Breathe

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»Was willst du dann von mir?«, fahre ich ihn an.

Ice zieht die Schultern bis zu seinen Ohren hoch und lässt sie wieder fallen. »Steig endlich in das verdammte Auto ein«, sagt er harsch, greift so schnell an mir vorbei, dass ich den Augenblick verpasse, in dem ich mit meinem Knie seine Hoden hätte erwischen können. Er reißt die Tür auf, packt mich brutal und zwingt mich in das Auto. Als ich auf dem Fahrersitz sitze, fällt mein Blick auf den Schlüssel, der noch immer im Zündschloss steckt und leicht hin und her schwingt. Ich zögere eine Sekunde zu lange, denn noch bevor ich meine Finger an den Schlüssel legen kann, hält Ice mir seine Waffe wieder an den Kopf. »Rüber«, befiehlt er mit hartem Tonfall.

»Du bist ein Arschloch«, stoße ich aus, rutsche aber auf den Beifahrersitz. Doch bevor ich nach drüben rutsche, greife ich hinter den Sitz, bekomme die Smith & Wesson zu fassen und zerre sie nach vorn. So schnell ich kann, richte ich mich auf, wende mich auf dem Beifahrersitz Ice zu und richte die Waffe auf ihn. Mein Finger liegt auf dem Abzug. Ich spüre den Druck des Stahls. Ich müsste nur etwas mehr Kraft ausüben. Mich nur überwinden, es zu tun. In meiner Vorstellung sehe ich es ganz deutlich, seine schreckgeweiteten Augen, das klaffende Loch in seiner Stirn.

Ich zögere nur einen Atemzug lang. Aber diese Zeit, in der mir durch den Kopf geht, wie es aussehen würde, wenn sein Gesicht vor meinen Augen explodieren würde, reicht ihm, um in das Auto zu steigen und sich auf mich zu werfen. Er bekommt den Lauf der Waffe zu fassen und richtet sie nach oben. Ein Schuss löst sich und hinterlässt ein walnussgroßes Loch in der Decke. Ich keuche auf, lasse zu, dass er mir die Waffe entreißt, und drücke meine Hände gegen meine Ohren, in denen der Knall klingelt.

»Die gehört Rage«, stellt Ice mit einem Blick auf das in den Griff geritzte R fest und setzt sich hinter das Lenkrad. Er verzieht das Gesicht und wirft die Waffe aus dem Fahrzeug. »Fuck! Fuck! Ich kann nicht fassen, dass du mich töten wolltest.«

Ich schnaube abfällig. »Du wolltest mich auch töten.«

»Aber ich hab es nicht getan.« Ice beugt sich zu mir rüber, packt mein Gesicht und drückt mir Daumen und Zeigefinger in die Wangen, bis ich zischend einatme vor Schmerz. Seine Augen wirken deutlich dunkler. »Tu das nie wieder.«

Erst als er den Motor startet und die Tür des Trucks zuzieht, spüre ich, wie sehr jeder Muskel in meinem Körper sich verkrampft hat und wie wenig handlungsfähig ich mich fühle. Aber ich kann ihn noch immer mit meinem Mundwerk provozieren. »Ich will wissen, was du mit mir vorhast.«

Ice steuert den Pick-up auf die Straße zurück. Er schnaubt, legt seine Pistole griffbereit zwischen seine Schenkel und hält das Auto nach nur wenigen Metern wieder an, um sich unter dem matten Licht der Lampe an der Decke im Cockpit umzusehen. »Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, was ich mit dir tun werde, aber es wird hoffentlich weder dir noch deinem Vater gefallen«, sagt er, dann beugt er sich zum Ablagefach hin und zieht einen Spanngurt hervor. »Deine Hände!«

»Vergiss es«, stoße ich entrüstet aus und rücke von ihm weg so weit ich kann. Er kennt Rage, meinen Onkel. Er kennt meinen Vater. Das alles hier ist kein Zufall. Als mir das bewusst wird, droht der Schock mich zu verschlingen. Mein Körper zittert unkontrolliert. Ich sitze nicht zufällig neben ihm im Auto. Er kam nicht zufällig in die Bar, in der ich gearbeitet habe. Er wollte mich wirklich töten.

Sein Blick verengt sich und so schnell wie eine Kobra schnappt er nach meinen Händen und zieht sie zu sich. Er umwickelt meine Handgelenke mit einem Ende des Gurts, das andere Ende wickelt er sich um seine Faust. »Zuerst solltest du wissen, dass es besser ist, wenn du tust, was ich dir sage, dann werden wir uns wahrscheinlich besser verstehen.«

Ich lache dumpf auf und verziehe das Gesicht. »Und was sollte ich noch wissen?«

»Dass ich normalerweise nicht zögere, wenn es darum geht, einen Menschen zu töten.« Seine Miene wird hart, dann legt er den Kopf schief, und in seinen Augen kann ich sehen, dass er jedes Wort ernst meint. Er sagt die Wahrheit, einen Menschen zu töten, bedeutet ihm eigentlich nichts.

»Und warum zögerst du jetzt?«, will ich bissig wissen. Ich habe nicht vor, ihm zu zeigen, wie angespannt ich bin. Und ich habe nicht vor, mich verunsichern zu lassen. Ich weiß nicht viel über Entführungen, aber ich weiß, dass es wohl das Klügste wäre, wenn ich versuche, einen klaren Kopf zu behalten. Denn ich werde mich nicht einfach fügen. Wie konnte ich in so eine Situation geraten? Es hätte mir klar sein müssen, dass mit diesem Arschloch etwas nicht stimmt. Warum habe ich nicht auf das überlaute Warnsignal in meinem Verstand gehört? Weil ein anderer Teil meines Körpers lauter gebrüllt hat. Der Teil, der mich immer wieder Dummheiten begehen lässt. Der dunkle Teil, der auf der Suche nach etwas ist, von dem ich nicht weiß, was es ist.

Ice reibt sich mit dem Daumen über den Unterarm. Ich hatte bisher keine Zeit, mir seine Tattoos genauer anzusehen, aber diese Bewegung lenkt meine Aufmerksamkeit auf etwas, das ich kenne, weil ich es schon bei zwei Männern gesehen habe. Rage und meinem Vater. Beide hatten dieses Symbol auf ihren Lederkutten, wenn sie uns besucht haben. Es ist das Zeichen eines Motorradclubs, das weiß ich, weil ich manchmal fernsehe. Ich unterdrücke jede Reaktion, weil ich nicht will, dass Ice mitbekommt, dass ich das Symbol erkannt habe. Hier geht es also um irgendwelche Streitereien unter Bikern und ich bin unverschuldet dazwischengeraten.

»Vielleicht ist mir klar geworden, dass du mir lebend mehr hilfst«, sagt er mit einem breiten Grinsen. »Vielleicht ist mir aber auch klar geworden, dass Rache sich so viel besser anfühlen könnte, wenn man sie länger auskosten kann. Ich könnte dich jetzt töten und würde mich ein paar Tage, vielleicht auch nur Stunden, besser fühlen. Oder ich behalte dich einfach eine Weile und genieße die Vorstellung, wie viel wütender es deinen Vater machen wird zu wissen, dass du bei mir bist.« Ice packt mein Kinn und zwingt mich, ihn anzusehen. »Du bist die Rache für das Arschloch, das meine Mutter umgebracht hat, Stiefschwesterchen.«

Ich schnappe heftig nach Luft und reiße mich los, dann rücke ich so weit, wie es möglich ist, von ihm ab. Ich mustere Ices Gesicht nachdenklich. Vielleicht hoffe ich, darin eine Lüge zu erkennen, aber alles, was ich sehe, ist Hass und Wut. Ich weiß, mein Vater ist zu Gewalt fähig. Ich weiß, er ist alles andere als ein Heiliger. Trotzdem werfe ich ihm vor, gelogen zu haben. »Das ist nicht wahr.«

»Was davon? Dass du meine Stiefschwester bist?« Er zwinkert mir zu. »Glaub es, meine Mutter war die Frau deines Vaters, bis er sie ermordet hat.« Ice lacht und schüttelt den Kopf. »Du bist die Tochter eines Frauenmörders.« Seine Stimme klingt dabei giftig, hasserfüllt. Als würde er diese Worte regelrecht vor meine Füße kotzen.

Ich schnaube abfällig, erschauere aber innerlich und spanne jeden Muskel in mir an, weil ich ihm glaube. Irgendwie. Dass es da eine andere Familie gibt, würde erklären, weswegen er nur so selten bei uns vorbeigeschaut hat. Wusste meine Mutter davon? Aber ich kann ihm nicht sagen, dass ich ihm glaube. Mein Vater ist kein guter Mensch. Er hat meine Mutter manchmal so grün und blau geschlagen, dass ich darüber nachgedacht habe, ihn mit Rages Waffe zu erschießen. Ich war keine acht Jahre alt, als der Gedanke mir zum ersten Mal kam. Ich habe seine Besuche gehasst und war froh, dass er nur so selten vorbeischaute. Anders als bei Rage, ihn mochte ich. Er war ruhig, freundlich, hat mit mir lange Wanderungen im Wald gemacht und mich gelehrt, die Natur zu lieben.

»Du hast noch vor fünf Minuten gestanden, dass du auch tötest, was macht dich also zu etwas Besserem?«

Er sieht mich an und zieht einen Mundwinkel hoch. »Nichts, Süße. Rein gar nichts.«

Schaudernd ziehe ich mich mehr auf meine Seite zurück. Ich drücke mich so eng an die Tür, dass ein Teil von mir hofft, sie würde aufspringen, aber das wird nicht passieren, weil Ice die Türen von innen verriegelt hat. »Du willst mich vielleicht nicht töten, aber ich verspreche dir, ich werde nicht noch einmal zögern«, fahre ich ihn an. In meinem Inneren rast Blut und Adrenalin durch meine Venen, so sehr, dass ich kaum atmen kann und mir ganz schwindlig ist. Aber meine Stimme klingt fest und entschlossen, was ihn zu beeindrucken scheint, denn er wirft mir einen interessierten, fast schon amüsierten Seitenblick zu.

»Du bist ganz schön tough, Süße«, sagt er mit einem dunklen Funkeln in den Augen. »Zuerst einmal bleibst du einfach bei mir. Und dann sehen wir weiter. Ich könnte dich noch immer töten. Vielleicht morgen.«

Ich starre hoffnungslos aus dem Fenster, in der Ferne tauchen die Lichter der nächsten Stadt auf, aber als wir an die Kreuzung kommen, biegt Ice rechts auf die einsame Straße ab, die gut zwanzig Meilen durch nichts als Wald und Äcker führt. Als ich das sehe, sinkt auch die letzte Hoffnung in mir, ich könnte vielleicht in der Stadt irgendwie auf mich aufmerksam machen.

»Was bringt es dir, wenn mein Vater nicht einmal weiß, dass du mich entführt hast, um dich zu rächen?«, frage ich ihn und muss schreien, um den harten Rock zu übertönen, den Ice im Radio eingestellt hat. Ich hinterfrage es nicht einmal, ob Ice mir die Wahrheit gesagt hat. Ich glaube ihm, dass mein Vater seine Mutter getötet hat. Es gab Situationen, da hat nicht viel gefehlt und er hätte meine auch getötet. Manchmal hat es ihn wütend gemacht, wenn er überraschend vorbeikam und sie high und betrunken war. Manchmal hat es ihn wütend gemacht, wenn sie so nervös war, dass sie sein Essen hat anbrennen lassen. Und manchmal hat sie auch gar nichts falsch gemacht. Was er nie getan hat, war mich zu schlagen. Aber wahrscheinlich hätte er mich dafür überhaupt erst mal beachten müssen. Das Einzige, was er mir jemals beigebracht hat, was ihm wichtig war: dass ich mich selbst schützen konnte, wenn er nicht da war.

 

Ice dreht das Radio leiser, sieht mich flüchtig an, dann zuckt er mit den Schultern. »Er wird es rausfinden, da bin ich mir sicher. Wann auch immer er wieder jemanden schickt, um nach dir zu sehen.«

»Ich lebe seit Monaten allein. Niemand war da, um nach mir zu sehen. Meine Mutter ist spurlos verschwunden, mein Vater war seit Jahren nicht mehr in Black Falls.«

»Sein Prospect war erst vor ein paar Wochen hier, sonst hätte ich dich gar nicht gefunden. Dein Vater hat dich also nicht vergessen. Er überwacht dich nur aus der Ferne.«

»Wieso sollte er das tun?«, will ich verwirrt wissen und bezweifle jedes Wort, das über seine Lippen kommt.

»Er macht sich eben Sorgen um dich, will aber nicht, dass jemand davon erfährt, dass es dich gibt. Er hat viele Feinde. Du bist seine Tochter. Es gibt einen Grund, warum er wegen dir unsere Gesetze missachtet hat.«

»Was für Gesetze?«

»Die, die deine Welt von unserer trennen.«

»Was ist das für eine Welt? Für Mörder und Vergewaltiger?«

»Die, in der er Kids dazu zwingt, für ihn zu arbeiten. Die, in der er mit meiner Mutter zusammen war und sie getötet hat. In der er Krieg gegen andere Clans führt und alles vernichtet, was ihm und seinen Zielen im Weg steht.« Ice knurrt diese Worte regelrecht und wirft mir einen hasserfüllten Blick zu. »Du weißt offensichtlich nichts über deinen Vater.«

Ich senke verlegen den Blick, als ich den Schmerz in Ices Augen sehe und ich diese tiefe Verletzung seiner Seele erkenne. Wahrscheinlich habe ich wirklich keine Ahnung, denn obwohl meine Mutter keinen Orden verdient hat, war sie doch auf ihre Art immer eine Mutter und mir ging es gut. Und Black Falls ist vielleicht die langweiligste Kleinstadt im ganzen Land, aber unser Leben dort war immer sicher. Ich schüttle mich, als mir klar wird, dass ich gerade einen Anflug von Mitleid mit meinem Entführer habe. Auf keinen Fall sollte ich solche Gefühle zulassen. Alles, was er von mir bekommen sollte, ist Hass und Zorn.

»Wir haben alle so unsere Probleme, aber das gibt dir nicht das Recht, mir das hier anzutun. Ich hab nichts mit dem zu tun, was er dir und deiner Familie angetan hat.«

»Was tue ich dir denn an? Du wolltest raus aus deinem Leben, ich helfe dir nur dabei«, schnaubt er, dann schaltet er das Radio an und dreht es so laut, dass klar ist, für ihn ist diese Unterhaltung beendet.

Ich drehe mich von ihm weg zur Tür hin, lehne meine Stirn wieder gegen die kühle Scheibe und erlaube es mir, in der Dunkelheit meinen Tränen freien Lauf zu lassen, während draußen Felder an uns vorbeihuschen, die in der Nacht kaum mehr als tiefschwarze Flächen sind, hin und wieder unterbrochen von kleinen Wäldern. Möglichst unauffällig versuche ich, den engen Strick um meine Handgelenke zu lockern und meine Hände aus den Schlingen zu befreien, aber je mehr ich mich darin winde, desto enger ziehen sich die Fesseln zusammen. Und als ich aufsehe und in das breit grinsende Gesicht meines Entführers blicke, gebe ich auf und lasse meine Hände kraftlos in meinen Schoß fallen.

Ich lehne mutlos den Kopf wieder gegen die Scheibe, und während ich meinen Tränen gestatte zu fließen, die Landschaft monoton an uns vorbeifliegt und ich darüber nachdenke, wie ich vor ihm fliehen kann, oder was mich am Ende dieser Reise erwarten könnte, kämpfe ich gegen die Müdigkeit, die mich befallen hat. Was ich auf gar keinen Fall tun darf, ist einschlafen. Die Kontrolle über das verlieren, was mit mir geschehen wird. Wenn ich überhaupt noch Kontrolle darüber habe. Aber der Gedanke einzuschlafen, macht mir noch mehr Angst. Er lässt mich befürchten, dass im Schlaf Dinge passieren könnten, die meine Situation noch verschlimmern könnten. Oder vielleicht könnte ich eine Möglichkeit zur Flucht verpassen. Oder ich könnte aufwachen und alles wäre nur noch grauenvoller als jetzt schon. Wenigstens weiß ich jetzt noch, wo ich mich befinde. Aber wenn ich einschlafe … Ich könnte wer weiß wo aufwachen.

3



Schon seit einiger Zeit kämpft Raven mit der eigenen Müdigkeit, wahrscheinlich hin und her gerissen zwischen ihrer Angst vor mir, dem, was ich mit ihr vorhaben könnte und dem Bedürfnis, die Augen zu schließen, in der Hoffnung, später aufzuwachen und alles war nur ein Traum. Mitleid mit einem Opfer kenne ich eigentlich nicht, aber bei ihr ist es anders. Was wohl daran liegt, dass ich noch nie längere Zeit mit einem Opfer verbracht habe. Bisher waren sie nichts weiter als ein Auftrag, den es zu erledigen galt. Sie ist die Erste, die kein Auftrag ist, sondern nur ein Mittel zur Befriedigung meiner Rache. Und sie ist die Erste, die nicht aus meiner Welt stammt und das alles nicht verdient hat. Ich bin ein Jäger, ausgebildet zu jagen. Aber dabei geht es nur um Abtrünnige. Mit alldem hat sie nichts zu tun.

Ich stöhne innerlich, als ich an die Szene vorhin im Wald denken muss. Diese zierliche Frau war so mutig, trotzig und selbstbewusst. Stärker als mancher Abtrünniger, der vor mir in den Ketten gehangen hat und aus dem ich stundenlang Informationen gefoltert habe. Sie hat mich zornig gemacht. Und sie hat mich erregt. Ihren Körper an meinem zu spüren, ihre heftige Atmung und ihre Wärme zu fühlen, hat mich fast die Kontrolle verlieren lassen. Ich habe mit mir selbst gekämpft. Ich war so nahe dran, meine dunkle Seite rauszulassen.

Wir sind jetzt schon etwas länger als zwei Stunden unterwegs. Sie seufzt leise, als ich um eine Kurve fahre und ein Auto uns entgegenkommt, dessen Lichter durch das Innere des Pick-ups huschen. Ihre Augen öffnen sich, sie sieht mich an, für den Bruchteil einer Sekunde verwirrt, doch dann fällt ihr wohl ein, wo sie sich befindet und ihr Blick verfinstert sich. Sie richtet sich auf, drückt sich mit dem Rücken gegen die Autotür und presst trotzig die Lippen aufeinander. Mir gefällt das Funkeln in ihrem Blick, der Zorn, den sie gegen mich richtet. Die Vorstellung, wie es wäre, diese Wut in eine viel heißere Richtung umzulenken, macht mich wahnsinnig vor Verlangen. Und dann diese Lippen. Obwohl sie sie zusammenpresst, sind sie noch immer voll und sehen weich und verführerisch aus. Als wären sie geschaffen, um erobert zu werden. In meinem Kopf sehe ich mir selbst dabei zu, wie ich über diese volle Unterlippe lecke, bevor ich sie zwischen meine Zähne nehme und sanft beiße. Eigentlich bin ich nicht so. Meine Gedanken schockieren mich selbst, aber irgendetwas hat sie an sich, das mich nicht loslässt und aus mir jemanden macht, der ich nicht sein will. Dafür verabscheue ich mich. Dabei habe ich schon viel schlimmere Dinge getan, als anzügliche Gedanken über eine Frau zu haben.

»Wo sind wir?«, will sie harsch wissen.

Ich blinzle verwirrt. »Mitten am Arsch der Welt, würde ich sagen.« Ich muss mich mehr auf die Straße konzentrieren, auch wenn es hier meilenweit nur geradeaus geht, das Auto hält sich nicht von allein auf der Straße. Ich grinse, als sie das Gesicht verzieht. Und ich grinse noch einmal, als ihr Blick auf die Pistole fällt, die auf meinen Oberschenkeln liegt. »Das wird nichts, Süße«, sage ich bestimmt.

»Ich habe gar nicht daran gedacht«, antwortet sie düster.

»Wenn du nicht daran gedacht hättest, wüsstest du nicht, wovon ich eben geredet habe«, werfe ich grinsend ein und ernte wieder nur ein abfälliges Schnauben. Irgendwie finde ich es sexy, wenn sie das tut, weswegen es bei mir die Wirkung, die sie sich erhofft, völlig verfehlt. Ganz im Gegenteil.

Ein paar Meter vor uns taucht ein Schild im Scheinwerferlicht auf, das ein Motel bewirbt. »Was hältst du von einem Motel mitten am Arsch der Welt?«, frage ich sie, obwohl mich ihre Meinung nicht interessiert. Ich brauche eine Pause und sie braucht sie auch. Der Weg, der vor uns liegt ist noch weit, und irgendwie will ich nicht, dass sie völlig erschöpft die ganze Nacht neben mir im Auto sitzen muss, nachdem sie den gesamten Abend in der Bar bedient hat. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt darüber nachdenke, ob es ihr gut geht oder nicht. Es sollte mich nicht interessieren.

»Vielleicht habe ich ja Glück und ein Serienmörderpärchen betreibt es. Dann überleben wir die Nacht beide nicht.«

Ich lache und wiege den Kopf gespielt nachdenklich hin und her. »Oder du hast Pech und es sind Freunde von mir.«

Sie lacht. »Das wäre kein Pech. Solange ich diese Scheiße nur endlich hinter mir habe.«

Ohne zu antworten, biege ich auf den Parkplatz des Motels ein. Weder der Parkplatz noch das Motel machen einen vertrauenserweckenden Eindruck. Die Gäste scheinen zumeist Trucker zu sein. Im Moment stehen zwei große Zugmaschinen und ein Transporter auf dem Parkplatz. Vor dem Eingang zum Check-in stehen zwei ältere Kleinwagen und ein Pick-up. Ich fahre den Wagen bis direkt vor die Tür des Schalters. Durch die Glasscheiben kann ich eine ältere Dame sehen, die wahrscheinlich schon zu viele Jahre hier verbracht hat, denn ihr Gesichtsausdruck ist eine Mischung aus Langeweile und Resignation. Als die Scheinwerfer unseres Pick-ups sie blenden, verzieht sie wütend das Gesicht. In dem kleinen Fernseher hinter ihr läuft irgendeine mexikanische Soap, wahrscheinlich stören wir sie gerade dabei.

»Das Ganze läuft so«, beginne ich und sehe Raven ernst an. »Du gehst dort rein. Du nimmst ein Zimmer für eine Nacht für zwei Personen. Du sprichst nur das Nötigste mit ihr. Sollte ich den Verdacht bekommen, dass du ihr irgendetwas verrätst, du sie um Hilfe bittest oder sonst etwas tust, das mich in Gefahr bringen könnte, dann werde ich die alte Dame durch die Scheibe hindurch erschießen. Ist das klar?«

»Ist es nicht«, sagt sie mit zusammengekniffenen Augen. »Warum gehst du nicht rein?«

Ich lache leise auf, zerre ruckartig an ihren Fesseln und ziehe sie dadurch mit dem Gesicht fast bis auf meinen Schoß. Leise zischend packe ich mit einer Hand ihren Nacken und drücke hart zu. Sie wehrt sich gegen mich, aber als ich noch fester zudrücke, gibt sie ihren Widerstand auf und wimmert leise. »Ich gehe nicht, damit du keine Dummheiten machen kannst, während ich dort drin mit der Dame rede. Von hier aus kann ich euch beide viel besser erschießen«, flüstere ich drohend. Ich ziehe sie an ihrem Hals hoch und lege einen Finger unter ihr Kinn. Die Alte beobachtet uns von drinnen, deswegen setze ich ein sanftes Lächeln auf. »Und jetzt gehst du dort rein und erledigst, was ich verlangt habe. Und denk immer dran, wenn du einen Fehler begehst, bist du schuld am Tod der netten Granny.« Ich löse ihre Fesseln und drücke ihr ein paar Dollar in die Hand. Es stört mich, so grob zu ihr zu sein, was eine völlig neue Erfahrung für mich ist, deswegen rufe ich mir in Erinnerung, dass ich das hier tun muss, wenn ich Sams Leben retten will. Es gibt einfach keinen anderen Weg, als dieses Mädchen als Druckmittel zu benutzen.

»Ich hasse dich«, spuckt sie mir regelrecht entgegen.

»Interessiert mich nicht«, antworte ich trocken. »Im Augenblick interessiert mich nur eine Dusche, ein Abendessen und ein Bett.«

Sie sieht sich überrascht um, dann entdeckt sie das schäbige Diner auf der anderen Seite des Parkplatzes. »Wir essen hier?«, hakt sie verwundert nach. Wahrscheinlich hat sie gerade etwas Hoffnung geschöpft. In ihrem Kopf rattern die Zahnräder und sie malt sich aus, wie sie sich im Diner Hilfe holen könnte. Vielleicht ein Besuch auf der Toilette, ein Zeichen, das sie der Bedienung sendet. Diese Hoffnung will ich ihr nicht nehmen, also antworte ich ihr nicht, sondern greife einfach über sie hinweg, öffne die Tür und schiebe sie mit Nachdruck nach draußen.

»Vergiss nicht, dass meine Waffe geladen ist«, erinnere ich sie, als sie vor dem Truck steht und zu mir rein sieht.

»Wie könnte ich?«, gibt sie schnippisch zurück, dann geht sie langsam los, dreht sich an der Tür zum Check-in noch einmal um und streckt mir ihre süße, freche rosa Zunge heraus. Ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen. Die Kleine hat etwas an sich, das mir gefällt. Mehr als mir lieb ist. Und mit jeder Sekunde in ihrer Nähe wird mir klarer, dass ich sie hätte töten sollen, als ich die Chance dazu hatte. Denn ich weiß nicht, wieso, aber je mehr Zeit ich mit ihr verbringe, je mehr ich über sie nachdenke und unseren kleinen Krieg genieße, desto enger zieht sich das Lasso um meine Brust zusammen, das sie nach mir ausgeworfen hat. Und ich habe noch immer keine verfickte Ahnung, was ich mit ihr anstellen soll.

 

Als ich nach Mutters Tod mit Sam von der Farm geflohen bin, hatte ich nur einen Gedanken: Rache. Egal was es kostet. Ich wollte Sherwood tot sehen. Und Sherwood wollte Sam tot sehen. Er hatte Sam eine Chance geben wollen, indem er unsere Mutter statt ihn getötet hat. Aber Sam wollte diese Strafe nicht akzeptieren und hat Sherwood vor all seinen Männern angegriffen. Dafür gab es nur eine Konsequenz: Sams Tod. Also habe ich Sherwood angeboten, mich ihm zu stellen. Ich habe Sherwood herausgefordert und er hat abgelehnt und Sam in eine der Zellen gesperrt, wo er auf seine Hinrichtung warten sollte. Ich hatte keine andere Wahl, als mit meinem Bruder zu fliehen. Seit Wochen hatte ich nur einen Gedanken im Kopf: Sherwood töten, damit Sam überleben kann und ich den sinnlosen Tod unserer Mutter rächen konnte. Und jetzt stehe ich hier und habe die Orientierung verloren, wegen eines Mädchens. Wegen Sherwoods Tochter. »Jetzt verschwinde endlich und tu, was ich dir sage«, befehle ich ihr harsch. Meine Geduld ist am Ende. Mit mir. Mit ihr. Mit Sherwood.


Ich werfe die Tür des Pick-ups mit so viel Kraft zu, wie ich aufbringen kann. Der dumpfe Knall schallt über den fast leeren Parkplatz und wird von den in einem U stehenden flachen Gebäuden zu mir zurückgeworfen. Dieses Motel sieht von außen so heruntergekommen aus, dass ich mich davor fürchte, herauszufinden, wie die Zimmer aussehen. Als ich meine Flucht aus Black Falls geplant habe, habe ich nicht einmal daran gedacht, in solchen Motels zu schlafen, weil ich sie mir ohnehin nicht hätte leisten können, bis ich irgendwo einen Job gefunden hätte. Egal wie heruntergekommen sie auch gewesen wären. Ich wollte möglichst wenig Geld ausgeben, um länger hinzukommen.

Mein Plan war es gewesen, irgendwo weit weg von allen anderen Menschen auf der Ladefläche meines Pick-ups zu schlafen und in Raststätten zu duschen oder mich wenigstens zu waschen. Und jetzt stehe ich hier und denke über diese Sachen nach, obwohl all das völlig egal sein sollte, denn die Möglichkeit ist groß, dass meine Pläne nie in Erfüllung gehen werden. Ich bin entführt worden. Von einem Mann, der zugibt, Menschen zu töten. Und ich stehe mitten auf diesem Parkplatz und trauere meinen schönen Plänen nach. Das ist so unfassbar dumm von mir, dass ich laut stöhnen und mich selbst ohrfeigen möchte. Ich drehe mich an der Tür zu ihm um und strecke ihm die Zunge raus. Kindisch, ich weiß, aber das ist mir egal. Ich muss dem brodelnden Zorn in mir auf irgendeine Weise Luft machen, sonst springt mein Herz mir noch aus der Brust.

Ich sollte lieber daran arbeiten, diesem Arschloch zu entkommen. Und alles zurücklassen, was ich noch besitze? Das Auto, meine Tasche mit dem Geld? Wohin will ich dann noch gehen? Welchen Nationalpark noch durchwandern? Ich fahre mir durch die Haare und ärgere mich schon wieder über mich. Natürlich sollte ich alles zurücklassen. Die Hauptsache ist doch, dass ich meinen eigenen Arsch rette. Ich sehe mich auf dem Parkplatz um, aber es ist niemand hier, in dessen Arme ich mich retten könnte. Die meisten sitzen in dem Diner, ich kann sie durch die Scheiben hindurch sehen. Vier Männer und die Bedienung, die in diesem Augenblick einem Mann mit Basecap einen Teller vor die Nase stellt. Mein Magen knurrt laut, als ich sie dabei beobachte. Ich hatte geplant, auf meiner Reise nur morgens etwas zu essen, um Geld zu sparen. Ich wäre jetzt also hungrig schlafen gegangen. Aber das hätte mir nichts ausgemacht, meine Mutter hat selten daran gedacht, dass ein Kind auch essen muss. Was sie nie vergessen hat, war der nächste Schuss und der nächste Fick, der ihren Schuss finanzieren würde.

»Willst du dort noch lange rumstehen?« Seine Stimme direkt über meinem Kopf lässt mich zusammenzucken. Er hat das Fenster heruntergelassen und beugt sich nach draußen, in der Hand die Pistole, deren Lauf sich auf mich richtet. »Ich muss nur abdrücken, den Motor starten und bin weg. Und niemand wird jemals herausfinden, wer dich mitten in der Nacht auf einem Parkplatz vor einem Scheißmotel abgeknallt hat.«

»Die Kamera wird es wissen«, sage ich bissig und deute auf eine Kamera über der Eingangstür, die sich leise surrend in Richtung des Pick-ups bewegt.

»Gutes Argument, aber hast du die Bilder mal gesehen, die die machen? Nicht einmal meine Mutter hätte mich darauf erkannt.« Er grinst mich so breit an, dass ich seine Zähne im Licht der Beleuchtung aufblitzen sehen kann. »Los jetzt, ein Zimmer. Und wehe, du versuchst was.«

Meine Muskeln verspannen sich, als ich der eiskalten Härte in seinem Gesicht begegne. Ich will auf keinen Fall daran schuld sein, wenn heute Nacht Menschen sterben müssen. Ich käme vielleicht damit klar, wenn ich sterben müsste. Aber ich möchte nicht schuld am Tod anderer sein. Ich wende mich dem Check-in zu. Die Frau hinter dem Tresen konzentriert sich längst wieder auf ihren Fernseher. Wahrscheinlich fragt sie sich nicht einmal, warum ich so lange hier draußen herumstehe.

Es kostet mich einiges an Überwindung, den ersten Schritt zu machen, meinen Fuß vom Boden zu lösen und meine steifen Muskeln zu bewegen. Aber das dunkle Knurren, das aus dem Hals von Ice grollt, bringt mich doch dazu, endlich loszugehen. Welcher normale Mensch knurrt wie ein Hund? Aber Ice ist ja auch kein Mensch, er ist ein Entführer. Vielleicht sogar ein Mörder, wenn stimmt, was er sagt. Und ich glaube ihm nur zu gern, denn er strahlt manchmal so eine Kälte aus, die sich mir bis in die Knochen frisst. Eine Kälte, die jemand, der höchstens Mitte zwanzig ist, nicht haben dürfte. Ich öffne die Tür zu dem kleinen Raum, der fast komplett von einem abgewirtschafteten Tresen eingenommen wird. Über meinem Kopf ertönt das leise Klingeln einer Glocke. Die ältere Dame schaut missbilligend zu mir, steht von ihrem Stuhl auf und sieht mich abwartend an.

Ich öffne den Mund und ringe mit mir, ein Teil möchte so gerne das Wort ›Hilfe‹ herausschreien, aber der andere hat Angst vor dem, was Ice der Frau dann antun könnte, also gehe ich mit unsicheren Schritten zum Tresen und kämpfe mit dem Kloß in meiner Kehle, weil ich keinen Zweifel habe, dass Ice sie töten würde. Immerhin gucke ich Fernsehen und mache mir nicht allzu viel vor über Motorradgangs.

»Ein Zimmer für zwei«, sage ich heiser, obwohl alles in mir mich drängt, loszulaufen und mich in Sicherheit zu bringen. Direkt neben ihr steht ein altes Telefon, dessen Tasten mich regelrecht anschreien, die 911 zu tippen. Meine Finger zucken und mein Körper fühlt sich so sehr von diesem Telefon angezogen, dass alles in mir vibriert. Aber der Bann wird unterbrochen, als die Frau sich vernehmlich räuspert.

»Für wie lange?«, will sie genervt wissen. »Du musst schon mit mir reden, Mädchen.«

Ich blinzle verwirrt. »Eine Nacht, nur eine Nacht.«

Sie beugt sich über ihre Tastatur. »Ich nehme an, du bist volljährig? Wenn nicht, zahlst du bar«, murmelt sie dem Monitor zu, dessen blaues Licht sie ganz blass erscheinen lässt.

»Bar«, sage ich eilig, werfe einen Blick nach draußen, wo ich Ice als dunklen Schatten vor der Tür stehen sehen kann. Er starrt hier rein und wartet nur darauf, dass ich einen Fehler begehe. Ich sehe die Frau wieder an, die mir ihre Hand entgegenstreckt.

»Dein Name und das Geld«, sagt sie.

Für eine Sekunde erwäge ich, ihr einen falschen Namen zu nennen, offensichtlich verlangt sie keinen Ausweis von mir. Aber wen will ich damit schützen? Ice? Nein, sollte er mir etwas antun, dann könnte mein richtiger Name ein nützlicher Hinweis für die Polizei sein. Ich sage ihr, wie ich heiße und sie nickt nur, hält weiter ihre Hand in meine Richtung, also gebe ich ihr etwas Geld, sie zählt es nicht ab, obwohl ich mir sicher bin, dass ich zu viel gezahlt habe. Stattdessen steckt sie alles in die Kasse und gibt mir den Schlüssel.

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