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Karl der Große im Norden

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7.2.1. Karl der Große in Schweden

Die altschwedische Bearbeitung der Karlsepik konstruiert ein höchst ambivalentes Bild des fränkischen Kaisers, führt man sich vor Augen, dass lediglich zwei von insgesamt zehn Episoden (þættir) der altwestnordischen Karlamagnús sagaKarlamagnús saga ok kappa hans ins Altschwedische übertragen wurden: Die Episode der Schlacht von RoncesvallesRoncesvalles sowie die parodistisch geprägte Reise Karls nach Jerusalem und Konstantinopel. Wie schon im Kapitel zur Textanalyse ausführlich dargestellt, ist die Roncesvalles-Geschichte im Altschwedischen drastisch gekürzt: Die einleitende Vorgeschichte des Verrats von Ganelon, Rolands Stiefvater, fehlt, stattdessen wird sie stark gekürzt durch Karls prophetische Träume thematisiert (vgl. KM, S. 44). Ebenfalls ist der Schluss der Episode von den Kürzungen betroffen: Der an Tragik nicht zu überbietende Tod der hier namenlosen Verlobten Rolands stellt das Ende dar, während der post-roncesvallische Prozess über den Verräter Ganelon und seine Strafe recht lakonisch ausfallen: „døø mz them hardaste dødh ther man kunde hitta“.1

Der altschwedische Redaktor konzentriert sich hingegen auf die Geschehnisse von RoncesvallesRoncesvalles, bei denen jedoch RolandRoland und nicht Karl der Große die zentrale Figur darstellt. Karl kommt in dieser Episode eine passive Rolle als Beobachter und Lamentator der monumentalen Katastrophe der fränkischen Christenheit zu. Die signifikanten Stellen der Episode, die ein recht klares Herrscherbild entstehen lassen, sind Karls Träume und die mirakulösen Geschehnisse auf dem Schlachtfeld. Es ist nicht der Krieger Karl, sondern der von Gott auserwählte Herrscher, dessen Gebete erhört werden, wie etwa auf dem Schlachtfeld, als ihm von der göttlichen Instanz längeres Tageslicht gewährt wird, um die gefallenen Christen zwischen den Heiden zu erkennen und zu rächen:

[…] Æn tha kom gudz

engil aff hympnum / och melte til k m k

gudh haffuer iættæt tik øffrit dagx

lius / och far nw och hempnas thina

manna.2

Dieser Tendenz entspricht grundsätzlich die zweite Episode in der altschwedischen Überlieferung, obwohl auf der histoire-Ebene das narrativ erzeugte Herrscherbild als höchst ambivalent zu bewerten ist. Die humoristischen Elemente, die bereits die ältere romanistische Forschung zur Klassifizierung der chanson als Parodie veranlasste, sind auch in diesem späten Transmissions- und Rezeptionsstadium greifbar: der profane Streit als Motivation für die Pilgerreise in die Heilige Stadt und nach Konstantinopel, Karls Eitelkeit und das Verhalten der Franken am Hofe des byzantinischen Kaisers HugoHugo von Konstantinopel. Trotz der expliziten moralischen Wertung, die in der Episode in den Kommentaren des Spions sowie in der direkten Rede des Engels kommuniziert wird, ist Karl der Große dennoch der überlegene Herrscher dieser Episode. Durch Beten und Mirakel erlangt er Vergebung für seine unüberlegten Reden, ferner zeigt sich Gottes Beistand in der Realisierung der angekündigten ævintyr. Auf der textuellen Ebene kann man die Glorifizierung des christlichen, gotterwählten Kaisers als die auffälligste Tendenz der schwedischen Bearbeitung konstatieren. Das Konzept der Dei gratia, das die Darstellung Karls in dieser Episode kennzeichnet, ist auch historisch belegt: Gottesgnade als monarchische Herrschaftslegitimation ist seit Pippin dem Jüngeren, dem Vater Karls des Großen, ein Bestandteil der fränkischen Tradition.3

Darüber hinaus bietet die Ebene der kodikologischen Kontextualisierung einen weiteren Zugang zu Karl dem Großen und seiner Funktion in ebenjenem literarischen System. Die vier schwedischen Handschriften Cod. Holm. D4Cod. Holm. D4, Cod. Holm. D3Cod. Holm. D3, Cod. Holm. D4aCod. Holm. D4a sowie AM 191 fol.AM 191 fol. wurden auf ihre thematischen Zusammenhänge hin geprüft. Dabei lässt sich beobachten, dass in individuellen kodikologischen Kontexten die Figur Karls des Großen in einer Reihe mit weiteren Herrschern wie dem König Alexander, Kung Alexander oder dem schwedischen König Albrecht, Om Kung Albrekt, überliefert in Cod. Holm. D4, erscheint. Die literarisierten „Herrscherbiographien“ repräsentieren dabei jeweils unterschiedliche historische Herrschaftsmodelle: Das antike Königtum ist in der Gestalt Alexander des Großen vertreten, das mittelalterliche Kaisertum Dei gratia wird von Karl dem Großen repräsentiert, während die 25 Jahre andauernde Regierungszeit Albrechts III. von Mecklenburg im Werk Om Kung Albrekt literarisch verarbeitet wird.

Auch wenn auf der textuellen Ebene keine derart starke Höfisierungstendenz festzustellen ist, wie es in der Karlamagnús sagaKarlamagnús saga ok kappa hans der Fall ist, ist die narrative Gestaltung Karl des Großen als eines rex iustusrex iustus, dessen monarchische Herrschaft darüber hinaus durch Gottesgnadentum, Dei gratia, legitimiert ist, vor der Folie der adeligen Rezipienten als target culture durchaus refeudalisiert. Der heldenepische Weltentwurf wird zugunsten höfischer Lebenswirklichkeit Schwedens des 15. Jahrhundert re-arrangiert.

7.2.2. Karl der Große in Dänemark: „kamp og drab og afhuggede lemmer …“1

Die dänische Bearbeitung der Karlsdichtung ist im Gegensatz zur schwedischen deutlich umfangreicher, dafür ist sie im Gegensatz zur schwedischen handschriftlichen Überlieferung auf eine Handschrift, die sog. BørglumBørglum-HandschriftCod. Holm. Vu 82 Vu 82, limitiert. Damit entfällt die Möglichkeit einer Kontextualisierung des heldenepischen Karl-Stoffes vor dem Hintergrund weiterer thematisch relevanter Zusammenhänge. Darüber hinaus bieten die anderen Texte der Sammelhandschrift keinerlei Anhaltspunkte für ein solches Vorgehen: Sie repräsentieren beliebte Genres der spätmittelalterlichen niederdeutschen Dichtungen: didaktische und allegorische Gedichte, Minnereden sowie Werbungsdialoge. Diese wurden vermutlich erst später zusammen mit der Karl Magnus Krønike zu einer Anthologie zusammengestellt. Recht isoliert wird also die Karl Magnus Krønike als das einzige mittelalterliche Rezeptionszeugnis der Karlsdichtung in Dänemark betrachtet.

Während die altwestnordische Karlamagnús sagaKarlamagnús saga ok kappa hans sowohl auf der textuell-sprachlichen Ebene als auch vor dem Hintergrund der politischen Agenda Hákon Hákonarsons von einer deutlichen höfisierenden Tendenz gekennzeichnet ist und die schwedische Bearbeitung zumindest auf der Ebene der kodikologischen Kontextualisierung als ein Identifikationsangebot an die schwedische Aristokratie interpretiert werden kann, ist der dänische Text bar jeglicher höfischer oder höfisierender Intentionen. Dargestellt werden in zyklischer Form die gestes, die Taten – vor allem aber die Schlachten – Karls und seiner Gefährten. Formelhaft, partiell hoch redundant kämpft Karl der Große gegen die Heiden, ob es nun die Sarazenen oder die Sachsen sind. Pil Dahlerup bezeichnet in ihrer dänischen Literaturgeschichte neueren Datums die Chronik als „en barsk affære“,1 ehe sie zum Resümee gelangt, die Karl Magnus Krønike sei „ingen ridderroman“.2 Von den dänischen Literaturgeschichten wird ihr generell keine Gattungszugehörigkeit attribuiert: Eine Chronik im Sinne der klerikalen Historiographie ist die Krønike nicht, ein Ritterroman, vergleichbar mit einer riddarasaga, aber auch nicht.3

Welches Wissen über den fränkischen Kaiser liefert nun diese dänische Adaption und welche Bearbeitungstendenzen sind in der Konstruktion des Herrscherbildes erkennbar? Die zyklisch angelegte Überlieferung setzt mit genealogisch teilweise verifizierbaren historischen Informationen ein: Karls Eltern, Pippin und Bertha, und seine Schwestern Gylem und Besilet werden erwähnt. Pippins Tod und Karls Thronantritt mit 32 Jahren sind der Ausgangspunkt für den weiteren Verlauf der Chronik. Signifikant für die Herrscherdarstellung ist die im siebten Kapitel der ersten Episode thematisierte inzestuöse Zeugung Rolands durch Karl und dessen Schwester Gylem, die in der dänischen Bearbeitung mit dem eindeutigen Urteil als „dieffælssens jnskiutelsse“ (KMK, S. 16, 11 – Teufels Werk) gewertet wird. Die Inzestschuld wird einerseits mit der darauffolgenden Erscheinung des Engels Gabriel, andererseits durch eine am Altar liegende Schrift („k magnus keysser haffuer dølth then synd ath han haffde barn met syn søster“4) thematisiert. Karls eigenes Schuldeingeständnis („k fiøl paa kne ok wyderkennes the synder ok forloffuede at giøre the synder mere i sine dager“5), soll ihn von der Sünde befreit haben. Damit gehört die dänische Bearbeitung zusammen mit der Karlamagnús sagaKarlamagnús saga ok kappa hans zu den wenigen Texten des Mittelalters, die den Inzestfrevel Karls deutlich artikulieren, während das Motiv der inzestuösen Zeugung Rolands in der altfranzösischen Literatur nur selten konkretisiert wird.Roland6 Relevant ist diese Konkretisierung sowohl im Hinblick auf das konstruierte Herrscherbild als auch für die Schuldfrage in der Episode um die Schlacht von RoncesvallesRoncesvalles: Rolands Märtyrertod und der Untergang der fränkischen Armee können als extreme Bußleistung für die von Karl begangene Sünde interpretiert werden – eine Sünde, von der die dänischen Rezipienten nicht nur „zwischen den Versen“Roland7 bzw. zwischen den Zeilen der Krønike informiert wurden.

Das zentrale Charakteristikum in der Konstruktion von Karls Identität als Herrscher ist jedoch zweifelsohne seine an zahlreichen Stellen thematisierte Nähe zu Gott, die sich in Karls allegorischen Träumen wie in seinen Visionen äußert, die nicht selten in die Entwicklungen auf der histoire-Ebene eingreifen. In der Krønike, einer zyklischen Kompilation von Episoden unterschiedlicher, teilweise unbekannter Provenienz, stellen Karls Träume und Visionen ein strukturbildendes Moment der stets präsenten Möglichkeit zur Kommunikation mit der göttlichen Instanz dar. Die Verschränkung des heldenepischen und des religiösen Diskurses wird weiterhin in den Gebeten, die vor oder während der Schlacht von Karl selbst und seinen Gefährten gesprochen werden, aber auch in der Schilderung von Rolands märtyrerhaftem Ende im Kampf für die rechte Sache, offensichtlich.

 

Göttliche Interventionen, die mittels Engelserscheinungen kommuniziert werden, begleiten Karls Biographie in der dänischen Chronik ab der ersten Episode bis zu seinem Tod. Dabei reichen die Erscheinungen von enigmatischen allegorisch-symbolischen Träumen, wie etwa in der RoncesvallesRoncesvalles-Episode, bis zu konkreten Handlungsanweisungen („kom engelen till hannum ok sagde ryd hiem til tyn moder ok søster“), 8 die von Karl stets befolgt werden. Eine konstante Begleitung ist dabei der Engel Gabriel: Er erscheint in der bereits thematisierten Episode der Sündenbekennung nach der inzestuösen Zeugung Rolands (vgl. KMK, S. 16, 14) sowie in der Episode von Roncesvalles (vgl. KMK, S. 318, 1). In der letzteren erscheint Gabriel in seiner ihm auch ansonsten bescheinigten Funktion als Botschafter Gottes nach Karls Gebet darüber, „ath dagen skulle forlengis“,9 und überbringt ihm die Botschaft: „gud hauer hørth thin bøn Ryd æfter thynæ wuenner tw skalth haffue dag nogh“.10 Einen militärischen Auftrag überbringt er Karl am Ende der Episode: „far till libia land och hielp then gode konning ywan hedninge stryde fast pa hans land“.11 Die der französischen Epik eingeschriebene Kreuzzugsideologie offenbart sich auch in diesem recht späten Rezeptionsstadium in Engelsstimmen.

Die religiöse Ausrichtung der altdänischen Bearbeitung wird weiterhin von den hagiographischen Diskursen, welche die Krønike durchziehen, bedingt. Diese sind als Legitimationsstrategie für immer weitere Kriegszüge, Eroberungen und Morde an Heiden zu verstehen und vor dem Hintergrund der Figuration der historischen Figur als eines miles christianus einzuordnen. Im Kapitel 22, das eigens Sankt Jakob thematisiert, wird dies unmissverständlich kommuniziert: Sankt Jakob, der den heiligen Glauben in Galizien predigte und in Jerusalem starb, erscheint in einem der zahlreichen Träume Karls. Der Zustand der Region Galizien ist auch in der lakonischen Beschreibung als beklagenswert beschrieben: „llythet ther æfter for gikx cristna troo i galicia swa ath ther fandz næppelege en cristen man“.12 Der Apostel appelliert an Karl den Großen bezüglich der Befreiung Spaniens von den Heiden:

Och tøcker meg ware wnder attw frælssær icke myth landh fra sarasenus so som gud giore tegh megtugh ouer alle konger so skaltu frælsæ myt land ok flere stædher.13

Hier fungiert er, ähnlich den zuvor erschienenen Engeln, als Kriegsagitator im Kampf für den heiligen Glauben. Die Belohnung hierfür ist explizit aufgeführt: „Ok skaltu ther fore bære krone i hymmeryge ameN“.14

Eine noch deutlichere Interferenz des heldenepischen und des hagiographischen Diskurses findet in derselben Episode auf dem Schlachtfeld statt: Im Kampf gegen die Sarazenen reiten die noch jugendlichen Helden RolandRoland und WdgerHolger Danske an der Spitze der fränkischen Armee, der Erzbischof Turpin hält ein großes Kreuz mit dem eingearbeiteten Stück des Heiligen Kreuzes, als drei Ritter in weißen Rüstungen erscheinen und schweigend an der Seite der fränkischen Spitze reiten. Bei der Trias der weißen Ritter, die sonst auch in dieser Zusammensetzung in der Karlsepik belegt ist,15 handelt es sich um „Georgius, deometrius ok mærcurius“.16 Sankt Georg übergibt dabei sein Recht, im Kampf gegen die Heiden den ersten Schlag auszuführen, an Roland: „ok war all tid wan i stryd giffuæ thet forstæ hwg, ok thet giffuer jeg then wnge swen roland“.17 Die Ritterheiligen unterstützen die Franken tatkräftig und „hugge so store hwg ath C fiøllæ for teris swærd“.18

Eine dritte Szene bezeugt die Signifikanz der Hagiographie im Hinblick auf die narrative Konstruktion des Herrschers: Die abschließende Episode der Krønike zeichnet das Bild eines schwachen und kranken Herrschers, dessen schwindende Kräfte für den Kampf gegen die Sarazenen nicht mehr ausreichen. Da Karls Herrschaft stets an die militärischen Erfolge auf dem Schlachtfeld und somit auch an seine Körperlichkeit gekoppelt ist, erscheint es nur logisch, dass Karl die Regierung des Frankenreichs seinem Sohn übertragen will, wenn er sagt: „ieg ær nw gammell och siwger ath ieg hauer engen mackt ath stride moth hedningen miere Thij bedher ieg ether ath i tage lodarius myn søn till keysere i myth stet“.19

In diesem liminoiden Momentum der Brüchigkeit des Helden- und Herrscherbildes treten die heldenepischen Diskurse in den Hintergrund, während die hagiographischen Elemente Karls Bild als Heiliger modellieren. So schließt das Kapitel und damit die gesamte Karl Magnus Krønike mit einer Vision des Sankt Ägidius, Karls Beichtvaters, deren Ursprung wohl die Pseudo-Turpin ChronikPseudo-Turpin Chronik und die darin enthaltene Vision des Turpin selbst sein dürfte. Nach dem Tod Karls erscheinen Sankt Ägidius mehr als 300 Teufel, die sich der Seele bemächtigen wollen. Als die Seele jedoch auf einer Waagschale lag, füllte der kopflose Jakob („then hoffuet løssæ Jacop som i kallen apostel“20) die andere Schale mit Steinen auf und bewahrte damit Karls Seele vor der Hölle („och k. siel war so lætth ath wij wistæ icke hwort hob bleff“21). Die Steine, die Sankt Jakob in die andere Schale wirft – und das wird in der dänischen Bearbeitung nicht erwähnt –, sind die Steine der vielen Klöster und Kirchen, die Karl der Große errichten ließ. Das Versprechen des Apostels Jakob, Karl solle für die Befreiung Spaniens von den Sarazenen „bære krone i hymmeryge“,22 ist hiermit eingelöst und so endet die Krønike im Sinne der religiös-hagiographischen Figuration des fränkischen Kaisers mit dessen Übergabe an den allmächtigen Gott, „som leffuer och styrer for wdhen ændhæ“.23

7.3. Zusammenfassung: epische Helden, heroische Epen

Aufgrund des unterschiedlichen Umfangs der Überlieferung sind die narrativen Heldenkonstruktionen in den altschwedischen respektive altdänischen literarischen Zeugnissen der Karlsdichtung als höchst unterschiedlich zu bewerten. Die altschwedische Adaption entwirft aufgrund von zwei, voneinander in Thema und Grundstimmung differierenden Kapiteln ein ambivalentes Bild des fränkischen Kaisers. Die erste Episode der Pilgerfahrt nach Jerusalem und Konstantinopel lässt ein geradezu karikaturhaftes Bild Karls und seiner Gefährten entstehen: Karl wird als ruhmsüchtiger Herrscher, der keinen Vergleich duldet, gezeichnet; die Franken werden als barbarische Trunkenbolde dargestellt, deren Benehmen im starken Kontrast zum höfischen Gebaren des byzantinischen Kaisers steht. Gleichwohl wurde auch die religiöse Valenz der komikhaften Voyage im Prozess der Adaption transferiert: Karls Gebete, die darauffolgende Engelsvision sowie das dominierende Thema der Reliquien-Translation unterstützen auch in der altschwedischen Version das Bild Karls als einen durch Gott erwählten Herrscher. In der darauffolgenden RoncesvallesRoncesvalles-Episode beschränkt sich Karls Rolle auf die eines Beobachters; aktiv tritt er hier im Gegensatz zu RolandRoland kaum in Erscheinung, auch wenn er den Tod seiner Gefährten rächt und so Spanien von der muslimischen Übermacht befreit, was eine Anknüpfung an das Konzept des miles Christi darstellt. So wird dem schwedischen Rezipienten ein ambivalentes Bild von Karl geboten, das aus den karikaturesken Zügen der Fahrt nach Konstantinopel und den pathetischen Lamentationen eines Märtyrerkönigs konstruiert wird. Im kodikologischen Kontext repräsentiert Karl der Große einen rex iustusrex iustus, dessen Herrschaft durch das Gottesgnadentum, Dei gratia, legitimiert ist.

HolgerHolger Danske Danske spielt in der altschwedischen Bearbeitung erwartungsgemäß keine signifikante Rolle. Dies ist zum einen auf die bereits thematisierte Überlieferungslage zurückzuführen – in den beiden überlieferten Episoden ist Ogier Le Danois auch in der französischen Dichtung nur am Rande erwähnt. Zum anderen böte die politische Situation zur Zeit der Entstehung der vier schwedischen Handschriften, nämlich der Kampf der schwedischen Aristokratie gegen die dänische Suprematie während der Kalmarer UnionKalmarer Union, keinen fruchtbaren Boden für die Genese eines Helden aus dem benachbarten Dänemark.

Die Entwicklung der Heldenfigur HolgerHolger Danske Danske in der dänischen Literatur- und Kulturgeschichte von seinen Anfängen als Wdger in der Karl Magnus Krønike bis ins 20. Jahrhundert stand naturgemäß unter gänzlich anderen politischen Vorzeichen und wurde von den dänischen nationalen Identitätsdiskursen begünstigt bzw. trug dazu bei, diese zu konstituieren.

Im Gegensatz zur Ogier-Figur scheint die Karl Magnus Krønike keine belegbare nachhaltige Rezeption der Karls-Gestalt ausgelöst zu haben. Trotz der hagiographisierenden Tendenz, die vor allem das Ende der Krønike auszeichnet, ist in Schweden und Dänemark kein Karlskult in Form von liturgischen Karlsfeiern oder einer ausgeprägten Karls-Ikonographie belegbar. Die Karl Magnus Krønike liefert aufgrund ihrer zyklischen Komposition von chansons de gestechansons de geste unterschiedlicher Provenienz und unterschiedlichen Alters ein komplexes, von einer hagiographisierenden Tendenz gekennzeichnetes Bild des fränkischen Kaisers als miles Christi im Dienste der Kreuzzugsideologie.

8. Karlsdichtung in den altostnordischen Handschriften
8.1. Genre- und Diskurstransfer

Die altostnordischen Bearbeitungen der altfranzösischen chansons de gestechansons de geste stellen ein vergleichsweise spätes Rezeptionszeugnis der französischen Heldendichtung dar und wurden in der vorliegenden Untersuchung als Intertexte in ihrem spezifischen literarischen Feld aufgefasst, also in den SammelhandschriftenSammelhandschrift des 15. Jahrhunderts. Konnte man die altfranzösischen Heldenepen anhand der von Aleida Assmann aufgestellten Kriterien wie Rezeptionsverhalten, Kanonisierung sowie Identitätsbezug noch als kulturelle Texte definieren, so ergab die vorliegende Untersuchung, dass die heldenepischen Texte ohne Rückbindung an ihr franko-romanisches kulturelles Gedächtnis ihren Status wechselten: Aus ihnen wurden nun literarische Texte, welche sich in das neue literarische Umfeld sowie dessen dominante Normen und Diskurse, integrieren konnten. Die Prosifizierung der chansons führte darüber hinaus bedingt durch veränderte Rezeptionserwartungen im neuen kulturellen Umfeld zum Verlust oder zur Modifikation gattungsdistinktiver Merkmale der französischen Heldenepik, beispielsweise der typischen Laissen-Form sowie der stilistischen Spezifika wie der fingierten Mündlichkeit oder Formelhaftigkeit.Eufemiavisor1

Die von der Prosifizierung bewirkten Modifikationen betrafen aber nicht nur die metrischen sowie stilistischen Elemente, sondern auch die inhaltliche und diskursive Ebene der Texte, sind doch die altostnordischen Adaptionen in beträchtlichem Maße von einer quantitativen, aber auch inhaltlichen Reduktion gekennzeichnet. So pejorativ es an dieser Stelle auch anmuten mag, begründet diese Vorgehensweise eine eigene, ostnordische Ästhetik im Umgang mit den Historien einer fremden Vergangenheit, indem die narrativen Kerne, vor allem die Kampfszenen, beibehalten und fokussiert werden, was zu einer stringenten und knappen Erzählweise führt. Diese Konzentration auf die Ereignisse und deren Ablauf ist sicherlich die charakteristische Tendenz der ostnordischen Bearbeitungen. Nur schwer beantworten lässt sich hingegen die Frage nach der Genre-Einordnung der adaptierten Stoffe. Während in der Altwestnordistik der Begriff der übersetzten riddarasögurriddarasögur im weitesten Sinne auch die übersetzte Karlsepik miteinbezieht, wurden die Übersetzungen der kontinentaleuropäischen Stoffe ins Altostnordische, mit Ausnahme der EufemiavisorEufemiavisor, nie als eigenes Genre wahrgenommen. Die jüngste Literaturgeschichte zum dänischen Mittelalter bezeichnet die Karl Magnus Krønike zwar dezidiert als „ingen ridderroman“,2 bemüht sich aber um keine Alternative.chansons de geste3 ‚Übersetzte Karlsdichtung‘ – oversat Karlsdigtning oder ‚adaptierte chansons de gestechansons de geste‘ – adapterede chansons de geste als Subgattung würden sowohl die kulturellen Prozesse während der Übertragung der Stoffe ins Altdänische als auch eine historische Verortung der Gattung demonstrieren.

 

Der Transfer zentraler Diskurse der Karlsepik wurde durch diese attestierte Reduktion infolge der Prosifizierung nicht beeinträchtigt, was die Analyse folgender diskursiver Felder belegt: AlteritätAlterität und Identität, Genre und Gender sowie narrative Heldenentwürfe in den altschwedischen und altdänischen Versionen. Trotz der mehrfach erwähnten metrischen und inhaltlichen Modifikationen sind einige der transferierten Diskurse durch eine erstaunliche Stabilität charakterisiert; dies gilt vor allem für das von Simon Gaunt diskutierte Konzept der monologischen MaskulinitätMonologische Männlichkeit als der dominierenden Genre-Konvention. Die Möglichkeit einer produktiven Kontamination durch zeitgenössische literarische Modelle, die von der hegemonialen Männlichkeit abweichende Konzepte bieten würden, wurde vom Bearbeiter offensichtlich nicht realisiert und vermutlich erst gar nicht intendiert. Dabei präsentieren Texte wie Flores och BlanzeflorFlores och Blanzeflor, Herr IvanHerr Ivan oder Amicus och Amelius durchaus alternative Männlichkeitsentwürfe, die zudem im kodikologischen Verbund in unmittelbarer Nähe von Karl Magnus erscheinen.

Die Textanalysen der Gender-Konstruktionen in den RoncesvallesRoncesvalles-Episoden in Karl Magnus und Karl Magnus Krønike demonstrieren eine offensichtliche Stabilität der monologischen Männlichkeit auch nach deren Transfer ins 300 Jahre jüngere literarische System des östlichen Skandinaviens. Der femininen Individualität wird nicht nur kein breiterer narrativer Raum gegeben, im Gegenteil sind die Positionen der weiblichen Figuren noch weiter abseits angesiedelt: Während die Verlobte Rolands und Olivers Schwester ihren Namen einbüßt und unmittelbar nach der Schlacht von Roncesvalles stirbt, tritt die zweite weibliche Gestalt der Chanson de RolandRoland, die heidnische Königin BramimondeBramimonde, erst gar nicht in Erscheinung. Der finale Akt der Akkulturation, nämlich ihre Bekehrung zum Christentum und die Heirat mit einem christlichen König aus Karls Gefolgschaft, werden in der dänischen Bearbeitung in einzigartiger Weise durch Integration einer anderen, diesmal sächsischen Königin aus einer anderen Episode, realisiert.

Einen weiteren untersuchten Diskurs stellen narrative Repräsentationen der AlteritätAlterität dar. Bereits den frühen chansons de gestechansons de geste werden ambivalente Alteritätsbilder attribuiert, indem die Darstellung der Sarazenen als „mirror images“4 der christlichen Kämpfer aufgrund struktureller Parallelen ihrer sozialen und politischen Ordnungen, aber auch ihrer mit den christlichen Werten korrelierenden Verhaltensnormen, wie etwa Tapferkeit oder Loyalität, erfolgte. Gleichzeitig galt es, die Religion als das einzig distinktive Merkmal im Dienste der Bildung der eigenen kollektiven Identität aufrechtzuerhalten. Im Zuge der Vereinnahmung der Heldenepik für politisch-ideologische Zwecke changieren sicherlich auch die Darstellungen der ‚Andersgläubigen‘ bis hin zu Dämonisierungen. Die Analyse der altostnordischen Texte ergab, dass der narrative Umgang mit den Anderen in der dänischen und schwedischen Bearbeitung der RoncesvallesRoncesvalles-Episode stark simplifizierend und durch die unübersehbare Tendenz zur Dämonisierung der Heiden gekennzeichnet ist. Nur vereinzelt lassen sich Aussagen finden, die das Dämonische der Heiden revidieren. Das geschieht etwa durch Wertschätzungen von Kampftugenden der heidnischen Ritter, die mit dem christlichen Wertekanon korrelieren. Dabei ist es aber immer als individueller Zug zu werten und nicht auf das Kollektiv übertragbar. Ein nuanciertes Bild der Gegner in der binär konstruierten Weltordnung des Kampfes kann aufgrund der bereits thematisierten diskursiven Reduktion und der Verlagerung des Fokus auf den ideologisch motivierten Kampf erst gar nicht entstehen. Die Alteritätsdiskurse der Karl Magnus Krønike fügen sich zudem insgesamt in die religiös-hagiographisierende Ausrichtung der dänischen Bearbeitung. Durch die Übersetzungen erhalten die ostnordischen Rezipienten Zugriff auf bereits vorgeformte, durch den Transfer jedoch noch weiter stabilisierte, weil reduzierte Konzepte der Alterität – als present absence waren die blamæn im Norden in den literarischen Übersetzungen durchweg pejorativ konnotiert.

Eine andere Ausformung erhält hingegen der Orient-Diskurs in den Jerusalem- und Konstantinopel-Episoden: Als utopischer Gegenentwurf zur martialischen Wirklichkeit der Schlacht fungiert hier Byzanz und die prächtige Welt des Orients als „a theatrical stage affixed to Europe“.5 Der Palast des Kaisers HugoHugo von Konstantinopel als liminoider Ort wird zur Bühne, auf der das Fremde mit dem Eigenen im Dienste der Konstruktion und Vergewisserung der christlich-fränkischen feudalen Identität ausgehandelt wird. Das Differenzierungsmerkmal der binären Opposition ist diesmal nicht die Religion, sondern die Weltordnung: Höfische respektive heldenepische Weltentwürfe treffen hier aufeinander. Die orientalischen Topoi des Luxus, der Pracht und der Wunder von Byzanz begründen einen zweiten, ungleich positiveren, exotisierenden Diskurs in der Begegnung mit dem Fremden in den ostnordischen Bearbeitungen.

Von einer Funktionalisierung des Alteritätsdiskurses im Dienste einer memorialkulturellen Identitätsstiftung ist im ostnordischen literarischen System zunächst nicht auszugehen. Man kann hingegen im Hinblick auf die kodikologische Kontextualisierung in den schwedischen Handschriften annehmen, dass diese Texte als profane Unterhaltungsliteratur mit einer (subtilen) Didaxe rezipiert wurden. Der Orient als Bühne bot den altostnordischen Rezipienten einen Blick in eine fremde Welt, mit der sie sonst nicht in Kontakt kamen. Dass offensichtlich jene vorgeformten Orient-Bilder dem Interesse und den Bedürfnissen des zielkulturellen Publikums entsprachen, offenbaren, zumindest für den Fall der schwedischen Bearbeitung, weitere Texte, die ähnliche orientalische Topoi wie in Karl Magnus thematisieren, nämlich Konung AlexanderKonung Alexander sowie Flores och BlanzeflorFlores och Blanzeflor.

Der Transfer von Heldenfiguren in den ostnordischen Raum, exemplarisch untersucht am Beispiel von WdgerHolger Danske Danske und Karl dem Großen, brachte im Großen und Ganzen das bereits im 12. Jahrhundert propagierte Bild der milites Dei, der Soldaten Gottes, in den Norden. Signifikant für die ostnordische, speziell dänische Bearbeitung war die Tradierung des Helden Wdger. Der Redaktor der Karl Magnus Krønike hat dem einheimischen Helden zwar nicht mehr narrative Handlungsmöglichkeiten eingeräumt, dennoch wird in der Krønike ein Heldenkonzept entworfen, das offensichtliche Anschlussmöglichkeiten an die späteren Umformungen im Zuge nationaler Sinnstiftungen und dänischer Identitätsdiskurse bieten konnte.

Die lange Reihe europäischer heroisierender Repräsentationen Karls des Großen wird durch die ostnordische Karlsepik ergänzt: In beiden (ostnordischen) Literaturtraditionen verkörpert er das seit dem 7. Jahrhundert propagierte Bild eines rex iustusrex iustus, des gerechten Königs und Idealherrschers, wobei die beiden Episoden der schwedischen Bearbeitung ein recht ambivalentes – pathetisches wie satirisches – Bild von Karl zeichnen, während das dänische Karlsbild von subtilen, zum Ende hin jedoch immer stärker hervortretenden hagiographisierenden Tendenzen gekennzeichnet ist. Die Fokussierung der Handlung auf militärische Auseinandersetzungen lässt vor allem das Bild des Kriegerhelden Karl entstehen.