Pyria

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Ein Funke Menschlichkeit

Bleischwer hing die Antwort in der Luft. Unterwelt. Für einen Moment fragte sich Leén erneut, ob sie wirklich daran glaubte. Es klang noch immer so … unglaublich. Konnte sich tatsächlich ein sagenumwobenes Artefakt in den grausigsten Tiefen aller Welten verstecken? Wie war es dort hingelangt? War es dort nicht vielleicht sogar … sicher?

Am Anfang ihrer Reise – es schien Jahre her zu sein – hatte Gwyn ihr erklärt, dass sie das Orakel suchten, damit es niemand sonst fand und einen neuen Krieg damit anfangen konnte. Die Könige dieser Welt hätten die Beantwortung einer Frage genutzt, um einander zu zerstören. Das hatte einleuchtend geklungen. Auch, dass der Zustand der Bienen ein guter Indikator dafür war, wie es dem Land oder der Welt ging, hatte irgendwie Sinn ergeben. Doch nun? Wenn das allwissende Orakel in der Unterwelt verborgen war, war es doch keine Gefahr, oder etwa doch? Wenn Ebos selbst es hätte benutzen können, wäre es doch längst so weit gekommen, und für die Menschen war es vollkommen außer Reichweite. Nein, sie konnte keinen guten Grund sehen, wieso sie es zurück in die sterbliche Welt bringen sollten.

Zurückbringen. Das klang zuversichtlich, dabei war Leén alles andere als zuversichtlich. Eigentlich schüttelte sich ihr Innerstes allein bei der Vorstellung eines Ortes, der der Inbegriff des Leidens und der Schlechtigkeit war. Der Gedanke, hinabzugehen, wenn es denn einen Weg gab, nur um ein Artefakt zu holen, das besser aufgehoben war, wo es jetzt war … das Licht selbst schien sich zusammenzukrampfen. So wahnsinnig konnte doch nicht einmal der Messerdämon sein, oder?

Da war sie wieder: die Furcht, dass die Gerüchte über Machairi vielleicht doch der Wahrheit entsprachen. Was, wenn er wirklich dunklen Mächten entstiegen war? Gerade erschien nichts unmöglich.

»Ich bin nicht sicher, ob ich lachen oder dich erschlagen möchte«, sagte Gina und warf die roten Locken zurück. »Wenn es da ist, ist es ohnehin verloren. Wir können in aller Seelenruhe nach Hause fahren und den Bienenstock wieder einigermaßen unter Kontrolle bringen. Ich wette, es läuft längst alles aus dem Ruder.«

Vica schnaubte und wiegte Spítha in ihren Händen. » Sind die Tore nicht ohnehin schon seit ein paar hundert Jahren zu?«, fragte sie und schob sich weiter unter ihre Kapuze. Von der Seite konnte Leén ihr Gesicht dadurch nicht sehen, aber sie glaubte, Angst in der Stimme der Naturistin mitschwingen zu hören. Das war viel wert, weil sich ihr eigenes Herz noch immer nicht beruhigen konnte. Immerhin verstand sie nun, weshalb der Schatten nichts gesagt hatte. Er hatte kaum mit Zuspruch rechnen können und unwissend beleidigt war die Gruppe bestimmt einfacher zu manipulieren als wissend und von Angst geplagt.

Korys Blick war ins Nichts geschweift und sie saß stocksteif auf der Bank, was nicht nur ihrer unnatürlich geraden Haltung geschuldet war. Es machte die grausige Angst ertragbarer, wenn man sah, wie auch die anderen erschauderten bei dem Gedanken. Micos abgrundtiefe Abscheu war auf seine Züge zurückgekehrt und Leén erinnerte sich daran, dass er als Magier und als Cecilian vermutlich der Gläubigste von ihnen war. »Ungeachtet der Sage, dass es noch offene Tore geben soll … selbst wenn sich hier eines befindet, hast du nicht vor, uns alle da runter zu zwingen, oder?« Der Cecilian hatte die Hände aneinander festgehalten, aber sie zitterten trotzdem und er schob sie in die weiten Ärmel, um es zu verbergen.

Plötzlich schien sich die ganze Gruppe recht einig zu sein. Nicht weiter überraschend, dass keiner von ihnen auf einen Trip in die Unterwelt brannte. Der Einzige, der eher nachdenklich als verschreckt aussah, war Gwyn und der blickte hauptsächlich weiterhin abwesend auf den Boden. Trotzdem konnte Leén es in seinem Kopf rattern sehen. Vielleicht sah er darin eine Chance, seinen zerstörten Ruf wiederherzustellen und wenn dem so war, hätte sie ihm gerne auf den Kopf gehauen.

Wieder starrten sie alle Machairi an, hoffend, dass er etwas anderes vorhatte, vielleicht sogar einen wild-willkürlichen Plan, um irgendwie anders des Orakels habhaft zu werden. Doch plötzlich fiel Leén wieder ein, was Machairi zu Ila gesagt hatte, und ihr wurde so flau im Magen, dass sie beinahe zwischen die Blüten gekotzt hätte. Ich brauche nur einen Weg zurück. Die Worte erwartend kniff sie die Augen zusammen, als würde das irgendetwas aufhalten, wenn sie es nur nicht länger sehen konnte.

»Nein«, sagte der Schatten schließlich und die schwarzen Augen streiften einmal durch die Runde. »Wir gehen zu dritt«, sagte er und die Harethi musste nicht sehen, um zu wissen, dass seine Augen auf ihr lagen.

»Geht es für die Blinden unter uns vielleicht etwas genauer?«, fragte Vica, die Stimme so triefend vor Sarkasmus, dass man die Befürchtung dahinter deutlich hörte. Beinahe hätte Leén verzweifelt aufgelacht.

»Ich weiß, dass es eine unnötige Frage ist, aber hast du den Verstand verloren?«, fragte Gina und schüttelte den Kopf. »Das ist tatsächlich die unlogischste Wahl überhaupt!« Leén blinzelte und sah, wie die Faust die Hände in die Luft warf und fassungslos den Kopf schüttelte. »Da komm ich ja lieber selbst mit. Willst du dich umbringen?«

Gwyn hatte den Kopf gehoben, er sah vielleicht noch verletzter aus als vorher, weil er nicht einmal für eine Todesmission ausgesucht worden war. Auch Mico hatte sich zwar erleichtert zurückgelehnt, aber die Stirn in Falten gelegt.

Koryphelia selbst sah überrascht und schockiert aus, dass die Wahl auf sie gefallen war, und das erste Mal überhaupt hatte Leén das Gefühl, zu verstehen, was keiner außer Machairi sonst verstand. Sie hatte diese Wahl vollkommen vorausgesehen. Koryphelia und Leén waren die einzigen Personen, die er nicht mitgenommen hatte, weil er sie als Personen schätze oder geschätzt hatte oder sie in Om’falo gebraucht hatte. Für die Prinzessin war er in einen fremden Palast eingebrochen und damit war eigentlich schon klar gewesen, dass er sie für etwas Entscheidendes brauchte, und Leén selbst hatte er von vornherein als Werkzeug benutzen wollen. Sie sah sogar ein, dass Magie, die Licht und Gleichgewicht spenden sollte, in der Unterwelt sehr hilfreich sein konnte. Deshalb biss sie sich nur auf die Lippe und versuchte, das kalte Schaudern zu unterdrücken. Für einen Moment war sie versucht, den Kommentar abzuwerfen, den sonst Gwyn an dieser Stelle gebracht hätte: Ihr wisst doch, wie er ist, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken.

»Hallo?«, fauchte Vica, als alle sich nur ansahen und Sorge, Angst und Fassungslosigkeit ihre Züge zeichneten. Leén presste die Lippen aufeinander. Die seltsame Genugtuung, die Ungläubigkeit mal einmal nicht zu teilen, verschwand binnen kürzester Zeit wieder vollständig und wich grauenvoller Angst. Es fehlte eigentlich nur noch, dass die Dunkelheit sie wieder erschlug, wie so oft, wenn die Angst in ihren Knochen etwas zu groß wurde. Auf dem Schiff, als das gewaltige Seemonster aus den Tiefen gestoßen war, hatte sie sie für einen kurzen Moment zu spüren geglaubt, aber sie war so gebannt gewesen, dass sie sich kaum mehr sicher war, ob es tatsächlich so gewesen war, oder ob sie sich das nur eingebildet hatte.

Wieder musste jemand die Lücke füllen, die Gwyn hinterließ, obwohl er mitten in ihrer Runde saß. Leén schluckte und hoffte, dass ihre Stimme normal klingen würde. »Koryphelia und ich«, krächzte sie und als sie Machairis Blick begegnete, erschauderte sie. Prüfend musterte er sie und sie wollte wissen, was er wohl dachte.

Vica lachte auf, aber es war ein frustriertes Lachen. Puki sprang vor Schreck unter ihrer Kapuze hervor und rollte als kleiner Zylinder über den Boden und aus Spíthas bebenden Nüstern rauchte es. »Natürlich. Ich nehme an, dass wir keine Erklärung bekommen, warum du genau die Fähigsten ausgesucht hast?« Ihr Sarkasmus schlug in Wellen durch den Raum und Gina schnaubte. Vermutlich war sie nicht damit einverstanden, dem Mädchen zuzustimmen, das ihr kaum vor einer halben Stunde eine Waldkatze auf den Hals gejagt hatte. Tatsächlich waren sich die beiden wohl ähnlicher, als sie verkraften konnten.

Leén konnte ihnen den Gedanken allerdings nicht einmal übelnehmen. Von der Gruppe waren Koryphelia und Leén vermutlich tatsächlich die am wenigsten geeigneten Kämpfer und Abenteurer. Interessanterweise war es wieder Mico, der plötzlich einlenken konnte. »Naja. Ich weiß nicht, ob man davon ausgehen kann, dass Vicas Fähigkeiten in der Unterwelt überhaupt nutzbar sind, ebenso wie meine. Und Gina ist zu … impulsiv.« Einen nach dem anderen musterte der Cecilian sie. Zuletzt blieb sein Blick an Gwyn hängen, aber bevor er etwas zu dem Feuerspucker sagen konnte, erfüllte wieder Machairis kalte Melodik den Raum.

»Wenn sie nicht beide notwendige Attribute hätten, würde ich niemanden mitnehmen«, stellte er klar und musterte die beiden Mädchen genau. Koryphelia straffte die Schultern unter diesem Blick noch mehr. Sie hatte sich noch immer nicht geäußert. Vielleicht war ihre Kehle ebenso trocken wie Leéns. Natürlich wollten sie nicht in die Unterwelt hinabsteigen, aber wenn Machairi das so beschlossen hatte, gab es vermutlich kaum einen Weg darum herum. Immerhin standen die Chancen gut, dass nicht einmal der Messerdämon ohne unumstößliche Notwendigkeit in die Unterwelt hinabstieg.

Gina verdrehte die Augen. »Du hast überhaupt keine kampffähige Unterstützung und willst drei Personen beschützen?« Sie schnaubte. »Das klingt sinnvoll.« Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. »Das ist bescheuert. Ich komme mit!« Überraschte Blicke trafen sie und ein abfälliges Schnauben kam aus Vicas Richtung. Der Schatten sah sie strafend an und sie alle wussten, was er von der Aussage hielt. Dabei wusste Leén nicht wirklich, was ihn daran so sehr störte. Eigentlich schienen sich die beiden doch ganz gut zu verstehen und vielleicht würde sogar die Faust ihr loses Mundwerk zügeln können, wenn sie an einen solch gefährlichen Ort gingen. Leén hätte jedenfalls nichts dagegen gehabt, eine weitere kampffähige Person bei sich zu haben. Das schien auch Gina so zu sehen. »Du musst weder deine Künste noch deine Männlichkeit unter Beweis stellen.« Sie versuchte, ebenso strafend zurückzusehen – natürlich ohne Erfolg. »Lass mich einfach helfen«, knurrte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

 

»Du hilfst, indem du hier aufpasst«, vertröstete der Schatten sie und die Harethi fand es schon beachtlich, dass er ihr überhaupt eine Alternative bot. Gleichzeitig fragte sie sich, warum Vica, Mico und Gwyn die Faust als Kindermädchen brauchten und konnte sich gut vorstellen, dass keiner von denen das gut fand.

»Die sind erwachsen, die können ganz allein auf sich aufpassen«, schnaubte sie und warf die Haare zurück. Erneut nahm sie ein Blickduell mit dem Dämon auf und eine Weile war es still, während alle beobachteten, wie lange es dauerte, bis Gina verlor. »Verdammt, na gut!«, stieß sie schließlich hervor und wandte sich ab, beleidigt und gedemütigt. »Dann bekommt eine von euch beiden jetzt einen Selbstverteidigungsschnellkurs von mir!«, beschloss sie und sah zu Kory und Leén.

Letztere zog instinktiv den Kopf ein, weil sie sich an ihre letzte Kampfstunde erinnerte und überhaupt nicht das Bedürfnis hatte, sich vor der Faust auch noch zu blamieren. Sie war leider ein hoffnungsloser Fall und das würde sich nicht in kürzester Zeit ändern lassen. Die Prinzessin hingegen schmunzelte. »Das klingt in der Tat nicht nach einer schlechten Idee«, sagte sie. »Bevor ich mich auf diese fragwürdige Mission einlasse, wüsste ich allerdings gerne genauer, was uns dort unten erwartet.« Fragend sah sie zu Machairi, die blauen Augen funkelnd und das Kinn gestreckt, in dem Versuch, ihre Unterlegenheit zu verbergen.

»Dunkelheit«, antwortete der Schatten, aber sein Blick traf Leén statt Koryphelia. Ein Schauer schüttelte die Harethi und das Licht selbst schien zu erzittern. Dunkelheit war ein gefährliches Thema mit ihr. »Wir gehen morgen früh. Rish, komm.« Damit schien er die Runde auflösen zu wollen, auch wenn mit Sicherheit noch lange nicht alle Fragen beantwortet waren.

»Bevor ihr geht«, Reolet, die wie eine Statue am Zelteingang gestanden hatte, trat zu ihnen und blickte in die Runde, »möchte ich euch bitten, in diesem Dorf keine Magie zu üben und keine Kämpfe auszutragen. Es ist ein heiliger Ort.« Mahnend sah sie besonders zu Vica und Gina, die diese Reglung bereits gebrochen hatten. »Es gibt eine Übungsfläche jenseits des Baches, wo ihr jede Abstrusität ausüben könnt, wie es euch beliebt, solange es sich nicht um schwarze Magie handelt. Ansonsten könnt ihr in einem der Häuser unterkommen.« Lächelnd sah sie in die Runde. Irgendetwas an dieser Frau war sonderbar. Ihr Gesicht glänzte leicht, als habe sie besonders stark geschwitzt oder als sei es aus weichem Wachs geformt und sie wirkte auf seltsame Weise unecht. Sie war Leén trotz ihrer Freundlichkeit unheimlich.

»Abstrusität«, wiederholte Vica und es klang, als schmecke das Wort ekelhaft bitter auf der Zunge. Der Spott, den sie hervorbringen wollte, ging darin unter und man musste sich spontan fragen, wie oft Vica sich schon aufgrund eines Urteils über ihre Fähigkeiten geärgert hatte. Dabei war Leén sich nicht einmal sicher, dass Reolet tatsächlich hatte ausdrücken wollen, dass sie abnormale Magie wirkten. Vielleicht hatte die Frau auch einfach sagen wollen, dass ihr egal war, was sie taten, solange sie es nicht im Dorf taten.

»Du kannst mit mir kommen«, sagte die Frau ungerührt freundlich und warf einen Blick auf den Drachen, als habe sie den Kommentar der Blinden gar nicht gehört. »Wir werden deinem Drachen sicher helfen können.« Ein schlauer Zug. Für Spíthas Wohl würde sogar Vica ihren Stolz vergessen, so verzweifelt, wie sie zuletzt über seinen Zustand gewesen war. »Katyre wird dem Rest zeigen, wo ihr unterkommen könnt.« Katyre war der Name des kleinen Mädchens gewesen, das sie im Wald gefunden hatte. Hoffentlich wusste das Kind auch, dass es ihnen helfen würde, denn außer Gwyn schien niemand ihre Sprache zu sprechen.

Vicas Kiefer malmte, aber sie stand auf und hielt den kleinen Drachen sanft fest. »Wo ist mein Stock, Hatschi?«, fragte sie mühsam beherrscht und klang trotzdem noch immer patziger, als Leén es je zustande gebracht hätte.

Wortlos hob sie den Stock vom Boden auf, reichte ihn Vica und sah zu, wie die Blinde etwas unbeholfen Reolet folgte, während Puki sich aus seiner Rolle löste und ihr hinterherhüpfte. Ob er wohl eifersüchtig war auf den neuen Begleiter, der so viel mehr Aufmerksamkeit bekam als er?

Damit war die Runde aufgelöst. Die Prinzessin verkündete, dass sie zunächst Quartier beziehen wollte, bevor sie sich irgendeiner Form von Training hingab, und Gina war einverstanden. Obwohl sie nur vom Schiff hierhergekommen waren, schien schrecklich viel passiert und auch Leén hatte das Bedürfnis, sich irgendwo hinzusetzen und die verstörenden Neuigkeiten zu verarbeiten. Leider war sie wohl die Einzige, der das nicht vergönnt war, denn sie hatte nicht vor, ausgerechnet Machairi zu erklären, dass sie erst eine Pause brauchte, bevor sie ihm irgendwohin folgen wollte.

So fand sie sich wenig später erneut durch den Wald stolpernd wieder, während die anderen von dem kleinen Mädchen in eines der Holzhäuser geführt wurden. Palmwedel hingen ihr ins Gesicht und exotische Pflanzen wanden sich ihren Weg an Bäumen hinauf und umeinander herum. Allerlei sonderbares Getier tummelte sich hier: Erstaunlich große Bienen schwirrten umher, Vögel mit langen Schnäbeln tranken aus Blumenkelchen und einmal glaubte sie sogar ein winziges menschenähnliches Wesen zu sehen, das fast durchsichtig und mit Flügeln ausgestattet hastig davonschwirrte. Vermutlich floh es vor allen Menschen, aber selbst weniger scheue Wesen ergriffen wohl die Flucht vor Machairi. Der Schatten passte nicht hierher. Das Dunkel seiner Kleider und seiner Haare hob sich deutlich von der bunten Umgebung ab und schien doch zwischenzeitlich mit den Schatten zwischen den Pflanzen zu verschmelzen. Die dicken Stämme gewaltiger Bäume führten hinauf zu dichten Blätterkronen und an manchen Stellen drang kaum ein Sonnenstrahl zu ihnen hinab.

Irgendwann trafen sie auf einen größeren Wasserlauf. Es war hier schon mehr ein Fluss als ein Bach und in vielen kleinen Wasserfällen stürzte er eine Felswand hinab. Es sah hübsch aus und für einen kurzen Moment dachte sie daran, dass man auf der Wiese am Fuße der Fälle ein hervorragendes Picknick hätte veranstalten können. Eine innere Stimme sagte ihr allerdings, dass Machairi kein Picknick mit ihr machen wollte. »Was tun wir hier?«, fragte sie, als Machairi endlich stehen blieb.

»Du kannst nicht weiter bei Dunkelheit in Ohnmacht fallen«, antwortete er und drehte sich zu ihr. »Ich habe wenig Interesse daran, dich durch die Unterwelt zu tragen.« Spontan wurde sie verlegen. Tatsächlich wäre es ihr unheimlich peinlich gewesen, wenn es so weit käme. Leider wusste sie auch nicht, was sie dagegen tun sollte. Ein Ort, den die Dunkelheit regierte, war sicherlich nicht der beste Aufenthaltsort für jemanden, der beim kleinsten Kontakt das Bewusstsein zu verlieren drohte. »Da Ila es dir nicht rechtzeitig beibringen konnte, wirst du es jetzt üben«, erklärte er dann weiter.

»Und wie?«, fragte Leén vorsichtig und bekämpfte das Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen. Vermutlich hätte sie nicht einmal den Weg zurück zu dem kleinen Dorf gefunden durch das Dickicht des Waldes. Vielleicht war das der Sinn der Sache gewesen, sonst sah sie nämlich keinen Grund hierherzukommen, wenn es doch eine Übungswiese gab. Das Problem, das Leén mit jener Fläche gehabt hätte, wäre höchstens die Möglichkeit, dass Gina und Kory dort auftauchen würden, um selbst zu trainieren, und sie konnte auf Zuschauer verzichten. Besonders wenn die eine ihre spöttischen Bemerkungen kaum zurückhalten würde und die andere bisher noch eine recht gute Meinung von ihr hatte, die man leicht ruinieren konnte.

»Fall nicht um«, erwiderte Machairi nicht besonders hilfreich und trat auf die Felswand zu. Er schob einige Ranken zur Seite und bevor Leén fragen konnte, riss es sie von den Füßen.

Finsternis erhob sich über ihr wie eine Decke, drückte auf ihr Gemüt und engte sie ein. Ihr Kopf begann zu schwirren und es pfiff in ihren Ohren, während sie kaum mitbekam, dass sie auf den Boden sank. Drückend und kalt war das Schwarz, das über ihr schwebte, und wie von selbst stieg in ihr das Licht auf, um sich zu wehren. Vertraut war der Schein inzwischen und es wurde hell vor ihren Augen, obwohl sie sie geschlossen hatte. Ebenso plötzlich wie es gekommen war, hörte es auch wieder auf und Leén kauerte keuchend am Boden und versuchte, das taube Gefühl zu vertreiben, das zurückgeblieben war.

Machairi stand noch immer bei der Wand und musterte sie mit undurchdringlicher Miene. Vermutlich war er enttäuscht, aber er ließ es sich ebenso wenig anmerken wie irgendein anderes Gefühl. Es trug nicht dazu bei, dass Leén sich weniger schämte. »Du kontrollierst deine Magie. Nicht andersherum«, erinnerte er sie und musterte sie genau, als könnte er sie damit zwingen, sich geschickter anzustellen.

Kurz wollte sie ihm sagen, dass erst die Dunkelheit sie übermannte und dann erst das Licht kam, dass sie keine Kontrolle über die Dunkelheit hatte und dass sie nicht wusste, wie sie gegen etwas stehen konnte, worauf sie keinen Einfluss hatte. Doch sie nahm an, dass er wusste, wovon er sprach, und sie hatte keine Lust, wieder dumm zu sein. Deshalb schluckte sie, nickte und versuchte, sich besser zu wappnen, als er die Ranken ein zweites Mal zur Seite schob.

Wieder deckte sich die Finsternis über sie und verschleierte ihren Blick. Sie versuchte, die Augen geöffnet zu halten und sich an der Realität festzuhalten, aber ihr wurde buchstäblich schwarz vor Augen. Die Dunkelheit schien in ihren Kopf einzudringen, durch ihre Gedanken zu sickern und alles, was sie versuchen konnte, war das Licht zurückzuhalten, das in ihr aufsteigen und die Schwärze bekämpfen wollte. Ihre Bemühungen blieben fruchtlos. Zwar schaffte sie es eine ganze Weile, das Licht zu deckeln, aber die Dunkelheit wurde nur pressender und sie konnte nichts dagegen tun. Schließlich verlor sie den Kampf gegen das empordrückende Licht und was sich angefühlt hatte wie eine Viertelstunde, konnte kaum mehr als ein paar Sekunden gedauert haben. Sie gab ihren Widerstand auf und Helligkeit stieg auf, um die Dunkelheit fortzudrücken. Es half gegen die Benommenheit in ihrem Kopf, aber die unkontrollierte Magie hielt sie nun voll in ihren Fängen. Wie ein eigener lebendiger Organismus nahm es ihr die Selbstbestimmung und als die Dunkelheit endlich verflog, übergab sie sich ins saftige Gras der Wiese vor ihr.

Tief durchatmend stützte sie sich im Gras ab und fühlte sich plötzlich schrecklich müde. Krampfhaft hielt sie sich davon ab, zu dem Schatten zu sehen und spuckte noch einmal aus, um den widerlichen Geschmack loszuwerden. »Kann ich es nicht irgendwie davon abhalten, in erster Linie in meinen Kopf zu kommen?«, fragte sie zu wehleidig und setzte sich etwas zurück. Jetzt sah sie doch auf, aber nicht in die bohrenden schwarzen Augen, sondern auf die Ranken, die wieder über dem Stein hingen. »Was ist hinter diesen Ranken?«, wollte sie dann wissen. Was konnte da sein, das so düster war, sich aber von ein paar Ranken aufhalten ließ? Und woher hatte der Dämon gewusst, dass es hier war?

»Das musst du. Wenn deine Verteidigung ausgelöst wird, ist es längst zu spät.« Die zweite Frage beantwortete er nicht und irgendwie war sich das Mädchen nicht sicher, ob sie es überhaupt wissen wollte.

»Wie soll ich denn etwas aussperren, was ich weder kommen sehen noch physisch wahrnehmen kann?«, fragte sie etwas verzweifelt und wollte sich am liebsten irgendwo verkriechen. Warum war sie immer so unfähig? Nachdem sie nun schon zweimal der Dunkelheit erlegen war, schien die Verzweiflung greifbarer als zuvor. Es hatte sie ausgelaugt und müde gemacht und sie schämte sich für ihre Kindlichkeit.

»Was da ist, muss dich nicht überwältigen.« Er machte ein paar Schritte auf sie zu und hielt ihr die weiß behandschuhte Hand hin. »Es ist wie Angst.« War er sich bewusst, dass das nicht beruhigend war? Nur sehr zögerlich schob sie die Finger in das weiße Leder und ließ sich auf die Füße ziehen. Sie kannte Angst sehr gut. Seit er in ihrem Leben war, hatte sie eine Menge davon gehabt. Wenn die Angst einen überwältigte, konnte man entweder darin versinken und jeden Mut verlieren oder sie überwinden und sich ihr stellen. Das war zwar schön und gut, wirkte aber geradezu unmöglich.

 

»Was ist hinter diesen Ranken?«, fragte sie nochmal, musterte die Wand skeptisch und spannte sich unwillkürlich stärker an. Konnte es ein Monster sein? Eines wie das, was er aus den Tiefen des Meeres gelockt hatte, mit nichts als einem Messer?

»Finde es heraus«, antwortete er ruhig und sie schluckte. Leider hatte er recht. Sie konnte sich nicht weiterhin bei jedem kleinsten Kontakt mit dieser Dunkelheit aus ihrem Kopf verdrängen lassen – egal, ob sie nun in die Unterwelt ging oder nicht. Wenn es funktionierte wie Angst, dann war wohl der beste Weg, sich der Dunkelheit zu stellen. Ohne ein weiteres Wort hielt sie auf die Ranken zu. Sie spürte, wie die Augen des Schattens ihr folgten und er sie genau musterte, aber zur Abwechslung hatte sie vor ihm wesentlich weniger Angst als vor dem, was vor ihr lag. Leén atmete tief ein, streckte die zitternde Hand aus und schob sie in die Ranken. Jeden Moment erwartete sie, dass die Schwärze ihr entgegenschlagen würde und hielt für den Bruchteil einer Sekunde inne, bevor sie die Blätter beiseiteschob.

Hinter den weichen grünen Schlingen lagen die nackte Felswand und eine Höhle, kaum mehr als ein Spalt klaffte dahinter. Vermutlich war er gerade groß genug, dass sie sich hätte hineinquetschen können, ohne steckenzubleiben. Es war dunkel darin, aber es war eine andere Form von Dunkelheit als die, die es vermochte sie niederzudrücken. Das war wohl kaum der Eingang zur Unterwelt, oder? Nervös kaute das Mädchen auf der Unterlippe und fragte sich, warum nichts geschah. Die Tatsache, dass sie sich dem willentlich stellte, konnte doch nicht schon ausreichen, um den sonst so schwerwiegenden Effekt zu umgehen, oder? »Warum passiert nichts?«, fragte sie und drehte sich zu dem Schatten um.

Vielsagend erwiderte Machairi ihren Blick. Als ihr so gar kein Licht aufgehen wollte und er weiterhin nichts sagte, riss sie sich zusammen und steckte langsam einen Arm und ihren Kopf in den Spalt. Keine drückende Dunkelheit. Nur eine Felswand und ein sich immer weiter verjüngender Riss im Stein und etwas, was sich unangenehm nach einem Spinnennetz anfühlte. Dann schlug die Dunkelheit wieder ein. Sie drückte ihr in den Nacken und ließ sie fast im kleinen Spalt zusammensinken. Sie kam nicht aus diesem Riss. Sie kam von draußen.

Mit schwirrendem Kopf zog Leén sich wieder hinaus, versuchte nicht einzuknicken und so gut sie konnte gegen das Gefühl anzukämpfen. Ihr Blick verschleierte, aber sie versuchte, die Dunkelheit fortzudrücken, und ballte die Hände zu Fäusten. Heftig blinzelnd, in der Hoffnung, die Sicht wieder klären zu können, sah sie umher und versuchte zu bestimmen, wo die Dunkelheit herkam. Sie hörte das Rauschen des Wasserfalls und des kleinen Flüsschens, das sich mit dem Rauschen ihres Blutes vermischte. Sie fühlte warmes Sonnenlicht auf der Haut, das ihr half, die Finsternis zu bekämpfen, und sie sah die Lichtung vor sich. Saftiges Grün und blühendes Leben und einen Schatten, der wie von schwarzen Schwaden umgeben schien. Schwarze Augen stachen ihr entgegen und die Dunkelheit wurde so überwältigend, dass sie sich beinahe schon wieder übergeben hätte. Angst schnürte ihren Magen zu und sie stolperte zurück. Der Wasserfall sprühte ihr Tropfen in den Nacken, die sich auf ihren Kleidern und ihrem Haar niedersetzten und sie zitterte. »Du bist das!«, stieß sie hervor und endlich fügten sich die Puzzleteile zusammen.

In einem kurzen Augenblick flackerten all die Situationen vor ihrem inneren Auge wieder auf, in denen sie dieses grausige Gefühl gehabt hatte. Sie hatten eines gemeinsam: einen wütenden, bedrängten, unkontrollierten Machairi.

Ihre Gedanken überschlugen sich und sie konnte gar nicht genug Abstand zu dem Dämon vor ihr halten. Ekelhaft ruhig sah er sie an und die Dunkelheit kam zum Erliegen. »Besser«, befand er und sie verstand erst nach einem Augenblick, dass er ihre Leistung bewertet hatte, der Dunkelheit zu widerstehen. Wäre sie nicht sprachlos vor Fassungslosigkeit gewesen, hätte sie ihm entgegengeschrien, dass seine Meinung sie nicht interessierte. Was wollte er von ihr? Konnte es sein, dass er nur einen Vorwand brauchte, um sie hinab in die Unterwelt zu zerren, um dann die Vorteile ihrer Abstammung für sich oder Ebos zu nutzen? Sie hatte so etwas schon die ganze Zeit befürchtet, aber sie hatte es nicht glauben wollen. Schließlich waren auch Gwyn und die anderen überzeugt gewesen, dass er ein Mensch sei, aber eigentlich war sein Charakter sehr viel besser zu erklären, wenn man der Realität ins Auge blickte.

Sie sollte flüchten, aber wohin? Er war schnell, unmenschlich schnell, wie sie sich erinnerte, und selbst wenn nicht, konnte er blind ein Messer auf sie werfen, das sie aufhielt, ohne sie zu töten, und er hatte sie so weit vom Dorf weggeführt, dass sie keine Chance hatte, irgendjemanden dort zu alarmieren. Sie hätte heulen können. Auch weil sie gehofft hatte, dass er irgendwo doch einen guten Kern hatte, und weil sie vielleicht doch ganz leicht Schmetterlinge im Bauch gehabt hatte.

Das Einzige, was ihr einfiel, um vielleicht entkommen zu können, war, das Licht zu verwenden, das ihn vielleicht so abstieß wie seine Dunkelheit sie. Leider befürchtete sie, dass er wesentlich geübter als sie darin war, den Effekt zu umgehen, und erschwerend kam hinzu, dass sie sich nach wie vor nicht in der Lage sah, sich zu bewegen. Stocksteif stand Leén da, während es in ihrem Kopf ratterte und sie versuchte zu erfassen, was sie gerade herausgefunden hatte. Er unterbrach sie nicht dabei, hatte alle Zeit der Welt, um ihr dabei zuzusehen, wie sie mehr und mehr verzweifelte.

»Warum die Prinzessin?«, war dummerweise die erste Frage, die sie herausbrachte. Es war der Punkt, auf den sie sich am wenigsten einen Reim machen konnte. Sie konnte sich vorstellen, dass ein Dämon diese seltsame unmenschliche Perfektion haben konnte, auch wenn die manchmal bröckelte. Es war auch klar, dass er ein Schatten hatte werden können und dass er damit durchkam, sich jeder Form von Höflichkeiten zu entziehen, und sogar, weshalb er ein Seemonster kannte. Das Einzige, was sie nicht verstehen konnte, war, wozu er die Prinzessin brauchte. Der Herr der Unterwelt konnte es doch kaum nötig haben, Geiseln zu nehmen, oder? Außerdem hatte doch Koryphelia ihn um Hilfe gebeten und nicht umgekehrt.

Er sah ein wenig amüsiert aus. »Sie hat das Blut ihres Vaters«, antwortete er ruhig, als sei das ein ganz normaler Satz, der überhaupt nicht wahnsinnig klang. »Es ist gut möglich, dass wir es brauchen.« Das war eine sehr absonderliche, aber erstaunlich klare Antwort.

»Ist dir klar, wie wahnsinnig das klingt?«, fragte sie mit viel zu hoher Stimme und wich noch etwas weiter zurück, sodass sie Angst haben musste, in den Bach zu fallen. Was konnte sie nur tun? Was konnte sie nur tun?! Ihre Atmung hatte sich beschleunigt und sie versuchte, irgendwie einen kühlen Kopf zu bewahren, aber bis auf das kalte Wasser, das ihr in den Nacken sprühte, war nichts an dieser Situation abkühlend.

»Wir sprechen von einem Tropfen Blut, nicht vom Kehle durchschneiden«, stellte er klar und sah abermals belustigt aus, als sie fast ins Wasser fiel. Er machte auch keine Anstalten, sie anzugreifen. Nicht einmal ein Messer kreiste durch seine Finger, was schon fast unheimlich wirkte, weil es sonst so oft geschah.