Das muss gesagt werden

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Juni

7

2010

What’s New, Pussy?

Verdienen Frauen, dass sie nix verdienen, weil sie so häufig Teilzeit arbeiten?

Also. Der Frauenbericht.2 Überrascht er uns? Eigentlich nicht. Das ist, zugegeben, auch nicht seine Aufgabe. Er sollte Fakten sammeln. Jetzt liegen sie auf dem Tisch. Frauen, besagen sie, sind besser ausgebildet als je zuvor. (Haben wir gewusst.) Sie sind erwerbstätiger als je zuvor, soll heißen, sie gehen in größerer Zahl der Erwerbsarbeit nach als zu früheren Zeiten. (Haben wir vermutet.) Sie machen nach wie vor zwei Drittel der unbezahlten Arbeit, Kinderbetreuung, Haushalt und Altenpflege sind anhaltend Frauensache. (Verblüfft uns nicht wirklich.) Und sie verdienen immer noch weniger als die Männer. Nein, nicht immer noch, sondern immer weniger, denn die Einkommensschere geht weiter auf. Das finden wir dann doch einigermaßen befremdlich.

Obwohl, die Gründe, die dafür ins Treffen geführt wurden – nicht vom Frauenbericht, sondern in diversen Kommentaren aus Medien und Politik –, sind auch nicht neu: Frauen arbeiten in großer Zahl Teilzeit. (Eh klar, sie müssen ja auch noch, siehe oben, Kinder, Haushalt und Altvordere schupfen.) Sie kaprizieren sich auf sogenannte Frauenberufe, die schlechter bezahlt werden als sogenannte Männerberufe. Statt gesellschaftlich wichtige Arbeit in technischen Branchen zu leisten, interessieren sie sich fürs unwichtige Soziale. Und sie sind Weicheier bei Gehaltsverhandlungen – geben sich viel zu früh zufrieden und neigen dazu, den Sinn einer Tätigkeit wichtiger zu nehmen als das, was sie einbringt. Ja dann. Und was weiter?

Na, einfach weiter so, befanden manche (männliche) Auskenner. Weil jetzt haben wir die Bestätigung: Frauen wollen halt nur Teilzeitjobs. Frauen wollen sich mehr um Kinder und Haushalt kümmern als Männer. Frauen möchten, dass die Männer die Hauptverdiener bleiben. Ist doch wurscht, wer mehr verdient, am Ende kommt alles in einen Haushaltstopf, und beide nehmen sich heraus, was sie brauchen.

Hat auf den ersten Blick was für sich. Vielleicht signalisiert es ja tatsächlich ein Beharren auf alten Rollenmustern, wenn der Anstieg der weiblichen Erwerbsquote vor allem auf einen Anstieg der Teilzeitjobs für Frauen zurückzuführen ist. Fragt sich nur, wer beharrt.

Das alte Lied: Reißen Frauen Haushalt und Kinder genital programmiert an sich, oder machen sie, was gemacht werden muss, weil die Männer zu wenig machen?

Irgendwie neige ich nach wie vor dazu, mir nicht vorstellen zu können, dass – noch dazu gut ausgebildete – Frauen lieber unbezahlt hinter Mann und Kindern herräumen, statt ihre Ausbildung in anständig entlohnten Jobs anwenden zu wollen. Und wenn man überdies in Betracht zieht, dass der gemeinsame Haushaltstopf im Fall einer Scheidung (für den statistisch inzwischen eine mehr als 30-prozentige Wahrscheinlichkeit spricht) ganz schnell in zwei sehr ungleiche Teile zerfallen kann, haut die Interpretation, das berufliche Fortkommen zugunsten häuslicher Dienstleistungen zurückzustellen entspreche einem urweiblichen Bedürfnis, nicht ganz hin.

Jede vierte teilzeitbeschäftigte Frau sagt denn laut Frauenbericht auch, dass sie lieber Vollzeit arbeiten würde, jede zweite gibt als Grund für ihr berufliches Leisertreten Betreuungspflichten an. Was eben nicht bedeutet, dass es sich beim Spagat zwischen limitierter Berufstätigkeit und der Hauptverantwortung für Kinder (und möglicherweise Alte) um eine absolut frei gewählte Lebensform handelt.

Bleiben die anderen Begründungen, die das Einkommensgefälle rechtfertigen sollen. Und die sind ja nun überhaupt, wie man früher so schön sagte, starker Tobak.

Wieso werden Männerberufe stets mit größter Selbstverständlichkeit über Frauenbranchen gestellt, ohne dass die Berechtigung dieses Rankings auch nur im Geringsten angezweifelt wird? Was macht Tätigkeiten, die überwiegend von Männern ausgeführt werden, grundsätzlich wertvoller als Tätigkeiten, denen überwiegend Frauen nachgehen? Kein Wunder, dass Frauen nix verdienen, wenn sie sich für Schönheit, Menschen, Kunst und Sprachen interessieren statt für Motoren und Bilanzen? Warum kein Wunder? Wollten wir in einer Welt leben, in der es nur noch um Technik und Kapitalflüsse geht? Können wir auf soziale Kompetenz verzichten?

Dass die schlechte Bezahlung in sogenannten Frauenberufen nicht notwendigerweise von der relativen Überflüssigkeit dieser Tätigkeiten diktiert wird, zeigt sich immer dann, wenn sich Männerdomänen in gemischt frequentiertes Territorium verwandeln. Dann sinken nämlich die vordem höheren Löhne, was demonstriert, wem die Geringschätzung gilt: nicht der Branche, sondern den Frauen, die sich darin ausbreiten.

Verwunderlich auch der Vorwurf, Frauen seien schlechte Verhandlerinnen, weil es ihnen mehr als aufs Geld darauf ankomme, sich an ihrem Arbeitsplatz wohlzufühlen und einer in ihren Augen sinnvollen Aufgabe nachzugehen.

Jetzt einmal ehrlich: Wenn unsere Arbeitswelt Menschen dafür bestraft, dass sie sinnstiftenden, befriedigenden Tätigkeiten nachgehen, statt bloß möglichst viel Geld cashen zu wollen, – stimmt dann was mit diesen Menschen nicht, oder sollten wir uns vielleicht fragen, was in unserer Arbeitswelt nicht stimmt?

Im Übrigen und jedenfalls ein Ja zur angestrebten Einkommenstransparenz. Vergleichsmöglichkeiten nützen beim Verhandeln.

2Frauenbericht 2010. Bericht betreffend die Situation von Frauen von Österreich im Zeitraum 1998 bis 2008, hg. vom Bundesministerin für Frauen und Öffentlichen Dienst im Bundeskanzleramt Österreich. Wien, 2010.

Juli

5

2010

(Ob)Sorgen

Kann man erwarten, dass zwei kooperieren, weil es das Gesetz so anschafft?

Kann man Liebe, Zuwendung, Fürsorge und Kooperation per gesetzlicher Anordnung erzwingen? Kinder hätten von Natur aus ein Recht auf beide Eltern, so begründet die Justizministerin ihr Eintreten für die automatische gemeinsame Obsorge nach Scheidungen. Das klingt, als handle es sich dabei um ein Zaubermittel. Man installiere die gemeinsame Obsorge, und schon haben auch die Kinder getrennter Paare, Simsalabim, ein harmonisches Elternhaus, wo sich Vater wie Mutter zu gleichen Teilen um ihr Wohlergehen kümmern.

Schön wär’s. Oder vielmehr: Schön ist es, dort, wo es funktioniert, und es funktioniert in vielen Fällen durchaus. Denn die gemeinsame Obsorge ist ja schon jetzt keineswegs verboten. Sie setzt lediglich voraus, dass beide Elternteile damit einverstanden sind, während eine Automatisierung bedeuten würde, dass dieses Einverständnis von Gesetzes wegen angenommen beziehungsweise verordnet wird, egal, wie zerrüttet die Beziehungen zwischen Mutter, Vater und den Kindern auch sein mögen. Das erscheint mir riskant. Wenn Eltern sich nicht auf eine gemeinsame Obsorge einigen können, dann hat das Gründe, die man nicht mit der schlichten Anordnung „Vertragts euch, Leute!“ einfach übergehen kann.

Natürlich ist zu wünschen, dass Eltern ihren persönlichen Zwist, ihre Kränkungen, Frustrationen und Verletzungen beiseitelassen, wenn es um das Wohl ihrer Kinder geht. Die Praxis zeigt nur leider, dass es ihnen nicht immer gelingt. Hinzu kommt, dass nicht unbedingt überall Obsorge drin ist, wo Obsorge draufsteht. Soll heißen: Häufig wird mit dem Begriff Obsorge argumentiert, wenn es in Wirklichkeit um Machtausübung geht.

Was meint die Justizministerin, wenn sie vom Recht des Kindes auf beide Eltern spricht? Ein Anrecht darauf, dass Vater wie Mutter im gleichen Ausmaß verfügbar, einsatzbereit und liebevoll um das Kind besorgt sind? All das garantiert die gemeinsame Obsorge nicht. Kein Gesetz, keine Justizministerin und kein Familiengericht kann einem Kind die Zuwendung verschaffen, nach der es sich sehnt, wenn Vater oder Mutter sie ihm verweigern. Auch bei gemeinsamer Obsorge muss der nicht mehr im gemeinsamen Haushalt lebende Elternteil mit dem Kind weder Mathematik lernen noch beim Zahnarzt seine Hand halten. Aber er kann fordern, dass das Kind in die Handelsschule geht, auch wenn es kaufmännisch desinteressiert und musisch begabt ist.

Wird schon nicht vorkommen? Doch, kommt vor. Genau darüber wird gestritten: Wer schafft an? Wer ist wichtiger? Wer setzt sich durch? Und, nicht zuletzt: Wer erspart sich was? Denn häufig hat der Wunsch nach mehr Mitspracherecht auch einen finanziellen Hintergrund. Eine kürzere Ausbildung kostet weniger lang Unterhalt. Also plädiert der unterhaltspflichtige Elternteil zum Beispiel für Lehre statt Studium. Es geht nämlich auffallend oft ums Geld, wenn – vordergründig – über gemeinschaftliches (Ob-)Sorgen diskutiert wird. Wer sich die Internetplattformen und -foren zum Thema anschaut, stößt immer wieder auf die gleiche Klage angeblich entrechteter Väter (bekanntlich stellen sie die Mehrzahl nicht obsorgeberechtigter Elternteile): Ich darf zahlen, aber nicht bestimmen, was mit MEINEM Geld geschieht.

Juristisch umfasst die Obsorge sowohl Rechte als auch Pflichten, der oder die Obsorgeberechtigte ist zuständig für Pflege, Erziehung, Vermögensverwaltung und die gesetzliche Vertretung des Kindes. Praktisch wird selten um die Pflege gekämpft, aber oft darum, Erziehungsrichtlinien vorgeben zu dürfen und das Vermögen des Kindes, sprich Unterhaltszahlungen, nicht in charakterverderblichen Reichtum ausarten zu lassen.

Noch einmal: Geschiedene Eltern müssen nicht streiten. Doch wenn sie es tun, dann genügt es nicht, ihnen Kooperation zu verordnen. Die beschwörende Annahme, dass zwei sich einigen werden, wenn ihnen nichts anderes übrig bleibt, ist Realitätsverweigerung. Ja, sie raufen sich vielleicht zusammen, aber mit der Konsequenz, die ein Raufhandel mit sich bringt: Es gibt einen Sieger, und es gibt Verlierer. Ob das dem Kindeswohl dient, ist mehr als fraglich.

 

Automatische gemeinsame Obsorge heißt im Grunde, die Familien mit ihren Konflikten allein zu lassen. Derzeit muss jeder Fall, in dem es kein Einvernehmen gibt, gerichtlich geprüft werden, ehe eine Obsorgeentscheidung fällt. Wird hingegen die gemeinsame Obsorge zur Regel, signalisiert das, dass Eltern sich’s gefälligst untereinander ausschnapsen sollen, wie sie nach der Trennung mit der Kinderbetreuung zurechtkommen. Das würde die Familiengerichte möglicherweise entlasten und der Justizministerin Geld sparen. Dass es den Kindern nützt, ist allerdings nicht gesagt.

Man habe mit der gemeinsamen Obsorge gute Erfahrungen gemacht, heißt es. Das verwundert nicht. Diejenigen, die sich dafür entscheiden, sind ja auch entschlossen, es gut zu machen. Sie sind willens, zusammenzuarbeiten. Ihnen Steine in den Weg zu legen, wäre absurd. Problematisch sind die Unwilligen. Weil nämlich ihre Ausstattung mit mehr Rechten nicht automatisch bedeutet, dass sie auch mehr Pflichten wahrnehmen.

Januar

31

2011

… raus bist du!

Die Schule wird sich der Aufgabe stellen müssen, erzieherische Defizite zu kompensieren.

Also. Die Hauptschule heißt jetzt Neue Mittelschule, hurra. Das Gymnasium gibt es weiterhin, halleluja. Wer ins Gymnasium möchte, muss sich schon in der Volksschule dafür qualifizieren. Wer mit 14 im Gymnasium bleiben oder nach der Neuen Mittelschule ins Gymnasium übertreten will, muss erst mal seine mittlere Reife nachweisen. (Wetten, dass Gymnasiasten dabei bessere Chancen haben werden als neue Mittelschüler? Weil ja, wie der Vizekanzler so schön sagte, die Langform des Gymnasiums ganz andere Schwerpunkte setzen und von Anfang an auf eine längere Bildungskarriere vorbereiten kann.) Und, nicht vergessen: Eltern sind verpflichtet, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen.

So schaut eine Bildungsreform in Österreich aus. Dahinter steht offenbar die alte Auffassung: Bildung ist ein kostbarer Schatz, auf den nur Auserwählte Zugriff haben dürfen.

Es geht nach diesem Verständnis nicht darum, möglichst vielen Kindern möglichst viel beizubringen, sondern darum, immer wieder diejenigen herauszufiltern, die für würdig erachtet werden, noch mehr lernen zu dürfen.

Aussieben statt fördern. Unfähigkeit nachweisen statt befähigen. Ent- statt ermutigen. Die positive Verstärkung, deren segensreiche Wirkung sich sogar bis in die Hundeerziehung durchgesprochen hat, ist in der schulischen Menschenerziehung hierzulande wenig verbreitet. Sparsames Lob, reichlich Tadel. Schwachstellen entdecken. Nicht, um zu helfen, sondern um Blödheit zu diagnostizieren.

Weil: Wo kommen wir denn hin, wenn alle! Es kann doch nicht jeder! Wer ungebildete Eltern hat, die mangels Kenntnissen nicht in der Lage sind, bei den Hausaufgaben zu helfen, gehört halt nicht ins Gymnasium. Wer gebildete Eltern hat, die mangels didaktischer Ausbildung nicht in der Lage sind, den Schulstoff zu erklären, gehört halt nicht ins Gymnasium. Kinder berufstätiger Mütter gehören nicht ins Gymnasium. Wer kein Genie ist, das nie Hilfe oder Unterstützung braucht, gehört nicht ins Gymnasium. Wessen Eltern keine Nachhilfestunden zahlen können, der oder die soll halt nicht in eine höhere Schule gehen.

Denn: Die Eltern sollen ihre Aufgaben gefälligst nicht an die Schule delegieren. Die Aufgabe der Eltern ist es, gebildet und wohlhabend zu sein, über didaktische Kenntnisse zu verfügen und ein unbegrenztes Zeitbudget zur Verfügung zu haben. Sind sie nicht willens und fähig, dieser ihrer Aufgabe nachzukommen, sollen sie sich nicht wundern, wenn aus ihren Kindern nix wird.

Exzellenzen sind gefragt! Eliten! High Potentials! Die bezieht man am besten aus Elternhäusern, die traditionell mit der Herstellung von Führungspersönlichkeiten betraut sind. Nur keine Experimente!

Im Ernst: Da wird angeblich über mehr Chancengleichheit nachgedacht, und alles, was herauskommt, ist eine großspurig mittlere Reife genannte (Knock-out-)Prüfung auf dem Weg zur Matura. Fühlt sich dabei irgendwer gepflanzt? Nein? Warum nicht?

Oh ja, Leistung muss sein. Aber die ständige Drohung, Kindern schon noch zu zeigen, dass sie ja doch nicht in eine höhere Schule gehören, ist weniger Leistungsansporn als vielmehr eine Methode der Demoralisierung. Übrig bleiben nicht unbedingt die Klügsten, sondern vor allem Robuste, die wenig Selbstzweifel kennen.

Die Einstellung, dass beim Gros der Kinder wahrscheinlich eh Hopfen und Malz verloren ist, findet sich nicht nur in explizit konservativen Kreisen. Auch Aufsteiger, die offiziell Lippenbekenntnisse zu einem egalitären Bildungszugang ablegen, sind als Eltern in privaten Gesprächen besorgt, dass es ihren Kindern schadet, wenn die Schule dem Nachwuchs aus bildungsfernen Schichten zu viel Aufmerksamkeit schenkt. Und LehrerInnen aller politischen Lager werden nicht müde, auf Begabungsdifferenzen hinzuweisen, die nun einmal nicht aus der Welt zu schaffen wären.

Tatsächlich ist unbestreitbar, dass Kinder unterschiedlich talentiert und von unterschiedlich schneller Auffassung sind. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen man daraus zieht. Ein gutes Bildungssystem gibt sich nicht damit zufrieden, die Unterschiede zu konstatieren und mangelnde Begabungen abzustrafen, sondern es bemüht sich, auch nicht offensichtliche Stärken von Kindern zu entdecken und zu fördern. Nicht alle können alles (werden), aber in vielen steckt mehr drin, als man fürs Erste vermutet.

Vor allem schießt sich ein gutes Bildungssystem nicht auf die Eltern ein. Getroffen werden dabei nämlich die Kinder. Mag sein, dass viele SchülerInnen mit Eltern geschlagen sind, die ihnen weder sozial verträgliche Umgangsformen noch Lerneifer in ausreichendem Maß mitzugeben imstande oder willens sind. Das ist ein Jammer, aber man kommt ihm nicht bei, indem man weitere Generationen inkompetenter Erwachsener heranzieht. Soll heißen: Die Schule wird sich der Aufgabe stellen müssen, erzieherische Defizite des Elternhauses zu kompensieren.

Dazu muss sie entsprechend ausgerüstet werden, personell und finanziell, keine Frage. Dass es mit der Ausrufung der gemeinsamen Schule bis 14 nicht getan wäre, bestreitet ohnehin niemand, der dieses Konzept befürwortet. Aber zunächst einmal braucht es die grundlegende Bereitschaft, (höhere) Bildung nicht als ein Privileg zu sehen, das vor dem Zugriff der Massen geschützt werden muss.

Mai

23

2011

Vergeltung

Bei Gewalt gegen Frauen lässt das Unrechtsbewusstsein oft aus.

Im Iran hätte kürzlich ein Gerichtsurteil vollzogen werden sollen, das international verstörte. Einer Frau war zugestanden worden, einem Mann Säure in die Augen zu träufeln, er wäre daraufhin erblindet. Der Vollzug des Urteils wurde mittlerweile ausgesetzt, das Entsetzen blieb. Dem Urteil war allerdings eine noch entsetzlichere Tat vorausgegangen. Der Mann, der mit dem Verlust seines Augenlichts bestraft werden sollte, schüttete vor etwas mehr als sechs Jahren der damals 24-jährigen Armeneh Bahrami Schwefelsäure ins Gesicht, weil sie seine Heiratsanträge abgelehnt hatte. Das Opfer ist seither blind und entstellt, auch Speiseröhre und innere Organe der Frau wurden verätzt. 17 Operationen musste sie über sich ergehen lassen. Ärzten in Barcelona gelang es vorübergehend, die Sehkraft eines Auges teilweise wiederherzustellen, eine Infektion (die Bahrami sich zuzog, weil sie aus Geldmangel in einem Obdachlosenasyl wohnte) machte den Heilerfolg allerdings zunichte. Armeneh Bahrami klagte ihren Peiniger an und verlangte, ihn nach dem im iranischen Strafrecht zugelassenen Grundsatz „Auge um Auge“ bestrafen zu dürfen. Zuerst wurde ihr, weil sie der Scharia nach als Frau nur halb so viel gilt wie ein Mann, lediglich die Zerstörung eines seiner Augen zugebilligt. Sie kämpfte weiter, bis ihr das Gericht zugestand, dass sie dem Attentäter beide Augen verätzen dürfe. Es gehe ihr nicht um Rache, sagte Bahrami nach der Urteilsverkündung, sondern um ein Signal. Alle sollten wissen, dass man so etwas keiner Frau antun darf.

Weltweit herrschte dennoch Erschütterung. Denn aus aufgeklärten Rechtssystemen ist die Idee der Vergeltung weitgehend verbannt. Gesetzesbrechern soll vermittelt werden, dass es Unrecht ist, sich nicht an die Gesetze zu halten, aber die Justiz greift dabei nicht zu denselben Mitteln wie die Kriminellen. Der Räuber soll im Strafvollzug nicht beraubt, der Gewalttäter nicht misshandelt, der Mörder nicht ermordet werden (jedenfalls nicht in Ländern, in denen die Todesstrafe abgeschafft ist). Und jetzt das! Auge um Auge! Barbarisch. Unzivilisiert. Grausam. Ja. Einerseits. Und andererseits vielleicht doch ein wirkungsvoller Beitrag zu einer Bewusstseinsänderung.

Denn tatsächlich war der Schwefelsäureanschlag des abgewiesenen Freiers keine Ausnahmetat eines Durchgeknallten, deren Unzulässigkeit außer Zweifel steht. Vielmehr gehören Säureangriffe in orthodoxen Macho-Gesellschaften zum Reaktionsrepertoire von Männern, die sich von einer Frau – zum Beispiel durch Zurückweisung – in ihrem Stolz verletzt fühlen. In Asien gibt es bereits eine von der Unicef geförderte „Stiftung für Säureopfer“, weil immer wieder Mädchen und Frauen von abgewiesenen Bewerbern oder erzürnten Ehemännern mit Batteriesäure übergossen werden. Auch Bahramis Peiniger, der sein Opfer vor Gericht zunächst verhöhnte, fehlte es offensichtlich an Unrechtsbewusstsein. Was Ameneh Bahrami offenbar erreichen will, ist ein veränderter gesellschaftlicher Blick auf Männer wie den Attentäter, der ihr Leben zerstört hat, um seine Verfügungsgewalt über sie zu demonstrieren. Offiziell und nachdrücklich soll Männern diese Verfügungsgewalt abgesprochen werden. Der aufsehenerregende Vollzug eines aufsehenerregenden Urteils sollte mithelfen, weltweit das Bewusstsein zu etablieren, dass auch Frauen ein Recht auf Selbstbestimmung haben. Und dass Bahrami auf Vergeltung besteht, hat wohl damit zu tun, dass quitt zu sein die Herstellung von Gleichrangigkeit bedeutet. Nun wurde der Vollzug des Urteils im letzten Augenblick auf unbestimmte Zeit verschoben. Das ist gut so, nach unserem Rechtsempfinden, und auch, weil es Frau Bahrami davor bewahrt, ähnlich unmenschlich zu handeln wie ihr Attentäter. Aber dass das Urteil überhaupt gefällt wurde, ist ein Signal, das hoffentlich seine Wirkung nicht verfehlt.

Die wahnhafte Vorstellung, dass sie sich nehmen könnten, wen und was sie wollen, beherrscht allerdings nicht nur Männer aus expliziten Macho-Gesellschaften. Auch im aufgeklärten Westen gibt es immer wieder üble sexistische Übergriffe, und vor allem Big-Boss-Persönlichkeiten können sich oft nicht damit abfinden, dass ihnen etwas verwehrt wird, schon gar von einer Frau. In New York wurde bekanntlich IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn festgenommen, nachdem ihn ein Hotel-Zimmermädchen der versuchten Vergewaltigung beschuldigt hat. Wie stets gilt die Unschuldsvermutung, aber die Gründe für eine Schuldvermutung sind auch nicht von der Hand zu weisen. Strauss-Kahn wird nachgesagt, dass er immer wieder Frauen sexuell bedrängt oder genötigt habe.

Auch im aufgeklärten Westen gilt sowas nicht nur als Vergehen. Mächtige Männer, die ihre Libido rücksichtslos ausleben, haben meist auch das Image des bewunderten und beneideten Potenzprotzes. „Obwohl schon ein reiferer Mann, zeigt Dominique Strauss, was er noch kahn“, reimte der ÖVP-Mandatar Wolfgang Großruck im österreichischen Parlament und erntete nicht nur Empörung, sondern auch Beifall. Hinterher entschuldigte er sich bei „allen, die sich betroffen fühlen“, als gehe es nicht um den Vorwurf sexualisierter Gewalt, sondern um die mehr oder weniger entwickelte Zimperlichkeit beim Ansprechen sexueller Leistungen. Ist also auch hierzulande nicht immer weit her mit dem Unrechtsbewusstsein.