fast schlecht.

Und dann sah sie ihn: Ein Bild von einem Mann! Der Wahnsinn!

Schnell bemerkte sie, dass er der Arzt war, mit dem der Verursacher des Schlamassels telefoniert hatte. Er kniete sich vor Tina und ihr Herz schlug so laut, dass er es bestimmt hören musste. Sie hätte sich am liebsten in seine Arme gelegt, aber das ging natürlich nicht.

Eine Passantin sagte: »Oh Gott, was ist denn bloß passiert? Und so was auf dem Friedhof!« Tina platzte fast der Kragen.

»Ja, stellen Sie sich mal vor«, zischte sie, »ich bin umgeknickt und habe einen dicken Fuß. Schade, dass nicht mehr passiert ist. Machen Sie doch gerne ein Foto, dann haben Sie beim nächsten Kaffeekränzchen was zum Zeigen. Und lassen Sie doch bitte das Kind da hinten nach vorne. Es sieht ja gar nichts!«

Der göttliche Notarzt lächelte und zeigte ihr seine makellosen, weißen Zähne. Ist der Mann schön, dachte Tina.

Die Menge löste sich schnell auf. War ja nichts Schlimmes geschehen, und man wollte ja auch nicht neugierig erscheinen.

Der Notarzt stellte sich nun vor: »Mein Name ist Dr. Andreas Bergheim, und ich bin Orthopäde im Klinikum Roderstadt. Dr. Weber hatte mich angerufen. Ich schaue mir Ihren Knöchel nun mal an.« Seine Hände fühlten sich wunderbar kühl an auf ihrem heißen Fuß.

»Tja«, meinte er stirnrunzelnd, »das sieht gar nicht gut aus. Wir müssen Sie mitnehmen und röntgen, da geht kein Weg dran vorbei. Ich gebe Ihnen nun erst mal ein Schmerzmittel und Dr. Weber kühlt den Fuß.«

Er drückte dem ratlos dreinschauenden Mann einen Gelverband in die Hand, die dieser vorsichtig um Tinas Fuß legte. Sie wollte das Bein schon zurückziehen, aber der Schmerz hinderte sie daran. Sofort wurden durch die Kühle die Schmerzen etwas besser. Dr. Bergheim zog eine Spritze auf und schob sanft ihren Rock hoch.

»“Es piekt jetzt ein wenig«, sagte er, aber die Spritze merkte sie kaum. Diese Hände! Sie würde sich hundert Spritzen von ihm geben lassen und sich tausendmal den Rock hochschieben lassen..

Die Liege wurde auf den Boden gelassen, und Tina wurde von den Sanitätern vorsichtig darauf gelegt. Ihr Fuß wurde hochgelagert und umwickelt.

Nun erst konnte Tina wieder reden: »Ich kann nicht mitkommen. Ich muss zu Frau Heidemann. Sie wartet auf mich. Und dann.... Mein Auto steht doch noch hier.«

Tina fing wieder zu weinen an. Sie schnäuzte erneut in das Taschentuch von Dr. Weber, der ihr sagte, dass er alles erledigen würde. Er wechselte noch ein paar Worte mit seinem Kollegen und dann brachten die Sanitäter sie zum Krankenwagen. Der Schmerz war nun auszuhalten.

Tina hoffte sehr, dass der Adonis auch mitfahren würde. Aber er bat sie, ihm ihre Autoschlüssel zu geben, weil er den Wagen vor der Klinik abstellen würde.

Das war eine gute Idee, dachte Tina, gab ihm die Schlüssel und richtete sich etwas auf, um ihm ihren Kleinwagen zu zeigen.

»Okay«, meinte er, »das kriegen wir hin. Wir sehen uns dann gleich.«

Er tippte Tina auf die Nasenspitze. Es durchströmte sie wieder ein wohliges Kribbeln. Er würde in ihrem Auto sitzen. Wow!

Im Krankenwagen maß einer der Sanitäter Tinas Blutdruck. Er sagte ihr, dass er sehr hoch sei, was aber bei der Aufregung kein Wunder wäre.

Als sie das Krankenhaus erreichten, fuhren sie in den Keller, und eine Schwester erwartete sie bereits. Tina wurde durch den kalten Flur zum Fahrstuhl gerollt und in die Notaufnahme gefahren.

Die Schwester war sehr freundlich und fragte Tina, ob sie ihre Versichertenkarte dabei habe. Hatte sie natürlich nicht, denn alles lag ja im Auto. Sie fragte dann nach ihrem Namen und dem Geburtsdatum und Tina sagte es ihr. Dann fragte sie nach Krankheiten. Ob sie Medikamente nehme, ob sie rauche oder Alkohol trinke und ob sie im letzten halben Jahr geröntgt wurde. Tina konnte alles verneinen.

Auf die Frage, ob sie schwanger sei, musste sie lächeln. Was hatte das denn wohl mit dem gebrochenen Fuß zu tun? Aber Schwester Anna sagte ihr, dass es Probleme wegen dem Röntgen geben könne, wenn sie schwanger wäre.

Nein, schwanger war sie definitiv nicht und würde sie auch nicht mehr werden. Sie war doch schon 42 Jahre alt. Und von wem denn auch?

Ihr wurde nun der Verband abgenommen, und ihr dicker Fuß wurde auf eine Platte platziert. Drei Mal wurde er geröntgt und Tina war froh, dass es vorüber war und sie den Fuß wieder in eine Position bringen konnte, die ein wenig angenehmer für sie war.

»Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?«, fragte Schwester Anna Tina nun. Jetzt wurde ihr klar, dass sie hungrig war.

»Heute früh nur einen Zwieback und 2 Becher Kaffee. Ich war den ganzen Tag im Stress. Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie das fragen.« Die Schwester lächelte und meinte, dass sie dafür sorgen würde, und sie gleich etwas zum Essen bekäme.

»Kann das so wieder zusammen wachsen?«, fragte Tina.

»Es kommt gleich Dr. Bergheim und bespricht alles mit Ihnen.«

»Würde er mich dann operieren, wenn es sein muss?«, fragte Tina erwartungsvoll.

Die Schwester nickte.

»Das denke ich mal. Sonst hätte er einen anderen Arzt geschickt. Dr. Bergheim ist ein sehr guter Arzt. Sie sind bei ihm in den besten Händen«.

Ja. Das war sie mit Sicherheit.

»Nun muss er wegen mir Überstunden machen, was? Seine Frau wird sich dafür bedanken.«

 

»Nein, nein. Der hat noch lange keinen Feierabend. Und eine Frau hat er auch nicht. Also haben Sie bloß kein schlechtes Gewissen.«

Perfekt! Das hatte sie wissen wollen. Er war Single, und sie schenkte Schwester Anna ein freundliches Lächeln. Alles war schon nicht mehr so schlimm.

Und dann kam er auch schon hereingeweht. Mit offenem Kittel und fantastisch gekleidet. Er hatte ihre Handtasche aus dem Wagen mitgebracht und gab ihr auch den Autoschlüssel.

»Alles zur vollsten Zufriedenheit erledigt, gnädige Frau«, sagte er und schaute auf den Fuß.

Tina bedankte sich und steckte die Schlüssel in die Handtasche.

»Oh, oh, oh«, meinte er dann, »da hat der Herr Chefarzt aber ganze Sache gemacht. Haben Sie schon jemandem erzählt, wie es heute zu dem Unfall gekommen ist?«, fragte er sie.

»Nein«, meinte sie, »es hat mich noch niemand danach gefragt. Wieso?«

»Wenn Sie mir persönlich einen dicken Gefallen tun wollen, dann sagen Sie es nicht. Dr. Weber hat viel zu verlieren und ist über den Tod seiner Frau immer noch nicht hinweggekommen. Er wird für alles aufkommen, das kann ich Ihnen versprechen.«

Tina schaute ihn von unten her an. Hatte der Augen! Natürlich würde sie ihm jeden Gefallen tun. Er war ja auch nicht schuld. »Nein, ich werde sagen, ich sei auf die Kante der Grabeinfassung gestürzt. Bin ich ja auch irgendwie. Es wurde nur ein wenig nachgeholfen. Na ja, ein wenig ist untertrieben. Bringen Sie das wieder in Ordnung?«

Er streichelte ihr Knie.

»Ja, ich werde alles tun, damit Sie später Marathon laufen können.«

»Huch«, meinte Tina mit einem verschmitzten Lächeln, »Sie können Wunder vollbringen? Das konnte ich vorher nicht.«

Sie öffnete ihre Handtasche und gab Dr. Bergheim ihre Krankenversichertenkarte.

»Die wollte Schwester Anna von mir haben. Können Sie sie ihr geben?«

»Klar, mache ich gleich. Oh, da kommt sie ja. Hier Anna, die KV-Karte von Frau Braune. Und informiere bitte Stefan, dass er ihr die Gipsschiene anlegt. Danach kommt sie auf die Privatstation.«

Schwester Anna schaute auf die Versichertenkarte und fragte, ob sie wirklich auf die Private solle. Der Arzt nickte ihr zu, und sie ging in das Nebenzimmer.

»Bekomme ich nun einen Gips?«, fragte Tina erwartungsvoll. Dr. Bergheim nickte.

»Ja, das wird sich wohl nicht vermeiden lassen.«

»Nein, nein«, meinte Tina, »ich freue mich ja darüber. So brauche ich wenigstens nicht operiert werden. Das ist doch super, wenn es im Gips wieder heilt.«

Betreten schaute Dr. Bergheim nun zu Boden.

»Das wäre schön. Aber wir werden wohl um eine OP nicht herum kommen.

Der Knöchel ist völlig zertrümmert. Wir müssen ihn mit Draht und Schrauben wieder herrichten, damit er wieder zusammenwachsen kann. Dieses wird dann später wieder entfernt.«

»Und warum operieren Sie nicht jetzt, bevor ich den Gips bekomme?« fragte Tina.

»Das täte ich ja gerne, aber die Schwellung ist zu stark. Wir müssen erst mal sehen, dass der Fuß wieder ein Fuß ist und kein Fußball. Bitte vertrauen Sie mir. Ich mache alles so, dass es für Sie gut ist. Vertrauen Sie mir?« Tina nickte.

»Ja«, hauchte sie, »bedingungslos.«

Wieder ein anderer Mann im weißen Kittel erschien und nahm sie mit. Er stellte sich als Stefan Luger vor und meinte, dass er ihr zartes Füßchen mit einer Schiene verzieren würde. Wie witzig, dachte Tina und sagte kein Wort.

»Wie ist denn das passiert?«, fragte er nun.

»Sie waren wohl vor den hübschen Männern auf der Flucht und sind dabei gestürzt. Hahahahaha.«

»Nein«, meinte Tina, »so war es nicht. Ich habe einen Mann, der blöde Kacke geredet hat, in den Hintern getreten und bin stecken geblieben!«

So ein Blödmann! Aber anstatt nun die Klappe zu halten, lachte er erst recht los. Tina schnaufte wie ein Drache. Als er fertig war, fragte er sie, ob er noch ein Schleifchen drum machen solle.

Sie sagte ihm: »Wenn Sie nun noch ein Wort zu mir sagen, dann trete ich Ihnen mit dem gesunden Fuß sonst wo hin.«

Und wieder fing er schallend an zu lachen.

»Dann müssen wir den ja auch wieder eingipsen, wenn Sie richtig treffen!«

Endlich kam die Schwester wieder und holte sie ab. Tina fragte sie, was das denn für einer wäre. Es sei ja kaum auszuhalten mit dem.

»Ja«, lachte diese, »Stefan ist etwas speziell. Aber er ist ein ganz netter. Er will mit seinen coolen Sprüchen die Schmerzen der Patienten übertünchen.«

»Stimmt«, meinte Tina nun, »an meine Schmerzen habe ich gar nicht mehr gedacht. Hab mich nur über den aufgeregt.«

Nun war sie wieder besänftigt.

Tina wurde auf ihr Zimmer gebracht. Es war ein sehr schöner Raum mit Blick auf den Park. Zwei Krankenpfleger hoben sie von ihrer Liege in ein weiches, wohliges Bett. Die Bettwäsche hatte ein Muster aus lauter kleinen Wildblüten. Woher wissen die bloß, dass ich so etwas mag?, dachte Tina.

Nun wurde ihr Fuß hoch gelagert, und ihr wurde ein Tropf angelegt.

Eine Schwester kam und fragte sie, ob sie einen Wunsch habe. Ja, den hatte sie. Sie wollte etwas schlafen. Sie war todmüde. Aber vorher wollte sie Maries Mutter anrufen, dass sie in der nächsten Zeit nicht kommen könne.

Sie bat die Schwester, ihr ihre Handtasche zu geben und kramte ihr Notizbuch mit den Telefonnummern hervor. Sie wählte die Nummer und Frau Heidemann war auch sofort dran.

»Tina, ich mach mir schon solche Sorgen!«, sagte sie.

»Was ist denn bloß passiert?«

Tina erzählte ihr die ganze Geschichte und dass sie nun im Krankenhaus sei. Noch während des Telefonats kam eine ältere Schwester herein und stellte auf den Nachttisch ein Tablett mit einer köstlich duftenden Käsesuppe und diversen Brotsorten, drei Sorten Marmelade und Butter. Daneben stand ein Kännchen mit Tee.

Tinas Magen knurrte laut, und sie steckte sich ein Stück Brot in den Mund. Dann schloss sie die Augen. Lecker!

Sie verabschiedete sich von Maries Mutter und versprach, sich bald wieder zu melden.

Als alles aufgegessen war, legte Tina den Kopf zurück in das Kissen, dachte an Marie, wo sie denn nun wohl sei und schlief augenblicklich ein.