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Karl der Große im Norden

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2.3.3. Gideon Toury: a target-oriented approach

Eine erhebliche Erweiterung erfährt der polysystemische Ansatz durch die Arbeiten des israelischen Kulturwissenschaftlers Gideon Toury. Die PolysystemtheoriePolysystemtheorie Even-Zohars bildet die Basis seiner theoretischen Konzeptionen, erweitert durch Tourys Feldforschungen zum Versuch einer umfassenden Übersetzungstheorie, welche als Publikation In Search of a Theory of Translation im Jahre 1980 erschien.1 Wie Even-Zohar verfolgt Toury den zielsprachlich orientierten Ansatz in seiner Übersetzungsforschung, vermeidet jedoch das häufig kritisierte abstrakte ideale Modell „Autor – Originaltext/ Übersetzung – Leser“. Für ihn stellt Übersetzung eine „norm-governed activity“2 dar, in welche mindestens zwei Sprachen und zwei kulturelle Traditionen involviert sind, und bei der sich der Übersetzer zwischen zwei Strategien entscheiden muss: Entweder werden die Normen der Ausgangskultur angewandt, was zu „translationʼs adequacy as compared to the source text“3 führt, oder die dominierenden Normen der Zielkultur sind entscheidend, was wiederum zu „its acceptability“4 beiträgt. Die totale Adäquatheit des übersetzten Textes in Bezug auf den Ausgangstext am einen, die totale Akzeptanz in der Aufnahmekultur am anderen Extrempol platzierend, lokalisiert Toury Übersetzung stets in der Mitte: Keine Übersetzung kann gänzlich akzeptabel oder adäquat sein, der übersetzte Text „can never meet the ideal standards of the two abstract poles“.5 Um den Prozess der Übersetzung zu verstehen, muss der übersetzte Text innerhalb seines kulturell-linguistischen Kontextes begriffen und analysiert werden. In seinem Artikel „The Nature and Role of Norms in Literary Translation“6 stellt er eine Reihe von Normen (preliminary, initial, operational, matricial und textual norms) auf, die den Prozess der Übersetzung von der Wahl des konkreten Textes über die individuelle Entscheidung des Übersetzers bezüglich der Übersetzungsstrategie bis hin zu den einzelnen linguistischen und stilistischen Präferenzen determinieren.7 Toury plädiert dafür, nicht einzelne Texte zu analysieren, sondern „rather multiple translations of the same original text as they occur in one receiving culture at different times in history“.8

2.3.4. Kritik, Applizierbarkeit und Fazit

Das im Gegensatz zu Luhmanns Systemtheorie kaum in Deutschland rezipierte systemische, semiotisch orientierte Konzept der PolysystemtheoriePolysystemtheorie, wie sie von Even-Zohar seit den 1970er Jahren stets entwickelt und revidiert wurde, kann gewinnbringend in der Auseinandersetzung mit den übersetzten Texten des nordischen Mittelalters angewandt werden. Dazu bedarf es freilich einiger Modifikationen, ist doch bereits auf den ersten Blick der polysystemische Hang zum Universalismus erkennbar. Even-Zohars Ansatz, dass literarische Systeme selbst stratifiziert sind und aus vielen verschiedenen Systemen bestehen, die stets von dynamischen Wechselbeziehungen geprägt sind, ist dennoch ein holistischer. Even-Zohar übernimmt das historische Konzept des Russischen Formalismus bezüglich der Literarizität der literarischen Werke, wie auch Ejchenbaum und Tynjanov es vertreten, Literatur entwickle sich autonom ohne Beeinflussung durch externe Faktoren. Gentzler merkt an, Even-Zohar beziehe Texte selten auf reale Bedingungen ihrer Produktion, sondern auf hypothetische strukturelle Modelle und Abstraktionen: „The extraliterary continues to be significantly absent from his analysis“.1 Auch das Konzept des literarischen Systems indiziert, es sei autonom, selbstregulierend, dynamisch, homogen – kommt es zu Vakua, Krisen oder Wendepunkten, strebt das System danach, diese durch Verschiebungen der Hierarchien von Peripherie und Zentrum zu eliminieren, da es sonst defective bleibt. Unmittelbar stellt sich die Frage, in welcher Gestalt das ideale homogene Polysystem als Folie zum Vergleich mit den anderen, defektiven Systemen existiert – oder ob es lediglich ein abstraktes Postulat bleibt.

Verlässt man den universalistischen Anspruch der PolysystemtheoriePolysystemtheorie, so ist sicherlich die zielsprachliche oder sogar zielkulturelle Orientierung dieses Ansatzes konstruktiv in der Auseinandersetzung mit den übersetzten Texten sowie das Bestreben, den übersetzten Text primär als Phänomen der Zielsprache im Gesamtkontext innerhalb ihres literarischen Systems aufzufassen.2 Die Abkehr von der überkommenen Praxis, den übersetzten Text einzig in Bezug auf den Originaltext der Ausgangssprache zu betrachten, lässt sich hierbei unschwer mit den Forderungen der New PhilologyNew Philology nach der Ablehnung des traditionell philologischen Originalzentrismus vergleichen und für die vorliegende Studie produktiv verbinden. Die Funktionsbestimmung der übersetzten Texte innerhalb des Polysystems der sie aufnehmenden Kultur hilft, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was „die Texte uns zeigen können über die Vorgänge ihrer Entstehung, die den Übersetzern dabei zu Verfügung stehenden Möglichkeiten, die von ihnen jeweils getroffene Wahl“.3 Der Ansatz fand bereits Anwendung in einer Reihe von Publikationen, die sich mit den Werken skandinavischen Mittelalters befassen, und führte zu neuen Erkenntnissen im Bereich der übersetzten Literatur sowohl im altwest- als auch altostnordischen literarischen System.Flores och Blanzeflorriddarasögur4

2.4. Kulturtransfer

Wirft man einen Blick auf die aktuelle Forschungslandschaft, so hat der Begriff Kulturtransfer eine seit Jahren andauernde Konjunktur. Dieses von der Forschergruppe um Michael Werner und Michel Espagne entwickelte Konzept wurde zunächst zur Erforschung deutscher Einflüsse in französischen Kontexten anhand interdisziplinärer Studien angewandt.1 Seitdem hat sich die Kulturtransferforschung in einer produktiven Art und Weise in diversen Disziplinen der Kultur-, Sprach- und Sozialwissenschaften etabliert, dabei eine schier unüberschaubare Menge an Begriffen wie Akkulturation, Transkulturation, Hybridisation, Domestizierung produzierend, um die Transfervorgänge zwischen verschiedensten Kulturen zu analysieren. Auch nach dreißig Jahren scheint dieses Konzept eher gewinnbringend für die Erkenntnisse von Einzelstudien zu sein als ein abgeschlossenes theoretisches Fundament für diese zu bieten. Diese konzeptuelle Offenheit erklärt auch die hochgradige Applizierbarkeit des Konzeptes auf Analysen verschiedener Zeiträume, womit es von seiner ursprünglich in der Neuzeit angesiedelten Untersuchungen fortrückt. Im Folgenden wird dieses Konzept vorgestellt und im Anschluss daran auf sein methodologisches Potenzial für den in dieser Arbeit relevanten Zeitraum des späten Mittelalters überprüft.

2.4.1. Kulturtransfer: Übertragung von Wissen

Wie bereits oben erwähnt wurde das Konzept der Kulturtransferforschung erstmals von der Forschergruppe um Michel Espagne und Michael Werner für die interdisziplinären Studien zu deutschen Einwirkungen in französischen Kontexten entwickelt. Hierbei analysierten sie Transferprozesse unterschiedlichster Art: Neben Dokumenten wie literarischen Texten, Übersetzungen oder privaten Korrespondenzen rückten auch gewisse (Berufs-)Gruppen wie Immigranten, Seeleute, Diplomaten, Kaufleute, Künstler oder Verleger als kulturelle Transmitter ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht die Ausgangskultur oder die zu vergleichenden Entitäten wie Nation, Staat oder Land, sondern der Prozess der Vermittlung und die diskursiven Vorgänge im Aufnahmesystem. Kulturtransfer wird als aktiver Aneignungsprozess begriffen, im Laufe dessen etwas aus einer Kultur in die andere übertragen wird, als „Übertragung von Menschen, Gütern und Wissen“1 zwischen Kulturen, bei der vor allem zirkulierende immaterielle Güter von großer Bedeutung sind.

Das Konzept der internationalen Zirkulation des Immateriellen steht in Korrelation mit Pierre Bourdieus Auffassung vom Import und Export der Ideen, dargelegt in seinem Aufsatz „Les conditions sociales de la circulation internationale des idées“.2 Für Bourdieu ist die internationale Ideenzirkulation durch strukturelle Faktoren im Aufnahmefeld bestimmt. Da fremde Texte kontextunabhängig transferiert werden, transportieren sie das Produktionsumfeld, in dem sie entstanden, nicht mit sich. Wie auch die von Espagne und Werner initiierte Kulturtransferforschung orientiert sich Bourdieu dabei nicht am Primat des Ausgangsfeldes,3 sondern unterstreicht die Bedeutung des Aufnahmefeldes oder der Aufnahmekultur für die Funktionsbestimmung eines fremden Werkes, das nach einer Reihe sozialer Operationen schließlich gemäß der internen Logik des Aufnahmesystems re-interpretiert wird.4 Dabei sind es unbewusste nationale Felder, die hier „l’effet de prisme déformant“,5 den Effekt eines entstellenden Prismas, einnehmen, die zum „générateur de formidables malentendus“6 werden. So ist es auch Bourdieus Intention, diese Kategorien des nationalen kulturellen Unbewussten, derer sich die sozialen Akteure in ihrer kulturellen Produktion und Rezeption unbewusst bedienen,7 explizit zu machen. Dies könne laut Bourdieu durch eine Reflexion über die Entstehung der nationalen Bewertungskategorien aus der Entwicklung der je länderspezifischen wissenschaftlichen Disziplinen geschehen.8 Nur so könne der intellektuelle Nationalismus überwunden werden. Auch die Kulturtranserforscher bemühen sich mit der Offenlegung des re-formulierten Fremden im vermeintlich Eigenen um die Dekonstruktion des Konzeptes eines Nationalstaates, die jedoch weniger pessimistisch auf die Missverständnisse und Instrumentalisierungen durch das Aufnahmefeld konzentriert sind als Bourdieu in seiner Auffassung zur Zirkulation transnationaler Ideen.

 

2.4.2. Kulturbegriff

Die Kulturtransferforschung als eine Strömung innerhalb der Kulturwissenschaften ist weder Einflussforschung noch Rezeptionsforschung im Sinne der vergleichenden Literaturwissenschaft, welche die Aufnahme eines Werks im neuen Kontext und dessen Einfluss darauf analysiert, oder der Rezeptionsgeschichte, die das Interesse auf literaturhistorische Kontexte und Faktoren im Aufnahmesystem lenkt, jedoch immer noch von einem impliziten Hierarchiedenken in Bezug auf das Original bestimmt ist..1 Davon versucht sich die Transferforschung, wenn auch nicht immer konsequent, zu lösen. Sich auf das kulturanthropologische Konzept der Akkulturation beziehend, übernimmt die Transferforschung auch den kulturanthropologisch ausgerichteten Kulturbegriff, der ein neues Kulturverständnis generiert: Kulturen existieren nicht vorgängig, sondern nehmen durch kulturelle Kontakte erst Gestalt an, sind also als Prozesse der Überlagerung und Vermischung verschiedener Kulturen aufzufassen..2 Von Clifford Geertz wurde die Metapher Kultur als Text im Anschluss an Paul Ricoers Texthermeneutik entwickelt.3 Hierbei werden die kulturellen Praktiken in Analogie zu Texten als lesbar und übersetzbar betrachtet. Kultur selbst lässt, ähnlich wie ein Text, verschiedene Lesarten zu, indem sie Handlungen in interpretative Zeichen und Symbole übersetzt, welche wiederum dekodiert werden können.4 Fremde Kulturen sind nach Doris Bachmann-Medick erst durch ihre Repräsentation in Mythen, Ritualen und Texten zugänglich.5 Im Gegensatz zu diesem interpretativen Ansatz der Kulturanthropologie ist die Auffassung der Kultur als Performanz ungleich dynamischer: Nach Victor Turner wird Kultur als Prozess symbolischer Handlungen aufgefasst, an welche die Bedeutungskonstitution dicht gebunden wird.6

Unter den Stichworten Kreolisierung, Hybridisierung und cultural flows werden in der Kulturtransferforschung seit den 1980er Jahren Austauschprozesse diskutiert, die interkulturelle „Übertragung und Vermittlung von Texten, Diskursen, Medien und kulturellen Praktiken“7 umfassen. Hier wird der Übergang „von einem lokalen zu einem mobilen Paradigma des Kulturbegriffs“8 indiziert. Lutz Musner warnt aber gleichzeitig davor, sich bei Transferforschung nicht zu sehr auf das Imaginäre zu konzentrieren, sondern auch die materiellen Rahmungen der Transfers zu berücksichtigen.9

2.4.3. Kulturtransferanalyse

Kultur wird definiert als ein veränderliches Kommunikationssystem,1 bei dem geschlossene Kulturräume und Identität abgeschafft werden und Kultur als Ergebnis von interkulturellen Differenzierungsprozessen erscheint, die „kulturelle Kontexte dem Fremden öffnen und sie zugleich durch und gegen fremde ‚Identität‘ befestigen“.2 Mit dieser kommunikationstheoretischen Ausrichtung des Kulturbegriffs operiert nun die Transferforschung und rekonstruiert anhand von drei, zunächst etwas schematisch zusammengefassten, Prozessen die Dynamik der Transfervorgänge: Durch eine sorgfältige Analyse der Selektions-, Vermittlungs- und Rezeptionsprozesse lassen sich so die Fragen nach den Intentionen, den Wegen und den Re-Integrationsmöglichkeiten kultureller Artefakte beantworten. Die Selektionsprozesse beschreiben die Formen der Auswahl von Objekten, Texten und Diskursen in der Ausgangskultur, die nach Lothar Jordan und Bernd Kortländer durch technisches, praktisches oder ideologisches Interesse bestimmt werden.3 Die Vermittlungsinstanzen – personal (z.B. Reisende, Händler, Übersetzer, etc.), institutionell (Klöster, Universitäten, Verlage) oder medial (Hörfunk, audio-visuelle Medien) agierend – transferieren kulturelle Artefakte in die neue Kultur. Letztlich sind die Rezeptionsprozesse zu untersuchen, welche beleuchten, wie die transferierten Objekte, Texte, Diskurse oder Praktiken im neuen sozialen und kulturellen Horizont adaptiert werden.4 Lüsebrink unterscheidet fünf Formen der Rezeption: Während die Übertragung eine möglichst originalgetreue Form in Bezug auf die Ausgangskultur nachzuahmen sucht, wie es bei einer Übersetzung oder einem Nachbau der Fall sein kann, sind bei der Nachahmung, einer Form „epigonaler Neuschöpfungen“,5 fremdkulturelle Muster noch erkennbar. Mit kultureller Adaption werden Formen kultureller Veränderungen im Hinblick auf die Spezifika der Zielkultur bezeichnet. Daneben beschreibt Lüsebrink Kommentarformen und produktive Rezeption, zu der sowohl die Prozesse der kulturellen Umdeutung als auch die des negativen Transfers gehören, als die letzten beiden Rezeptionsformen.6 Sicherlich lassen sich die Transfervorgänge für die Neuzeit, die Moderne und das Zeitalter der Globalisierung expliziter und präziser beschreiben als für das Mittelalter.

2.4.4. Kulturtransferkonzeption für mediävistische Räume

Die Applizierbarkeit des vorgestellten kulturwissenschaftlichen Konzeptes auf die mediävistischen Zeit- und Kulturräume scheint ob der Überlieferungslage der kulturellen Artefakte nicht immer einfach. Auch die dem Mittelalter als Epoche zugeschriebene Anonymität der Überlieferung erschwert zunächst die Vorgehensweise, wie sie für die Neuzeit und Moderne konzipiert wurde. Dennoch gibt es eine Reihe von mediävistischen Arbeiten, die sich dieses Konzeptes produktiv bedienen.Roland1 Doch es ist gerade die stets kritisierte konzeptuelle Offenheit der Transferforschung,2 die diesen Ansatz multiapplikabel macht, ihm den „Charakter eines Korrektivs gegenüber vorangegangenen und noch bestehenden Forschungskonzepten“3 verleiht. Freilich muss den Spezifika mediävistischer Kulturräume Rechnung getragen werden: Die Transferforschung müsse sich von nationalgeschichtlich geprägten Räumen der Neuzeit und Moderne lösen, was jedoch aus mediävistischer Perspektive ohnehin selbstverständlich erscheint, so RolandRoland Scheel.4 Das europäische Mittelalter sei von nationes, verwandtschaftlich, religiös, kulturell-sprachlich und ökonomisch ausgerichteten Kulturarealen geprägt gewesen.Roland5 Die Ausgangs- und Zielkulturen für den Untersuchungsraum zu definieren, macht eine feinfühlige Selektion von Kriterien erforderlich, da es sich nicht um Länder, Nationen oder Staaten handelt, denen die Textzeugnisse entstammen, auch Kirchen- und Konfessionszugehörigkeiten oder die sprachliche Verwandtschaft sind als alleinstehende Merkmale irreführend. Für eine Differenzierung von mediävalen Kulturräumen ist eine Kumulation von Kriterien nötig, wie etwa Religion, Sprache, Schrift, Recht, Wirtschaft, Verfassung etc.6

Weiterhin ist bei Transfers im Mittelalter also nicht von linearen, hierarchischen Prozessen auszugehen, sondern von asymmetrischen Transferprozessen, die zwischen zwei, lokal wie zeitlich, voneinander entfernten Kulturarealen stattfinden.7 Dabei ist die zeitliche Verschiebung, der ein Rezeptionsprozess stets unterliegt – in der vorliegenden Untersuchung sind es immerhin etwa drei Jahrhunderte – der einfachste Typ von Asymmetrie. Analog dazu ist von einer räumlich-geographischen Asymmetrie bei Transferprozessen auszugehen. Hier möchte Kugler eine Binnendifferenzierung vornehmen und mit den Begrifflichkeiten Nahdistanz und Ferndistanz operieren, um so die Transferprozesse zum einen zwischen verschiedenen volkssprachigen Kulturen innerhalb Lateineuropas, zum anderen zwischen Lateineuropa und dem Islam oder dem Fernen Osten zu untersuchen.8 Bihrer plädiert allerdings in diesem Zusammenhang für eine kommunikationsgeschichtliche Ausweitung des Kulturtransferbegriffs sowie für das Konzept der mittleren Distanz, das kein abgeschlossener dritter Bereich, sondern als „Kontinuum zwischen den beiden Polen Nähe und Ferne zu denken“9 sei. Als Ausgangspunkte der Untersuchung sind Akteure, Begegnungen, Transfers und Erinnerungsakte zu wählen, statt von „scheinbaren Entitäten wie vormodernen Nationen, Herrschaftsräumen oder der Christenheit“10 auszugehen. Hiermit korreliert auch Kuglers Konzept der mediävistischen Kulturtransferforschung: Er entwirft eine Reihe an Fragen, die zwar nicht die Verbindlichkeit einer Methode beanspruchen, aber einer pragmatischen Herangehensweise durchaus behilflich sein können.11 Eine allgemeine und „ubiquitär anwendbare Theorie des Kulturtransfers“12 wird wohl vorerst ein Desiderat bleiben.

2.4.5. Memory Studies – Transfer von kulturellen Texten

Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses wurde von Jan und Aleida Assmann unter Rückgriff auf Maurice Halbwachsʼ Konzept des kollektiven Gedächtnisses entwickelt.1 Im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis, das durch den Geschichtshorizont der Zeitgenossen abgedeckt ist, sind „mythische, als die Gemeinschaft fundierend interpretierte Ereignisse einer fernen Vergangenheit“2 Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses. Eine entscheidende Rolle kommt dabei dem Medium Literatur zu, sie stellt eine Weise der Gedächtniserzeugung unter anderen dar.3 Nach Aleida Assmann wird zwischen kulturellen und literarischen Texten unterschieden, deren Lesarten nicht aus den ihnen inhärenten Merkmalen entstehen, sondern durch den Rezeptionsrahmen, d.h. durch den „dezisionistischen Akt“4 des Rezipienten, bestimmt werden. Zusammengefasst zeichnen sich kulturelle Texte – um die es im Folgenden gehen soll – in Abgrenzung zu literarischen Texten durch einen besonderen kanonischen, für Aleida Assmann kulturellen, Status aus. Sie erhalten dadurch eine zusätzliche Sinndimension, die durch Vermittlung von Konzepten kultureller, nationaler oder religiöser Identität sowie kollektiv geteilter Werte und Normen zu einer – aus rezeptionsästhetischer Sicht – sich von den literarischen Texten unterscheidenden Textexegese auffordert. Eine Identifikation des Rezipienten mit dem Text, das Verlangen nach Aneignung von Wissen, Verehrung, ein wiederholtes Studium, Ergriffenheit – all das zeichnet kulturelle Texte aus.

Während literarische Texte mit ihren Leerstellen prinzipiell einer Sinnstiftung durch den Horizont des Rezipienten offen, polyvalent und unverbindlich sind, verlieren kulturelle Texte einerseits ihre Standortgebundenheit und Mehrdeutigkeit, gewinnen dadurch hingegen andererseits an kultureller Tiefendimension.5 Die Teilhabe am kulturellen Text indiziert Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe als Ersatz für genetisch gesteuerte Identität.6

Die Gattung der französischen chansons de gestechansons de geste, welche die Ereignisse des fränkischen heroic ageheroic age beschreibt, fungiert als Medium des kulturellen Gedächtnisses, ähnlich wie die Gattung der isländischen fornaldar- und íslendingasögur. Die fiktional aufgearbeitete Geschichtsauffassung bildet in einem logisch dargestellten Narrativ einen Vergangenheitsbezug, verweist auf den ‚Fernhorizont‘ der jeweiligen Kultur und schafft so die Vision einer geteilten Vergangenheit als Identifikationsangebot. Die französische Nationalgeschichte wird anhand der Heldenlieder um Karl den Großen aus dem Stoffkreis der matière de France in mythischer Überhöhung konstruiert: Im Gegensatz zu den Heldenepen mit der keltisch-bretonischen Thematik der matière de Bretagne und aus dem antiken Themenbereich matière de Rome beanspruchen sie Historizität und Authentizität trotz der unübersehbaren Fiktionalisierung der Geschichte des Frankenreiches.chansons de geste7 Dabei sind die Heldenlieder größtenteils in den SammelhandschriftenSammelhandschrift des 13. und 14. Jahrhunderts überliefert und stellen Bearbeitungen der zeitgenössischen Schreiber und Kompilatoren dar.

Im Folgenden werden die für diese Arbeit relevanten chansons de gestechansons de geste, welche in ihrem jeweiligen Literatursystem einen zentralen, kanonisierten Status hatten, mit den von Aleida Assmann vorgeschlagenen distinktiven Merkmalen als kulturelle Texte verortet. Als massive Reduktion erscheint bei diesem Vorhaben das postulierte Aufgeben der, den literarischen Texten inhärenten, Polyvalenz hier behandelter chansons de geste.8 Doch wie Aleida Assmann betont, handelt es sich hierbei nicht um unterschiedliche Textgruppen, sondern um unterschiedliche Zugangsweisen und Rezeptionsrahmen, welche die womöglich identischen Texte als literarisch oder kulturell determinieren.

Unter dem Stichpunkt ‚Identitätsbezug‘ richten sich kulturelle Texte nicht an individuelle Rezipienten, sondern an Repräsentanten eines Kollektivs, das durch die Teilhabe an kulturellen Texten eine übersubjektive Identität erhält. Die Chanson de RolandRoland, schon früh zu einer identitätsstiftenden Narration der Franken, später zum Nationalepos der Franzosen stilisiert,Roland9 schafft durch die narrativen Verfahren mythischen Erzählens mit hagiographischen Bezügen ein konkretes Identifikationsangebot auf der Grundlage einer allumfassenden Liebe zu dulce France, dem lieblichen Frankenreich. Der historische Kern um die Schlacht von RoncesvallesRoncesvalles im Jahre 778 wird narrativ mit der Akzentuierung auf dem religiösen Aspekt des Kampfes gegen die Sarazenen sowie einer Idealisierung der Helden der dulce France überhöht.

 

Auch das Rezeptionsverhalten kultureller Texte unterscheidet sich von dem der literarischen: Im Gegensatz zur unverbindlichen Wahrheit und zur ästhetischen Distanz literarischer Texte verkörpern chansons de gestechansons de geste eine verbindliche, unhintergehbare und zeitlose Wahrheit. Wie bereits erwähnt, erfordern sie Verehrung, Ergriffenheit und eine vorbehaltlose Identifikation; die Wiederherstellung der kosmischen, heilsgeschichtlich orientierten Ordnung wird erst durch den epischen Tod Rolands, Karls allumfassende Trauer um diesen und seine Gefährten und seine fürchterliche Rache an den Heiden erreicht. Führt man sich die von der Forschung für die chansons de geste etablierte Position bezüglich der Vortragssituation vor Augen, nämlich eine kollektive Rezeptionsweise mit dem jongleur (Spielmann) und dem Publikum, forderten die rezeptionsästhetischen Qualitäten dieser ältesten chanson de geste zweifellos Verehrung und Ergriffenheit bei den zeitgenössischen Rezipienten. Auch der Aspekt der Überzeitlichkeit mit dem damit verbundenen Anspruch auf „unerschöpfliche, nie veraltende Aktualität“10 sowie die „transhistorische Qualität der Unüberholbarkeit“11 spielen eine entscheidende Rolle bei der Kanonisierung von Texten, die auf diese Weise erst kulturell werden. Hier sind der heilsgeschichtliche Bezug der chansons de geste, die Verteidigung der christlichen Kirche gegen die Heiden sowie die in den Texten propagierte Überlegenheit Karls als gotterwählter Universalherrscher zu nennen.

Als Ausgangspunkt dieser Untersuchung werden nun unter Rückgriff auf die oben genannten distinktiven Merkmale die hier behandelten chansons de gestechansons de geste nicht als literarische, sondern als kulturelle Texte behandelt, wohl darauf verweisend, dass es sich nicht um die intrinsische Qualitätsgarantie von Texten per se handelt, sondern um den Rezeptionsrahmen, in dem sie sich entfalten. Mit diesem Postulat wird die Frage nach dem Transfer kultureller Texte eröffnet, somit auch die Frage nach dem differierenden Rezeptionsrahmen der zu analysierenden Texte in einem räumlich-geographisch und soziokulturell divergenten Kulturareal. Welche der distinktiven Merkmale verschwinden nach dem Transfer, welche Funktionen übernehmen diese Texte und welcher Status kommt ihnen zu? Sicherlich ist davon auszugehen, dass durch changierende Rezeptionsmodi sowohl ein übersubjektiver Identitätsbezug als auch eine verbindliche Wahrheits- und Geschichtsauffassung an Bedeutung verlieren.