Breathe

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»Das ist ein verfickter Mist«, sagt er brummig, sieht zu mir auf und schüttelt den Kopf. »Tut mir leid.«

»Ich arbeite in einer Bar«, erinnere ich ihn. Gossensprache ist nichts, was mich schockiert. Besonders, da die Footballspieler der Schule auch nicht wählerisch in ihrer Ausdrucksweise sind. Ich weiß nicht, wie das anderswo in den USA ist, aber in Black Falls ist Fluchen so normal wie essen und trinken. »In Riverside gibt es eine kleine Werkstatt«, erwähne ich und wende mich meinem Truck zu. Ich werfe einen Blick auf meine Sachen auf dem Rücksitz, um sicherzugehen, dass alles noch da ist. Aber wer sollte in Black Falls schon Interesse an meinem Kram haben?

»Du bist nicht zufällig auf dem Weg dorthin?«, will er wissen.

Ich stecke den Schlüssel in das Schloss des alten Pick-ups und sehe über die Schulter zu ihm zurück. Es ist, als würden diese hellen Augen mich jedes Mal in ihren Bann ziehen, denn sie sind das Erste, an dem mein Blick immer hängenbleibt, wenn ich ihn ansehe, weil sie so wie klirrender Frost erscheinen. Es ist, als könnte ich mich nicht an ihnen sattsehen. Als würden sie mich anziehen, um mich in diese Tiefen saugen zu wollen. »Eigentlich nicht.«

»Das ist schade, denn so wie es aussieht, müsste ich unbedingt nach Riverside.«

Ich öffne die Tür meines Trucks und schließe ergeben die Augen. Man kann nicht sagen, dass ich eine gute Kinderstube genossen habe, denn das habe ich definitiv nicht. Meine Erziehung hat einzig daraus bestanden, meiner Mutter bei ihren wechselnden Beziehungen zuzusehen, für sie den Haushalt zu erledigen und mein Leben schon mit zehn Jahren so ziemlich allein zu bewältigen. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, bin ich schon immer jemand gewesen, der nicht dazu in der Lage ist, andere Menschen im Stich zu lassen, wenn sie Hilfe benötigen. »Vielleicht liegt es ja auf meinem Weg.«

Er lächelt breit und reicht mir die Hand. »Ich bin Ice. Und es wäre wirklich praktisch, wenn es auf deinem Weg liegen würde.«

Ich stoße die Luft geräuschvoll aus, nehme seine Hand nur widerwillig, denn eigentlich habe ich keine Lust darauf, mein neues Leben mit einer Verzögerung zu beginnen, indem ich auf halbem Weg nach Riverside noch einmal am Trailerpark vorbeifahren muss. Nicht, weil der Park so trostlos ist, sondern weil ich befürchte, ich könnte den Mut verlieren und am Ende doch noch hierbleiben. Ich stoße seufzend die Luft aus und lasse die Schultern fallen. Ich will hier einfach nur so schnell wie möglich weg, bevor ich noch einknicke und am Ende wieder in Nicks Trailer lande. Ich will das nicht mehr. Nie wieder. Ich will lieber laufen, mich bewegen und wandern, meinen Körper beanspruchen, bis die Dunkelheit weg ist. Bis sie still ist.

»Meinen Namen kennst du ja schon, Ice.« Ich betone seinen Namen, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht so heißt, aber er passt zu der Farbe seiner Augen. »Pack deine Maschine einfach auf die Ladefläche, da müssten auch ein paar Gurte sein, damit du sie festschnallen kannst«, sage ich, gehe um den Pick-up nach hinten und öffne die Klappe.

»Danke, nett von dir.« Ice schiebt die schwere Maschine, unter deren breiten Rädern leise die Kiesel knirschen, mit denen der Parkplatz befestigt ist, nach hinten. Wie viel wiegt so ein Bike eigentlich? Ich bezweifle, dass er es allein auf die Ladefläche bekommt und überlege, ob ich mit anfassen soll, zögere aber, denn mein Vater hätte mir gedroht, meine Finger mit seinem Messer abzuschneiden.

»Soll ich dir helfen?«, frage ich vorsichtshalber, bevor ich die Maschine berühre und es ihm dann vielleicht nicht gefällt.

Er grinst. »Diese Maschine wiegt 460 Pfund«, sagt er und sieht sich auf dem Parkplatz um. Sein Blick fällt auf das Wohnhaus nebenan, das derzeit renoviert wird. »Ich bin gleich wieder zurück, nicht ohne mich fahren.«

Frustriert lehne ich mich an die Seite meines Autos und warte, bis sich aus dem Dunkel kurze Zeit später ein Schatten schält. Ice trägt ein langes breites Brett über der Schulter. Es federt leicht bei jedem Schritt, den er sich nähert, aber ansonsten wirkt er nicht, als würde er Mühe damit haben, es zu tragen. Mit dem breiten Winkel an einem der Enden hängt er das Brett an die Ladefläche meines Trucks.

»Damit sollte es funktionieren«, meint er, läuft prüfend seine selbst gebaute Rampe nach oben, bleibt in der Mitte stehen und wippt auf dem etwa einen halben Meter breiten Brett auf und ab.

»Und wie willst du das Bike dann wieder runterbekommen?«, hake ich nach.

»Wir nehmen das Brett mit.«

»Es ist viel zu lang«, protestiere ich, weil es bestimmt einige Zentimeter über die Ladefläche hinausgehen würde.

»Ist es nicht«, sagt Ice bestimmt. Mittlerweile denke ich, dass mir eigentlich alles egal ist, Hauptsache, wir können endlich los, bevor doch noch jemand kommt, der mich aufhalten könnte. Wer sollte das sein? Nicht einmal Nick war sonderlich erpicht darauf, mich in der Stadt zu behalten, als ich ihm gesagt habe, dass ich kündige. Es schien ihm egal zu sein. Aber es war ihm auch egal, dass ich gerade erst 18 geworden war, als unsere Affäre vor ein paar Monaten begonnen hat.

Ice löst den Ständer seiner Maschine und packt mit beiden Händen die Griffe. Es kostet ihn einiges an Mühe, aber schlussendlich steht das Bike ohne meine Hilfe auf der Ladefläche. Er kriecht auf der Ladefläche umher, um das Bike sicher zu verschnüren, dabei rutscht ihm sein Shirt aus der Hose und ich kann die Pistole sehen, die er hinten im Bund stecken hat. Mein Herz setzt einen Schlag aus und ich bekomme Zweifel, dass es eine gute Idee ist, ihn mitzunehmen. Mit ihm allein im Auto zu sitzen. Was weiß ich schon über den Kerl? Er wirkt noch nicht einmal besonders vertrauenserweckend mit all diesen Tattoos, seinen wilden glänzend schwarzen Haaren, die in alle Richtungen abstehen und dem dunklen Bartschatten im Gesicht. Aber jetzt steht dieses Bike auf meiner Ladefläche, was soll ich also tun? Ihm sagen, dass ich es mir anders überlegt habe? Das hier sind die USA, viele Menschen haben eine Waffe, versuche ich mich zu beruhigen. Ich habe auch eine im Truck. Nur weil er eine hat, heißt das nicht, dass er mich töten wird. Oder vergewaltigen. Offensichtlich ist er mit seinem Bike allein unterwegs, da sollte man eine Waffe haben, oder?

Angespannt beobachte ich, wie Ice das Brett vom Pick-up löst und es dann mit dem einen Ende gegen das Fahrerhaus lehnt, es dort mit einem Gurt befestigt und das andere Ende innen gegen die geschlossene Klappe lehnt, dann springt er darüber und landet sicher direkt vor meinen Füßen. Wenn er wirklich vorhat, mir etwas anzutun, dann könnte er es hier an Ort und Stelle tun, niemand würde ihn davon abhalten. Er hätte es in der Bar tun können, als wir allein waren. Er hätte jede Chance der Welt gehabt. Ich schiebe meine Bedenken weg.

»Ich hab doch gesagt, es funktioniert.«

»Dann können wir jetzt endlich los?«, möchte ich wissen und verberge nicht, wie genervt ich mittlerweile bin. Ich will endlich raus aus dieser Stadt. Mit jeder Sekunde steigen die Zweifel in mir mehr auf und drohen mich unter sich zu begraben. Wenn ich nicht bald hier wegkomme, dann vielleicht nie.

»Können wir«, sagt er, geht um den Pick-up herum und steigt ein, ohne mich noch ein weiteres Mal anzusehen.

»Vergiss einfach, dass er eine Waffe hat«, flüstere ich und versuche, meinen Puls etwas zu beruhigen, bevor ich mich hinter das Lenkrad setze. Trotzdem sind meine Hände verschwitzt, als ich das Leder umfasse, denn ich mag Waffen nicht besonders gern. Mein Vater hat versucht, mir beizubringen, wie man mit ihnen umgeht, als ich noch nicht einmal sieben war. Wir haben im Wald auf Blechbüchsen gezielt. Er hat die Büchsen getroffen, ich habe die meiste Zeit danebengeschossen. Bis auf das eine Mal, als meine Kugel meinen Hund Tiger traf. Er war in den Wald gelaufen, um mich zu suchen. Danach habe ich nie wieder eine Waffe in die Hand genommen, bis jetzt. Danach hatte ich auch nie wieder einen Hund. Verstohlen werfe ich einen flüchtigen Blick hinter den Beifahrersitz, unter dem ich meine Waffe versteckt habe.

2



Sie wirkt nervös, während sie das Auto vom Parkplatz auf die einzige Hauptstraße in diesem Kaff steuert. Da es in dieser Stadt weder tagsüber noch nachts wirklich Verkehr gibt, rührt ihre Nervosität wohl nicht daher. Entweder beunruhige also ich sie oder ihr Plan, die Stadt zu verlassen. Ich setze mich etwas schräg, um sie besser sehen zu können. Der Gedanke, ich könnte diese Unruhe in ihr auslösen, gefällt mir. Wie unruhig sie wohl werden wird, wenn ich ihr meine Waffe gegen die Stirn drücke und ein Loch in diesen hübschen Kopf schieße?

»Du verlässt also die Stadt?«, sage ich möglichst desinteressiert zu ihr. Sie hat dieses kurze, fast schon zu kurze schwarze Haar, das ihr aber perfekt steht. Diese Frisur würde nicht vielen Frauen stehen, aber bei ihr sieht es einfach perfekt aus. So wie bei dieser Schauspielerin aus den 50ern. Audrey Hepburn. Es ist gerade so noch lang genug, um es beim Sex packen und die Finger darin vergraben zu können.

Sie zieht eine Augenbraue hoch und sieht mich flüchtig an. Ihr Gesicht wird von der Beleuchtung der Armaturen erhellt. Entschlossen nickt sie, bevor sie den Blick wieder auf die Straße richtet. Noch vier Häuser, dann sind wir schon wieder aus der Stadt raus und auf der schlechten Straße unterwegs, die Black Falls mit dem nächsten Nest verbindet. Zwischen hier und dort gibt es nur ein paar Farmen und einen kleinen Wald. Der Wald ist mein Ziel, weil wir dort abgeschirmt vor neugierigen Blicken sind. Auch wenn die Chance gering ist, dass jemand uns sehen könnte, ich muss ganz sicher sein, dass mein Gesicht demnächst nicht über die Nachrichtenkanäle tickert. Dass sie die Stadt verlassen will und jeder es weiß, spielt mir in die Hände. Nur ihr Vater soll hiervon wissen. Er soll den gleichen Schmerz fühlen wie ich, als er meine Mutter ausgeweidet hat.

 

»Warum?«, frage ich sie, als sie nichts weiter sagt.

Sie stößt genervt die Luft aus und verzieht dieses hübsche Gesicht. Sie ist eine von diesen Frauen, die nicht süß und unschuldig wirken. Sie wirkt stark, sportlich, ein wenig wild und geheimnisvoll. Und der Blick aus diesen sturmblauen Augen wirkt so viel älter und schmerzerfahrener als er eigentlich wirken sollte. Ich denke, das ist es, was mich an ihr so anzieht: Ich sehe sie an und erkenne den gleichen Schmerz, den auch ich fühle, den nur eine abgefuckte Kindheit auslösen kann. Ich frage mich, wie abgefuckt ihre war. Weiß sie überhaupt, wer ihr Vater ist? Meine Kindheit war abgefuckt. Ihr Vater hat meinen im Zweikampf besiegt und getötet, seinen Platz eingenommen, meine Mutter geheiratet und mich und meinen Bruder großgezogen. Er hat die Familie, die ich kannte, ausgelöscht. Das Zuhause, das ich kannte, vernichtet. Innerlich grinse ich abfällig, die Schönheit neben mir ist eigentlich meine Stiefschwester. Und doch gehört sie in eine ganz andere Welt. Eine ohne Gewalt, Tod und Kinder, die zu Killern erzogen werden.

»Du bist schon seit Tagen in Black Falls, musst du das wirklich fragen? Ist das nicht offensichtlich?«

Ich wiege grinsend den Kopf hin und her. »Entschuldige, ich wollte nur ein Gespräch in Gang bringen«, sage ich und zucke mit den Schultern. Ich beginne einen der Siegelringe an meinen Fingern zu drehen. Man sieht es den Ringen nicht an, aber an ihnen klebt eine Menge Blut. Mit ihnen habe ich auf der Jagd oder im Training schon einige Gesichter demoliert. »Aber wir müssen nicht reden, wenn du nicht willst.«

Sie sieht mich wieder an, verzieht seufzend das Gesicht und lächelt verbissen. »Tut mir leid, ich bin nur müde«, meint sie.

»Und dann willst du heute noch hier weg? Stunden im Auto?«

»Ja, will ich.« Sie seufzt. »Ich werde mir ein Motelzimmer nehmen, sobald ich weit genug weg bin, dass mich nichts dazu treiben kann, wieder umzukehren.«

»Du hast also Zweifel?«, frage ich sie neugierig. Ich lasse meinen Blick über ihr Gesicht streifen und überlege, ob ihr Vater weiß, was seine Tochter hier treibt. Den Ort verlassen, an dem er sie vor der Gewalt beschützt, die er ausgelöst hat.

»Nein. Keine Zweifel, nur ein wenig Angst. Ich war noch nie weiter als zwei Stunden von Black Falls entfernt«, erklärt sie.

Ich sehe zum Fenster raus, die Scheinwerfer des Autos huschen über die schlechte Straße und leuchten nur wenige Meter vor uns aus, aber ich erkenne die Kurve, die wir gerade nehmen. Dahinter kommen noch zwei größere Felder, eine Einfahrt zu einer Farm und dann der Wald, auf den ich es abgesehen habe. Und jetzt ist nicht mehr nur sie nervös, ich bin es auch. In mir spannt sich jeder Muskel bei dem Gedanken an, was ich gleich mit ihr tun werde. Kaltblütig zu töten, damit hatte ich noch nie Probleme. Ich bin darauf konditioniert worden, zu töten: schnell und ohne Gewissen. Sherwood ist der Richter und ich bin der Vollstecker. Aber dieses Mal ist es etwas anderes. Dieses Mal habe ich vor, ein Mädchen zu töten, das mit der Welt, in der ich aufgewachsen bin, nichts zu tun hat, außer, dass ihr Erzeuger zufällig in dieser Welt zu Hause ist.

»Also doch Zweifel. Du befürchtest, du könntest es dir anders überlegen.«

Sie schnaubt. »Wenn du willst, nenn es Zweifel. Was hast du denn in Black Falls gesucht?«, will sie wissen und sieht mich kurz an. Ich spüre es bis in meine Lenden, als ihr Blick über mich gleitet. Brennend heiß. So heiß, dass mein Puls sich beschleunigt und ich mich verspanne, weil ich so nicht fühlen will. Ich habe einen Plan. So wie sie auch einen hat. Nur wird sie ihren Plan nicht mehr durchziehen können, weil ich meinen durchziehen werde. Und doch muss ich mir eingestehen, dass ihre Nähe etwas in mir auslöst. Ein Gefühl, das ich noch niemals zuvor empfunden habe. Ein aufregendes Prickeln, eine träge Hitze, die sich durch meinen Körper schleicht. Das hier ist mehr als pure sexuelle Anziehung.

»Ich habe jemanden gesucht, der dort leben soll.«

»Und, hast du ihn gefunden?«

Ich starre auf ihre Finger, als sie sich damit über ihren schlanken Hals fährt, als hätte etwas ihre Haut berührt. Vielleicht hat sie meinen Blick gespürt, der für eine Sekunde auf ihrer Kehle lag. »Nein, habe ich nicht.«

»Und jetzt suchst du weiter?«

»Das habe ich noch nicht entschieden.« Ich deute nach vorn, wo das Licht der Scheinwerfer über die ersten Bäume hüpft. »Kannst du da vorn halten? Ich müsste mal pinkeln«, sage ich zu ihr.

Sie runzelt die Stirn, mustert mich kurz und nickt. Offensichtlich hat sie entschieden, mir vertrauen zu können. Ein Fehler, der sie gleich ihr Leben kosten wird. Aber sie weiß ja nicht, wer neben ihr sitzt. Ihre Welt und meine sind völlig verschieden. Ich weiß zumindest, dass es ihre Welt gibt. Sie hat keine Ahnung, dass es meine gibt. Unser Leben, unsere Geheimnisse, unsere Gesetze. Wir haben unsere eigenen Regeln. Regeln, die ihr Vater nochmal verschärft hat, als er nach dem Tod meines Vaters der Anführer des Clans geworden ist und die Führung in Nordamerika übernommen hat.

»Okay«, sagt sie, und jetzt kann ich doch Unsicherheit in ihrer Stimme hören. Sie kennt mich nicht, ist mitten in der Nacht mit einem Fremden unterwegs und soll jetzt auch noch am Rand eines Waldes anhalten. In ihr klingeln gerade sämtliche Alarmglocken, und das ziemlich laut. Und doch tut sie es, weil alle es tun würden. Weil niemand daran glaubt, dass ausgerechnet ihm schlimme Dinge widerfahren würden. Nur Menschen wie ich würden daran glauben und deswegen jemanden wie mich nicht in ihre Autos lassen. Der Rest der Menschheit hat dabei vielleicht ein komisches Gefühl, mehr nicht.

»Danke«, sage ich. »Das Bier muss raus.« Noch ein paar Sekunden lang soll sie glauben, alles wäre in Ordnung. Während ich diese Sekunden nutze, um mich gedanklich damit abzufinden, dass ich dieses Mal einen Mord begehen werde, der meine letzte Grenze einreißen wird. Dieser Mord wird meine Seele direkt in die Hölle befördern. Kein Zurück mehr.

Raven fährt das Auto in eine kleine Einbuchtung, die hier gebaut wurde, damit entgegenkommende Autos einander ausweichen können, dann schaltet sie den Motor aus, lässt aber das Licht an. »Also dann«, meint sie und lehnt sich zurück.

Ich grinse sie genüsslich an. »Was, wenn ich ein Mörder wäre?«, frage ich sie und halte ihren fragenden Blick fest, als sie mich ungläubig ansieht. Alles in mir hat auf Jagd geschaltet. Ich bin der Jäger und sie meine Beute. Mein Blut pulsiert gierig durch meine Adern. »Ich könnte ein Serienmörder sein, der dich hierhergebracht hat, um dich zu töten. Du willst mit deinem Wagen wer weiß wohin fahren, nimmst einen Fremden mit und denkst nicht an die Möglichkeit, dass dieser Fremde ein Mörder sein könnte?« Mein Puls rast in aufgeregter Vorfreude, als ich sie das frage und in ihrem Blick deutlich die Furcht erkenne. Sie versucht mich abzuschätzen und schafft es nicht, sich vorzustellen, dass ich ihr wirklich etwas antun könnte. Eigentlich spiele ich nicht mit meinen Opfern, aber ich habe auch noch nie eine Frau töten müssen, die die Dunkelheit in mir anspricht. Alles fühlt sich anders an bei ihr. Zum ersten Mal spüre ich Zweifel, zum ersten Mal hasse ich mich selbst. Zum ersten Mal will ich das nicht tun müssen. Aber da ist auch das Monster in mir, und das erwacht mit einer perfiden Lust auf Blut zum Leben bei dem Gedanken, gleich töten zu dürfen. Ich dränge es zurück, denn das hier wird ein schneller Tod werden. Keine Jagd.

»Dann werde ich jetzt wohl sterben«, sagt sie, versucht es belustigt klingen zu lassen, aber es gelingt ihr nicht ganz, die Unsicherheit in ihrer Stimme zu verbergen. »Willst du mir eine Lektion erteilen, indem du mir Angst machst? Glückwunsch, ist dir gelungen. Ich werde nie wieder jemanden mitnehmen. Nicht einmal, wenn er wie ein verlorener Welpe aussieht.«

»Du meinst, ich sah wie ein verlorener Welpe aus?«, frage ich sie lachend. Ich beobachte genau jede Reaktion in ihrem Gesicht. Wenn sie wüsste, wie sehr sie recht hat. In den letzten Wochen fühle ich mich verlorener als jemals zuvor. Wahrscheinlich sollte ich mich schäbig fühlen, weil ich dieses Spiel mit ihr treibe, bevor ich sie gleich wirklich töte. Aber statt mich schäbig zu fühlen, erregt es mich, ihr das anzutun. So bin ich nun mal, Dreck.

»Musst du jetzt oder nicht?«, will sie harsch wissen und legt die Finger um den Zündschlüssel.

Ich reiße die Tür auf, bevor sie den Motor wieder starten kann. »Ich muss. Leider«, murmle ich, als ich schon aus dem Wagen gesprungen bin. Ich weiß nicht, warum ich das eben getan habe, aber es hat sich gut angefühlt. Vielleicht wollte ich nur wissen, wie sie reagiert. Vielleicht diesen hilflosen Blick in ihren Augen sehen. Vielleicht sie noch einmal anschauen, ohne Abscheu in ihrem Blick zu sehen. Oder die Zeit, die ich mit ihr habe, einfach noch ein wenig rauszögern.

Aber all das ist jetzt egal. Ich habe einen Plan, eine Sache, die ich erledigen muss, weil ich ihrem Vater eine Botschaft senden muss: Du musst mit mir rechnen, Sherwood.

Wenn ich eine Chance gehabt hätte, ihn zu töten, dann würde jetzt er mit mir hier sein. Aber ich kann ihn nicht töten. Nicht zuletzt, weil er trotz allem, was er uns angetan hat, wie ein Vater für mich ist und ich gelernt habe, ihn zu lieben. Er hat aus mir gemacht, wer ich bin. Er hat mich erzogen, unterrichtet und geformt. Er hat für Sam, meine Mutter und mich gesorgt. Deswegen wollte ich ihn, wenn überhaupt, in einem Zweikampf töten. Nicht hinterrücks ermorden. Nur er und ich, so wie es unsere Gesetze sind. Aber er hat mir die Chance dazu verweigert. Auch weil mir das Recht dazu fehlt, ihn herauszufordern.

Also muss er den Schmerz über seinen Verrat an unserer Familie, den ich empfinde, auf eine andere Weise erfahren. Ich will, dass er leidet. Ich will, dass er innerlich zerbricht. Ich will ihn fühlen lassen, was ich fühle, jetzt wo ich nichts mehr habe. Nicht einmal mehr den Clan. Und töten ist alles, was ich kenne, was ich je gelernt habe. Also ist das der einzige Weg, ihm klarzumachen, dass er einen Fehler begangen hat. Der einzige Weg, um ihm zu zeigen, dass er nicht tun kann, was er getan hat.

Ich gehe um den Wagen herum zur Fahrertür, reiße sie auf und richte meine Waffe auf sie. »Aussteigen«, sage ich hart, packe mit der freien Hand ihren Arm und reiße sie aus dem Auto. Ich ignoriere ihre weit aufgerissenen Augen und zerre sie in das Scheinwerferlicht, dann stoße ich sie auf ihre Knie und richte die Waffe wieder auf sie. Meine Hände zittern. Meine Knie zittern. Mein Herz rast. Adrenalin peitscht durch meine Venen. Einen Menschen zu töten, löst die unterschiedlichsten Emotionen in mir aus. Beim ersten Mal habe ich gezittert, geheult und mich mehrmals davor und danach übergeben. Beim nächsten Mal hat sich mein Körper, jeder Muskel, jede Zelle angefühlt, als wäre ein Truck über mich hinweggerollt. Beim dritten Mal habe ich gar nichts gefühlt. Und jetzt? Jetzt brennt unbändige Wut auf mich, sie und ihren Vater in mir. Nein, ich will das hier nicht tun. Aber ich muss. Ich muss alles tun, um Sherwood dazu zu bringen, sich auf mich zu konzentrieren. Damit er keine Sekunde mehr an Sam denkt. Sherwood muss mich jagen.

Sie kniet vor mir, ihr Blick verfinstert sich, wird regelrecht hart und zornig. Sie wirkt, als hätte sie weniger Angst als ich in diesem Augenblick. Und das macht mich fertig.

»Schieß schon«, sagt sie herausfordernd, ihr Blick glüht vor Wut. Ich wusste, sie würde nicht flehen. In dem Punkt hat sie mich nicht enttäuscht. Aber diesen Mut, diese Stärke hätte ich nicht erwartet. Als wäre sie eine von uns. Was sie nicht ist. Weil es unmöglich ist.

Ich stehe da, die Waffe auf ihren Kopf gerichtet. Sie kniet, das Kinn stolz vorgereckt, blickt sie zu mir auf. In ihrem Blick nichts weiter als eisige Härte. Als würde sie das hier jeden Tag erleben und es könnte sie nicht mehr überraschen. Ich konzentriere mich auf das Blut auf dem Körper meiner Mutter und krame jede Einzelheit aus meinem Gedächtnis hervor: Ihre toten Augen, ihre zerrissene Kleidung. Ich rufe mir den Geruch von Blut und Erbrochenem zurück ins Gedächtnis und die Gefühle, die mich überwältigt haben, als ich sie so gefunden habe. Ihr Oberkörper war aufgerissen, ihre Gedärme herausgerissen, ihr Blick noch immer entsetzt. Ich konzentriere mich auf meine Wut und meinen Hass, den Schmerz, und versuche nicht, Ravens Gesicht zu sehen, sondern seins, auf das ich ziele.

 

»Worauf wartest du?«, schreit sie mich an. »Ich werde nicht betteln, vergiss es.« Sie spuckt mir vor die Füße.

Ihr Mut erschüttert mich. Und er nimmt mir die Luft zum Atmen. Zerreißt meine Wut regelrecht. Meine Hände zittern. Eigentlich tun sie das nie.

Mein Blick fällt auf das Grim Wolves Color auf der Innenseite meines Unterarms. Ich war einmal stolz, ein Teil des Clubs zu sein. Sherwood hat es zu einer großen Ehre gemacht, Mitglied in seinem MC zu sein. Und ich hatte mir nach drei Jahren als Vollstrecker seiner Urteile diese Ehre verdient. Ich hatte für ihn Abtrünnige gejagt und die getötet, die sich dem Clan und seinen Regeln nicht unterwerfen wollten. In den Augen der Abtrünnigen bin ich das größere Monster. Ein Verräter. Aber ich habe diese Aufgabe nie hinterfragt. Jeder Befehl meines Präsidenten war ein Befehl, dem ich gefolgt bin. So wurde ich ausgebildet.

Ich stelle mir vor, wie es sich anfühlen wird, Sherwood ein Foto von ihrer Leiche zu schicken. Aber diese Vorstellung fühlt sich nicht so an, wie ich erwartet hätte. Nicht, als könnte ich besser atmen, wenn ich sie erst getötet habe. Jetzt bin ich derjenige, der zweifelt. Und das alles wegen ihr. Ich wünschte, ich hätte sie sofort getötet, als ich sie zum ersten Mal in der Bar gesehen habe. Spätestens, als mir klar wurde, dass ihre Mutter nicht mehr auftauchen wird. Stattdessen habe ich zugelassen, dass sie mich ablenkt. Mich zögern lässt und sogar die Dunkelheit in mir anspricht.

Sie schnaubt abfällig, als ich die Waffe sinken lasse und steht auf. Ich stecke die Waffe weg, sie kommt auf mich zu und donnert mir eine recht beeindruckende Faust gegen mein Kinn. »War das jetzt ein Witz?«, will sie wissen und stapft an mir vorbei zum Auto. »Du kannst mich mal, ich fahr ohne dich weiter.«

»War es nicht«, sage ich und hole die Glock wieder hervor. Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tue. Warum ich es mir anders überlegt habe. Ich weiß nur, ich kann sie nicht gehen lassen. Ich trete nah hinter sie, bevor sie einsteigen kann, und drücke ihren Körper mit meinem gegen den Pick-up. Der Lauf meiner Glock drückt gegen ihre Schläfe. Ich atme tief ihren süßen Geruch nach Frau ein. Was tut sie mit mir? Wieso kann ich sie nicht töten, obwohl ich nichts mehr will als das? Ich will meine Rache. Ihr Blut für das meiner Mutter. Ich will, dass Sherwood mich durch das ganze Land jagt, damit Will Zeit hat, Sam zu verstecken, wo Sherwood ihn niemals zwischen die Finger bekommen wird. Ich vergrabe meine Nase in ihrem Haar und treffe eine Entscheidung, die ich wahrscheinlich noch bereuen werde. Aber jede verdammte Zelle in meinem Körper verlangt danach, sie nah bei mir zu behalten. Ich muss sie gar nicht töten, um zu bekommen, was ich will. Sie muss nur bei mir bleiben. »Ich werde dich nicht töten, aber ich lasse dich auch nicht entkommen.«

»Fick dich«, flüstert sie mit zitternder Stimme abfällig.


»Fick dich«, stoße ich hervor. Meine Stimme zittert, aber nicht aus Angst, sondern vor Wut. Ich bin wütend auf ihn und wütend auf mich. »Was soll der Mist? Warum tust du das?«, fordere ich zu wissen und bin mir bewusst, dass ich ihn nur noch mehr provoziere, aber es ist mir egal, was sollte ich sonst tun? Wie sollte ich ihm sonst zeigen, dass nichts, was er tut, mich dazu bringen wird, ihn um mein Leben anzuflehen? Diese Genugtuung werde ich ihm nicht geben.

Sein heißer Atem trifft auf meine Wange, eine Hand liegt an meiner Kehle und mit der anderen drückt er seine Waffe gegen meine Schläfe. Sein Körper lehnt schwer gegen meinen. So nahe, dass ich sogar das heftige Trommeln seines Herzens spüren kann. Meins schlägt mindestens genauso schnell. Durch meinen Körper schießt Adrenalin. Ein beängstigendes und zugleich berauschendes Gefühl. Ich muss wahnsinnig sein, aber den dunklen Teil in mir spricht alles an dieser Situation an. »Steig in das Auto und rutsch rüber auf den Beifahrersitz«, knurrt er mich an. Er drückt den Lauf der Waffe noch fester gegen meine Schläfe, als wolle er mir damit verdeutlichen, wie ernst es ihm ist.

»Hast du mich nicht verstanden?«, fauche ich ihn an. Meine Hände liegen flach auf der Autotür. Wenn ich könnte, würde ich sie jetzt gern wie Krallen in das harte Material treiben, um meiner Wut irgendwie Ausdruck zu verleihen. »Ich habe ›Fick dich‹ gesagt.«

Er lacht düster hinter mir, löst seine Hand von meiner Kehle und tritt von mir weg. Seine freie Hand packt meinen Oberarm und zerrt mich von der geschlossenen Tür weg. »Aufmachen und einsteigen. Jetzt!«, brüllt er mich an. »Tu es, bevor ich die Geduld verliere, Kleine.«

Ich drehe mich zu ihm um und spucke ihm ins Gesicht, aber er zuckt nicht einmal mit der Wimper, stattdessen lacht er noch lauter. Sein Lachen scheint von überall um uns herum von den Bäumen zu hallen. »Bring es einfach hinter dich«, sage ich und kann nicht verbergen, dass meine Stimme meine Hoffnungslosigkeit widerspiegelt. Er steht vor mir, zwischen seinen Brauen hat sich eine Furche gebildet, so zornig ist er. Seine breiten Schultern heben und senken sich unter harten Atemzügen. Ich habe das Gefühl, er kämpft um jeden Funken Kontrolle, den er finden kann. Er senkt sogar seinen Blick und schließt für mehrere tiefe Atemzüge die Augen. Und doch kann ich ihm ins Gesicht blicken, weil er so viel größer ist als ich. Ich reiche ihm gerade einmal bis zur Brust. Ich bin ihm körperlich unterlegen. Was kann ich also tun?

Ich lege meine Hände an den Bund meiner Jeans und öffne den Knopf. Ich hebe trotzig meinen Blick und schlucke schwer, als Hitze sich durch meinen Körper frisst. Eigentlich wollte ich ihn mit dieser Geste provozieren, stattdessen erregt mich die Vorstellung, er könnte es wirklich tun. Mir die Kleidung vom Leib reißen und mich in den Dreck drücken. So wie Nick es häufig getan hat. Er hat mein Gesicht auf den dreckigen Boden seines Trailers gedrückt und mich dann zwischen Spritzen und leeren Flaschen gefickt, meine Hände gefesselt, in meinen Unterarmen und Schenkeln blutige Schnitte, die er oder ich selbst mir zugefügt haben, bis mein Körper so voller Adrenalin war, dass ich das Gefühl hatte, zu zerbersten. Nur wenn ich diesen Punkt erreiche, füllt sich die dunkle Leere in mir. Nur dann fühle ich wirklich. Ich schließe die Augen und kämpfe gegen die Bilder in meinem Kopf an. Das will ich eigentlich nicht. Ich hasse mich für diese Gedanken und Gefühle. Und ich hasse mich, dass ich jetzt in diesem Augenblick darüber nachdenke, es zuzulassen, dass ein Fremder all das mit mir tut. Jemand, der mit einer Waffe auf mich zielt. Auf gar keinen Fall. Das ist die Finsternis in mir, die das hier will. Aber wenn ich es zulasse, dann lässt er mich vielleicht gehen.

»Was zur Hölle machst du da?«, knurrt er und stößt mit der Waffe meine Hände von der Hose.

»Ich will es dir nur leichter machen, damit wir es schneller beenden können«, stoße ich aus. Denn genau das ist mein Plan: Ihm geben, was er will, damit er mich hoffentlich schnell wieder gehen lässt. Wenn ich mich nicht wehre, vielleicht sind dann meine Überlebenschancen viel größer. Ich reibe mir mit den Händen über meine fröstelnden Oberarme. Es ist nicht kalt, die Luft ist noch immer dick und warm, aber der Schock jagt mir Eis durch die Adern. Je länger wir hier stehen, desto mehr beginnt mein Körper zu zittern. Desto mehr weicht die Wut der Panik. Und das will ich nicht, weil ich dann schwach wäre. Und er soll nicht glauben, dass ich schwach bin.

»Ich werde dich nicht anfassen.«

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