Breathe

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5



Sie sitzt neben mir, den Blick stur aus dem Fenster gerichtet und spricht seit Stunden kein Wort. Wahrscheinlich würde ich mit mir auch kein Wort sprechen, wenn ich sie wäre. Oder ich würde mich ununterbrochen beleidigen, mir die Fresse polieren, um meine Freiheit kämpfen. Ich glaube, das Kämpfen hat sie schon aufgegeben. Und irgendwie stört mich das. Mich stört, dass sie nichts sagt. Mich stört, dass sie mich wahrscheinlich hasst. Und mich stört, dass sie sich so nah neben mir so gut anfühlt und ich das Verlangen nicht aus dem Kopf bekomme, meine Hand nach ihr auszustrecken und sie zu berühren. Aber was mich noch viel mehr stört, sind die lila Ringe, die die Fesseln um ihre Handgelenke herum hinterlassen haben. Das habe ich ihr angetan.

»Ich weiß, das klingt bestimmt hohl, aber es tut mir leid«, sage ich leise.

Sie atmet tief ein, leckt sich über ihre Unterlippe und sieht dann zu mir auf. »Dir tut es leid, dass du mit mir durch die Pampa fährst, mich fesselst, mich mit Gewalt gefangen hältst?«, will sie zynisch wissen. Sie zieht ihre volle rosa Unterlippe zwischen ihre Zähne und lässt sie wieder rausgleiten. Bei dem Anblick kann ich nur daran denken, dass ich es sein will, der auf diese Unterlippe beißt. Fuck, neben mir sitzt diese Frau und sie schafft es, mein inneres Monster zum Brüllen zu bringen. Für einen Augenblick bin ich so abgelenkt, dass ich das Lenkrad hart nach links reißen muss, um nicht gegen einen Baum zu fahren.

»Ja«, gebe ich zu. Meine Hand am Lenkrad zuckt, denn ich will sie zu gern berühren, über ihre verletzten Handgelenke streichen und ungeschehen machen, was ich angestellt habe. Aber ich habe keine Wahl.

Sie schnaubt. »Lass mich gehen«, fordert sie barsch.

»Das kann ich nicht.«

Sie dreht mir abrupt das Gesicht zu. »Warum? Ich verstehe es nicht.«

»Er lässt mir keine andere Wahl. Bei dieser Sache geht es nicht nur um dich und mich. Ich habe dich am Leben gelassen, reicht das nicht erstmal?«

Sie lacht dumpf auf und schüttelt den Kopf. »Ob das erstmal reicht? Ich weiß nicht, was reicht denn normalerweise, um eine Entführung zu entschuldigen?« Sie wirft mir wieder diesen trotzigen Blick zu, dem ich mich nicht entziehen kann, und der in mir das Verlangen wachruft, sie darüber zu belehren, dass sie sich mir und meinem Willen zu fügen hat. Ich will ihr sagen, dass ich hier bestimme, wo es langläuft. Will ihr deutlich klarmachen, wer hier die Macht hat. Und zugleich erregt es mich, ihren Trotz zu spüren. Zu fühlen, wie sie gegen mich ankämpft. Ich bin definitiv ein krankes Arschloch, aber das wusste ich schon vorher.

Ich fahre den Pick-up an den Straßenrand. Kilometer vor und hinter uns gibt es nichts weiter als Wälder und eine endlos lange gerade Straße. »Ich weiß es nicht, denn eigentlich entführe ich niemanden. Das Einzige, was ich je gelernt habe, ist zu jagen und zu töten. Und meine Familie zu beschützen. Bei dem Letzten habe ich versagt. Aber ich werde nicht dabei versagen, meinen Bruder zu retten.«

Ihre Augen weiten sich, dann senkt sie den Blick auf ihre Hände. Sie liegen in ihrem Schoß. Sie sitzt ungefesselt neben mir, weil ich zu geschockt von den Malen auf ihrer Haut war. »Ich bin nicht schuld an dem, was er dir angetan hat«, sagt sie kleinlaut und hebt mir ihre Hände entgegen. »Aber ich entschuldige mich für das, was mein Vater dir angetan hat. Es tut mir wirklich leid.«

»Ich weiß«, antworte ich und lenke das Auto wieder auf die Straße. Ich muss weiterfahren, denn länger in diese tieftraurigen, enttäuschten Augen zu sehen, würde mich dazu bringen, Dinge zu tun, die ich am Ende noch mehr bereuen würde.

Ich presse die Lippen aufeinander. »Erzähl mir was über dich.« Ich brauche es, dass sie mich von meinen Gedanken ablenkt, bevor ich dem Tier in mir nachgebe und einen Fehler begehe, der ihr am Ende doch noch das Leben kosten wird. Ich darf dem Begehren, sie ganz für mich zu behalten, nicht nachgeben. Ich will sie in meiner Nähe, solange es mir möglich ist. An dem Punkt, an dem es nur darum ging, sie für meine Rache oder als Köder zu benutzen, bin ich längst vorbei. Ich habe einen Punkt erreicht, an dem es um meinen eigenen Egoismus geht. Ich will sie nicht mehr gehen lassen. Aber ich muss, denn sie ist nur ein Mittel zum Zweck, das darf ich nicht vergessen.

Sie stößt ein kurzes, aber hartes Lachen aus. »Du willst, dass wir Konversation betreiben, als wären wir Freunde. Ein Paar auf einem Ausflug nach Disneyland vielleicht?«

»Genau«, sage ich, ohne sie anzusehen. Ich weiß auch so, dass dieses kämpferische Funkeln wieder in ihre Augen getreten ist.

Sie versetzt mir einen harten Faustschlag gegen den Oberarm und ich verreiße das Lenkrad. Mit einiger Mühe bekomme ich den Wagen wieder unter Kontrolle und werfe besorgt einen Blick in den Rückspiegel auf mein Bike, aber es steht sicher verschnürt und wackelt nicht einmal. Es folgen weitere wütende Faustschläge, mit denen sie mich zwingt, wieder an den Straßenrand zu fahren. Ich nehme die Waffe unter meinem Oberschenkel hervor und richte sie auf Raven. »Nur, weil ich gerade so etwas wie Mitgefühl entdecke, heißt das nicht, dass ich dich nicht doch töten werde«, sage ich ernst und sehe sie warnend an.

»Ich glaube dir kein Wort«, brüllt sie und packt den Lauf der Waffe so schnell, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde schockiert zu Eis erstarre und Panik bekomme, dass sich ein Schuss lösen könnte.

»Fuck«, stoße ich aus. Lege meine freie Hand gegen ihre Kehle und drücke hart zu. Viel zu hart, aber die Angst, dass sie sterben könnte, wenn sie weiter an der Pistole zerrt, treibt meinen Puls hoch. »Lass los«, befehle ich ihr und drücke sie gegen den Sitz. Meine Hand umschließt ihre Kehle so fest, dass ihre Augen sich weiten und sie die Waffe tatsächlich loslässt.

Ich lege sie zwischen meine Oberschenkel, ohne meinen Blick von ihrem bleichen Gesicht zu lösen. Der Schock sitzt noch immer so tief, dass ich hektisch atme. Ich drücke fester zu, treibe meine Fingerspitzen hart in ihre Haut, bis sie schmerzhaft aufstöhnt. »Bist du wirklich bereit zu sterben? Denn wenn es heißt ›Du oder ich‹, dann wirst du sterben. Auch wenn mir das nicht gefällt.« Aber ich habe Verpflichtungen. Es gibt Menschen, die mich dringend brauchen. Danach … Danach ist mir alles egal. Aber solange muss ich überleben. Und das werde ich auch. Ich atme zitternd ein, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Es fällt mir normalerweise leichter, die Kontrolle nicht an meine dunkel Seite abzugeben, aber bei ihr ist alles anders. Sie reißt an meiner Selbstbeherrschung.

»Bin ich«, sagt sie tonlos. Ihre Kehle zuckt unter meiner Hand und erst jetzt merke ich, wie sehr ich sie umklammert halte. Ich löse meinen Griff etwas und streiche entschuldigend mit meinem Daumen über die weiche Haut ihres Halses. Ihr Puls flattert unter meiner Fingerkuppe so schnell wie die Flügel eines Kolibris. Zerbrechlich und zart, schießt es mir durch den Kopf und mein Blick brennt sich auf ihre vollen Lippen. Plötzlich will ich wissen, wie sie sich auf meinen anfühlen würden. In ihren Augen steht noch immer die Panik, zusammen mit dem Zorn, den sie empfindet. Trotzdem löse ich meine Hand von ihrer Kehle und lege sie auf ihre Wange. Ich streiche mit meinem Daumen über ihre warmen Lippen und stelle mir vor, sie zu küssen.

»Was tust du da?«, will sie wissen. Die Angst in ihrer Stimme fühlt sich an, wie ein Eimer Eiswasser. Ich reiße mich von ihr los, richte mich auf und lege die Hände fest um das Lenkrad, bevor ich etwas tun könnte, das ich am Ende noch bereue. Ich habe schon etwas getan, das ich bereue. Ich habe sie bedroht, verletzt und grob behandelt. Was unterscheidet mich noch von Sherwood? So will ich keine Frau behandeln. So wollte ich nie sein.

»Tu das nicht noch einmal«, knurre ich mit hämmerndem Puls und fahre los. Ich ignoriere das Brüllen in in meinem Kopf und konzentriere mich auf die Wut in meinem Bauch. Ich darf nicht zulassen, dass sie diese Art von Gefühlen in mir weckt. Nein, sie hat sie schon geweckt. Aber das ist egal. Meine Gefühle spielen dabei keine Rolle. Mein Egoismus und der Wunsch, sie bei mir zu behalten, spielen auch keine Rolle. Hier geht es nicht um mich oder sie. Sie hat eine Aufgabe und die wird sie erfüllen. Danach werden wir uns nie wieder über den Weg laufen. Ich werde sie nicht weiter als für unsere Freiheit nötig in meine abgefuckte Welt reißen.


Ich muss eingeschlafen sein, denn als ich die Augen öffne, fahren wir gerade auf die kleine Auffahrt zu einem flachen, ehemals weißen, Haus. Jetzt sind die Holzwände schmutzig-grau, an ein paar Stellen sogar beschädigt, der Garten ist verwildert und die kleine Schaukel auf der Veranda hatte bestimmt schon bessere Tage. Sie hängt schief an ihren rostigen Ketten. Trotzdem wirkt das Haus nicht heruntergekommen, sondern viel eher alt und etwas schmuddelig. Ganz so, als wäre es seinem Besitzer egal, dass er keinen Schönheitswettbewerb damit gewinnen und auch keine Auszeichnung für den schönsten Garten bekommen würde. Wahrscheinlich ist es ihm gleichgültig, weil dieses Haus weit und breit das einzige ist. Denn als ich mich in der Abenddämmerung umsehe, gibt es die ganze Straße runter nichts weiter als Felder und Bäume und auch in der anderen Richtung gibt es nur das.

 

Ich reibe mir über die Stirn und versuche, meinen Kopf langsam zu bewegen, denn wie auch immer ich geschlafen habe, meinem Hals ist das nicht gut bekommen. Als ich meine Finger gegen die Muskeln in meinem Nacken drücke, erinnere ich mich wieder daran, dass Ice vor ein paar Stunden dort seine Finger hatte und ein Schauer überläuft mich. Ich kann mich an die Hitze seiner Haut erinnern, die Wut und Verzweiflung in seinen Augen. Und da war noch etwas anderes. Etwas, das sich bis tief in meinen Magen gegraben und dort ein Flattern verursacht hat. Eins, das ich als völlig falsch empfinde. Und doch stellt es sich sofort wieder ein, als ich bemerke, dass Ice mich beobachtet. Ich verstehe nicht, was da vor sich geht, aber Ices Nähe wühlt in meinen Eingeweiden und zerrt an jeder Zelle in meinem Körper. In meiner Fantasie flehe ich ihn an, mich auszuziehen, mich in den Dreck zu drücken, mich hinter der Bar in Black Falls auf die Knie zu zwingen, so wie ich es schon so oft Nick habe tun lassen.

Ich löse die Finger von meinem Nacken und presse die Lippen fest aufeinander, entsetzt von den Gefühlen, die heiß meinen Körper durchlaufen, als er mich mit diesem nachdenklichen und zugleich intensiven Blick ansieht. Vorsichtig rutsche ich weiter gegen die Tür und lege meine Hand hinter meinem Rücken auf den Türgriff.

»Was wollen wir hier?«, frage ich ihn, um seinen starren Blick von mir abzulenken. Seine Gedanken auf irgendetwas anderes als das zu lenken, woran er gerade denkt.

Er wendet sich von mir ab und zieht den Schlüssel aus dem Schloss. »Hier lebe ich vorläufig.«

Ich nutze den Moment, in dem er abgelenkt ist und ziehe an der Türklinke hinter mir. Mit einem dumpfen Geräusch öffnet sich die Tür, und beinahe wäre ich aus dem Pick-up gefallen, aber ich kann mich gerade so noch halten und rutsche eilig aus dem Auto. Ich bin verwundert darüber, dass Ice überhaupt nicht zu reagieren scheint, aber statt mir darüber Gedanken zu machen, werfe ich einen letzten Blick auf ihn, um sicherzugehen, dass er nicht mit seiner Waffe auf mich zielt, bevor ich mich abwende, um loszulaufen. Ich denke nicht einmal über die Richtung nach, schaue nicht wohin, weswegen ich abrupt die Luft aus meiner Lunge entweichen lasse, als ich gegen einen harten Körper stoße und sich Arme um mich schließen.

Ich versuche, mich zu wehren, setze alle Kraft ein, die ich aufbringen kann und trete dem Teenager, der mich umklammert hält, sogar auf die Füße, aber der Junge lacht nur und bleibt völlig unbeeindruckt von meinen Anstrengungen. Ich hänge mich in seine Umarmung, strample mit den Beinen und rudere mit den Armen, in der verzweifelten Hoffnung, dass er das Gleichgewicht verliert und ich mich befreien kann, sobald wir beide auf dem Boden landen. Aber der Junge ist stark, viel stärker als ich, und strauchelt kaum.

»Halt sie gut fest«, höre ich Ice hinter mir lachend sagen.

»Sie ist hübsch«, antwortet der Junge, auf dessen Oberlippe sich ein weicher Flaum gebildet hat. Wahrscheinlich ist er nicht älter als 15 und doch viel stärker, als er sein sollte. Er löst so unerwartet seine Arme von mir, dass ich stolpere und gegen Ice pralle, der hinter mir steht und mich auffängt.

Ich fühle mich, als wäre ich nichts weiter als ein Spielzeug, das zwischen zwei Männern hin und her geworfen wird. Ice legt seine Arme um mich und zieht mich an seinen bebenden Körper. Er lacht hinter mir, als wäre diese Situation nicht beängstigend für mich, was mich nur noch wütender macht. »Lass mich sofort los«, knurre ich mit gefletschten Zähnen, als wäre ich ein Hund.

Ice beugt seinen Kopf zu mir nach unten und legt seine raue Wange an meine. Ich spüre seine Wärme, seinen Atem auf meiner Haut und erstarre mit heftig rasendem Herzen. Als er spürt, dass ich meinen Widerstand aufgebe, zieht er mich nur noch näher an seinen Körper. So nahe, dass ich fühle, wie seine Muskeln sich gegen meinen Rücken pressen und seine Brust sich beim Atmen hebt und senkt. »Wo hättest du hinlaufen wollen?«, flüstert er. »Hier gibt es meilenweit nichts. Du wärst wahrscheinlich irgendwo in diesem Nichts verloren gegangen und gestorben.«

Der Junge vor mir lacht leise auf. Er scheint sehr amüsiert zu sein. Ich kneife die Augen zusammen, versuche das heiße Kribbeln, das Ices Körper so nah an meinem in mir auslöst, zu ignorieren und beginne wieder, mich zu winden.

»Lieber bin ich tot«, sage ich.

Der Junge lacht noch lauter und verschränkt die Arme vor der Brust. Seine Augen sind auch blau, aber deutlich dunkler als die von Ice, mit einem fast schwarzem Ring um die Iriden. Er ist im gleichen Alter wie Nicks Sohn, mit dem ich viel Zeit verbracht habe, wenn er allein war. Und er war genauso oft allein wie ich. »Sie ist lieber tot als dein Spielzeug zu sein, das will was heißen. Kommt nicht oft vor.«

Ices Brust bebt hinter mir, als er auch zu lachen beginnt. »Bist du dir sicher?«, will er von mir wissen.

Ich hebe den Fuß und lasse ihn mit aller Kraft auf seinen niedergehen, aber Ice zuckt nicht einmal. »Ich bin mir sicher.«

»Ich hoffe, du hast irgendetwas Essbares da drin?«, will Ice wissen und beginnt, sich mit mir in seinen Armen langsam auf das Haus zuzubewegen.

Der Junge fährt sich durch die Haare. »Nicht wirklich, Will kommt erst später vorbei.«

»Was ist das hier?«, will ich wissen, als Ice mich in das Haus drängt. Wir stehen sofort in einem spärlich eingerichteten Wohnzimmer, das von mehreren Öllampen beleuchtet wird. Anscheinend gibt es hier nicht einmal Strom.

»Das Haus, in dem sich mein Bruder vor deinem Vater versteckt hält, denn wenn dein Vater ihn findet, wird er ihn umbringen. So wie unsere Mutter.« Ice lässt mich los und drückt mich auf das geblümte Sofa, das aussieht, als hätte es schon ein paar Jahrzehnte hinter sich.

Ich sehe den Jungen noch einmal an und erkenne die Ähnlichkeit, die die beiden haben. Ice ist viel muskulöser, kantiger, da schon deutlich älter und schon längere Zeit zum Mann gereift. Aber wenn man genau hinsieht, ist der Junge eine sehr kindliche Version von Ice. Es liegen etwa zehn Jahre zwischen ihnen.

»Mein Vater würde ein Kind töten?«, hake ich ungläubig nach. Ich kenne meinen Vater kaum, aber dass er ein Kind töten würde? Vielleicht würden Menschen, die Kindern den Umgang mit Waffen beibringen, auch Kinder töten. Aber trotzdem habe ich Zweifel. Oder ich will es einfach nicht glauben. Denn was weiß ich schon über den Mann, den ich in meinem Leben vielleicht zehn mal gesehen habe?

»Er würde nicht eine Sekunde zögern«, antwortet Ice mit gerunzelter Stirn. Er sieht mich nachdenklich an. »Ich kann nachvollziehen, dass du mich hasst und nichts lieber tun würdest, als so weit weg wie möglich von mir zu kommen. Aber kann ich mich darauf verlassen, dass du es nicht so eilig hast, zu sterben und dich fünf Minuten mit meinem Bruder allein lassen?«

Ich ziehe grinsend eine Augenbraue hoch.

»Wieso, willst du für mich kochen?«

»Nein, ich will auf die verfickte Toilette.«

Ich lache spöttisch auf. »Hier gibt es eine Toilette?«

»Wir haben auch fließend Wasser«, sagt der Junge düster. »In der Küche gibt es sogar einen Gasherd. Gerade genug zum Kochen, aber immerhin.«

Ich mustere Ice neugierig, der nicht mal mit einem Muskel in seinem Gesicht zuckt. »Also?«, will er harsch wissen.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und lehne mich zurück. »Finde es doch heraus.«

Ice verzieht grimmig das Gesicht, dann zieht er die Pistole aus dem Bund seiner Jeans und gibt sie seinem Bruder. »Schieß nur, wenn du musst, Sam.«

Sam nickt mit fest aufeinandergepressten Lippen. »Wäre schade um die Kleine.«

»Wäre es«, sagt Ice, dann geht er aus dem Wohnzimmer, ohne sich noch einmal nach mir umzusehen.

»Du wohnst hier draußen ganz allein?«, will ich von Sam wissen und lasse meinen Blick über den mageren Jungen gleiten. Er ist nicht ausgehungert, sondern einfach nur schlaksig, so wie die meisten Jungs in seinem Alter. Seine Jeans sind zerschlissen, sein Shirt ausgewaschen, aber er wirkt sauber und nicht so, als wäre er vernachlässigt.

»Ja, und? Ice ist jetzt wieder hier. Und Will kommt manchmal, er bringt Essen und was ich so brauche. Und ich habe Sultan, der liegt nur gerade in meinem Bett und schläft. Aber er könnte dich umbringen, wenn ich ihn lasse.«

»Sultan?«, hake ich nach.

»Mein Schäferhund. Ice hat ihn auf der Straße gefunden. Und ich bin auch nicht so harmlos, wie du vielleicht denkst.«

»Trotzdem bist du allein?«, hake ich besorgt nach. Ich lasse meinen Blick noch einmal durch das Zimmer schweifen. Es gibt einen kleinen Wohnzimmertisch, eine Kommode, auf der zwei Öllampen stehen, und einen Sessel. Mehr nicht. Ein wenig erinnert mich das alles an mein eigenes Leben im Trailer. Sam hat auch nur dieses kleine Zuhause, seinen Bruder und diesen Will. Wahrscheinlich ist er viel allein. Offensichtlich geht er nicht mal zur Schule. Wie sollte er, er befindet sich auf der Flucht vor meinem Vater. Ich fahre mir schaudernd durch die Haare, als ich daran denke, was Sam schon alles durchmachen musste. Und jetzt wird er auch noch gejagt und muss um sein Leben kämpfen. Dabei ist er noch ein Kind. Uns trennen höchstens drei Jahre. Ich hatte die Chance, meinen Abschluss zu machen. Aber was ist mit ihm? Plötzlich kommt mir mein eigenes Leben so viel besser vor. Ich hätte dankbarer sein sollen, für das, was ich hatte.

»Was interessiert es dich? Du weißt gar nichts über uns«, fährt er mich trotzig an. »Ice gibt sein Bestes. Dein Vater ist das Arschloch.«

Ich versteife mich, als ich die Wut in seinem Gesicht sehe. Ich hätte ihn nicht verurteilen sollen. Eigentlich habe ich auch nicht Sam verurteilt, sondern Ice. Und auch das war nicht richtig. Sam hat recht, ich weiß nicht, warum er gezwungen ist, noch schlechter zu leben als ich. Warum er ganz allein hier draußen ist und sich verstecken muss. Wahrscheinlich sagt er die Wahrheit und Ice gibt wirklich sein Bestes.

»Es tut mir leid«, sage ich leise und reibe mir über die Arme, obwohl es draußen noch immer sommerlich warm an diesem Abend ist, fröstelt es mich, was wohl am Stress liegt, dem ich ausgesetzt bin. Ich bin es eben nicht gewohnt, entführt zu werden. »Ich will das alles nur besser verstehen.«

In diesem Moment kommt Ice zurück und mustert uns beide aufmerksam. »Alles in Ordnung hier?«

Sam zuckt nur mit den Schultern. »Ich geh kochen«, sagt er. Dann wirft er einen Blick über die Schulter zurück. »Es gibt Fertigsoße und Spaghetti.«

»Mein Lieblingsessen«, sage ich versöhnlich. Ich weiß nicht, warum ich Mitleid mit ihm habe, vielleicht, weil er ein ähnliches Leben führt wie ich, aber er tut mir wirklich leid. Sam antwortet mir nicht, stattdessen geht er ohne einen weiteren Blick einfach um die Ecke und verschwindet aus meinem Blickfeld. »Ich wollte ihn nicht verärgern«, wende ich mich an Ice. Ich reibe mir über die Stirn und über die Schläfen, hinter denen es pocht. Ich bin übermüdet, obwohl ich im Auto geschlafen habe.

»Du hast dir nur Sorgen um ihn gemacht. Er erlebt das nicht oft, dass sich jemand um ihn sorgt.« Ice setzt sich neben mich auf das Sofa, dann sieht er mich ernst an. »Er hat nur noch mich und ich würde ihm gern mehr als das hier bieten, aber solange dein Vater noch da draußen ist, ist das schwierig. Der Plan ist, ihn in Sicherheit zu bringen, bis ich die Sache mit deinem Vater erledigt habe. Das hier ist nur für ein paar Tage, bis wir etwas gefunden haben, wo er sicher sein kann, während Sherwood und seine Jäger hinter mir herjagen und ich sie von Sams Spur abbringe.«

»Ihn töten?«, hake ich mit abfälligem Blick nach.

»Wenn es nötig wird.«

»Und ich?«, frage ich hoffnungsvoll. »Wenn es Sam hilft, dann okay. Dann bin ich dabei.« Für Sam, nicht für Ice. Wenn ich helfen kann, Sam zu retten, dann möchte ich das tun. Er ist ein Kind. Und für das, was mein Vater ihm angetan hat und ihm noch antun will, hasse ich ihn abgrundtief. Noch mehr, als ich es bisher getan habe.

»Vielleicht lässt er sich auf einen Deal ein. Dein Leben gegen unseres. Aber bevor wir verhandeln können, ist es wichtig, dass er Sam erst gar nicht finden kann.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch, aber eigentlich bin ich nicht überrascht von Ices Plänen. Er will mich eintauschen, damit kann ich leben. Wenn es wahr ist, dass mein Vater mich in Black Falls hat aufwachsen lassen, um mich zu schützen, dann wird er hoffentlich kein Interesse daran haben, mich zu töten. Ich wäre bei ihm also sicher. Anders als Sam und Ice. »Und warum ist Sam hier, wenn du vorhattest, ihn in Sicherheit zu bringen? Ist er hier nicht sicher?«

 

Ice stößt genervt die Luft aus, wahrscheinlich findet er meine ständige Fragerei nervtötend. Besonders, da er eher der schweigsame Typ ist. »Weil ich noch nicht genau weiß, wo Sam sicher sein wird. Außerdem hatte ich ursprünglich andere Pläne. Ich wollte seine Ex umbringen und ihn damit wütend machen. Er wäre abgelenkt gewesen und ich hätte Will sagen können, dass er Sam wegbringen kann, während dein Vater mich jagt.«

»Und du hättest deinen Rachedurst gestillt. Schon mal darüber nachgedacht, dass es besser wäre, wenn einer von euch nachgibt? Nicht, dass ich meinen Vater verteidigen möchte. Aber ein Mord folgt dem nächsten.« Ich schüttle den Kopf und verfalle in ungläubiges Gelächter. »Ich kann nicht glauben, dass ich über das Töten von Menschen rede, als würde ich bei Kaffee und Kuchen mit einer Freundin über das Wetter sprechen.« Ich schüttle noch einmal den Kopf. »Vergiss es einfach. Mich interessiert nur, ob es Sam gut gehen wird.«

»Will hat vor Kurzem rausgefunden, dass unser Großvater noch leben könnte. Sobald wir mehr wissen, wird Will ihn zu ihm bringen.« Ice reibt sich nachdenklich über seinen Unterkiefer. Sein Blick geht irgendwo in die Ferne und ich erkenne deutlich Zweifel in seinem Gesicht. »Sam war noch ein Baby, als wir ihn das letzte Mal gesehen haben. Es ist damals viel passiert. Aber bei ihm wäre er sicher.«

»Im Gegenzug zu mir«, murmle ich leise und wende den Blick auf meine Hände im Schoß.

»Tut mir leid, Süße. Aber ich habe nicht wirklich eine Wahl. Ich brauche dich.«

»Wie lange willst du mich gefangen halten? Ein paar Tage? Wochen?«

Ice grunzt eine Mischung aus Schnauben und Lachen, dann beugt er sich etwas näher zu mir. »Wenn es sein muss.«

Ich reibe mir wieder über die Stirn. In seiner Nähe fällt mir das Nachdenken schwer. »Und wenn ich mit ihm rede? Ich rufe ihn an …«, schlage ich vor.

Ice schüttelt den Kopf. »Lockst ihn direkt zu uns? Er wird den Anruf nachverfolgen lassen. Das wird nicht passieren. Handyempfang ist hier ohnehin ein Geschenk. Also denk nicht mal dran.«

»Wie du meinst«, sage ich nur und weiche seinem arroganten Blick aus, der fast schon etwas Teuflisches hat. Ich habe keine Lust, weiter auf Ices Pläne einzugehen. Ich bin nur eine Schachfigur, mehr nicht.

Das Tapsen von Pfoten und das leise Schaben von Krallen auf PVC lenken meine Aufmerksamkeit zur Tür. Ein schwarzer Kopf erscheint im Türrahmen, schwarze Augen, die im Schein der Öllampen funkeln, mustern mich neugierig, dann kommt ein großer Hund auf mich zu. Sein Schwanz wedelt munter, er stupst mich mit seiner Nase neugierig an, legt vertrauensvoll seinen Kopf auf meinen Oberschenkel und winselt leise. Ich hebe ein wenig aufgeregt meine Hand und lasse sie nervös über seinem Kopf schweben. Der letzte Hund, den ich berührt habe, war mein eigener gewesen. Und diese Augen, die mich so treu anschauen, erinnern mich an ihn.

»Das ist Sultan«, sagt Ice und nimmt meine Hand. Er legt sie gemeinsam mit seiner auf den Kopf des Hundes. Seine Hand ist warm und fühlt sich angenehm schwer auf meiner an. Als ich fühle, wie seine Hitze meinen Arm hochkriecht und sich in meinem Magen niederlässt, ziehe ich mich zurück und lege meine Hand stattdessen auf den Rücken des Hundes.

Ice lacht leise. Er beugt sich zu mir, seine Wange an meiner. »Da ist etwas, das kannst du nicht leugnen. Versuch es, aber ich weiß, dass dein Körper dich verrät. Er tut einfach nicht das, was du von ihm erwartest«, flüstert er. Ice lehnt sich mit einem zufriedenen Grinsen wieder zurück.

Ich streichle Sultan und versuche, das Zittern meiner Finger so gut es geht zu verbergen. Aber mein Atem flattert und verrät Ice, dass er recht hat. Da ist etwas Körperliches, das im völligen Widerspruch zu dem steht, was ich fühlen sollte. Was mein Verstand fühlt. »Denk, was du willst. Ich hasse dich trotzdem«, werfe ich ein.

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