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Karl der Große im Norden

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6.4.2. Alternierende Alteritätsdiskurse in der Karl Magnus Krønike?

Das altdänische Rolandslied ist jedoch nicht die einzige Episode in der Krønike aus dem breiten Fundus der chansons de gestechansons de geste, die Alteritätskonstruktionen entwirft und vermittelt. Ob sie dabei als repräsentativ im Umgang mit dem Anderen in der altdänischen Literatur erachtet werden, können Analysen weiterer Szenen bestätigen oder widerlegen: Die zirkulär aufgebaute Kompilation behandelt neben den orientalischen und orientalisierten Anderen auch andere als heidnisch definierte Völkergruppen, so etwa die Sachsen in der Episode IV. „Kampen i Saksen med Kong Vittelin“.1

Im Mittelpunkt des Kapitels „Kampen i Spanien med Kong AngulandoAngulando“, einer kompilierten Adaption der Chanson d’Aspremont mit einigen Szenen der Pseudo-Turpin ChronikPseudo-Turpin Chronik,2 steht der Kampf Karls des Großen mit dem heidnischen König Angulando, der bei seinem Feldzug in Spanien viele Christen zur Flucht zwang. Das in dieser Episode konstruierte Bild des „rechten“ Glaubens wird mit Karls Antwort auf Angulandos Frage, warum Karl das Land, das weder ihm noch seinem Vater gehöre, nehmen wolle, unmissverständlich artikuliert: „Vor herre skabede christne mend offuer hedninge oc bød at hade eder“.Cod. Holm. Vu 823 Karls Argumentationsweise basiert auch hier auf dem eigenen Religionsmodell, das eine klar distinkte Opposition zwischen Heiden und (Über-) Christen offeriert und so den Krieg legitimiert. Der Versuch Angulandos, seinen Glauben zu verteidigen, scheitert, wenn Karl diesen mit dem Satz kommentiert:

wij tro pa gud fadher ok søn ok then helge and tha wij døø kommer war syel tyl hymmerige ok ether till heluede, tw skalt nw haffue koretth hwath helder tw willt.4

Nach der harten Schlacht, in der alle Heiden geschlagen wurden, gelangt AngulandoAngulando zu der Einsicht „ath ether tro ær helger en wor“5 und will sich am nächsten Morgen taufen lassen. Als er jedoch Karl am prächtig gedeckten Tisch sitzen sieht, revidiert er seine Entscheidung angesichts der zwölf Bedürftigen, die in zerrissenen Kleidern auf dem Boden mit wenig Nahrung neben dem Tisch kauern. Karls Erklärung, „thet ær gudz folk wij fødhæ xij aff them hwer dag, for the xij ware gudz apostel“6 relativiert Angulandos Auffassung des Christentums als einer besseren, „heiligeren“ Religion. Von der Taufe nimmt er Abstand mit der Begründung:

thet ær wnderleght ath tyne tiener syde wyd bord ok haffue nok madh ok win ok tynæ gudz tienere sætther tw langht fra tegh ok giffuer them lydhet ath ædhæ ok dricke, ther pa mærker jeg ath thin gud ær wærre æn myn, thy will ieg enghe lwnde worde cristen i thenne tid.7

Trotz des kritischen Potenzials der Aussage wird diese im Verlauf der Episode nicht weiter kommentiert. In der darauffolgenden Schlacht flieht AngulandoAngulando unehrenhaft, nachdem seine Armee geschlagen worden ist.

Ein etwas anderes Bild hinsichtlich heidnischer Ritter wird in einer weiteren Episode des Kapitels konstruiert, die den Zweikampf zwischen Angulandos Sohn Jamund und Karl thematisiert. Dass Karl auch hier der triumphierende Sieger ist, verdankt er allein „gud som all tidh hiellper“ (KMK, S. 122, 20) – dem Gott, der allzeit hilft. Jamund wird erschlagen, als RolandRoland ihm den Helm samt Kopf spaltet, so dass „hiærnen flødh wd aff mwnnen ok størthæ dødh nædher“.8 Als seine verunstaltete Leiche („oc war høgre arm sønder slagen oc bodhæ øgen laa wdhæ pa kynbeneth“9) weggetragen wird, würdigt Karl Jamunds Tapferkeit mit einem Konditionalsatz: „hade thenne man wareth cristen tha hadde engen raskere ryddere warett i all werden“.10 Aber auch die schnellsten Ritter der Welt taugen nichts, wenn sie heidnisch sind, so dass Jamund unmittelbar nach Karls Äußerung „worde […] giffuen all diæfflæ i helwidhæ“.11

Jamunds Tod verursacht auch in eigenen Reihen Zweifel an der heidnischen Religion und so erklingt die Frage nach der Macht der Götter mehrfach beim Anblick des toten Jamund, etwa von Galinger: „hwor ær tin krafft wor gud magun hwij lather tw so dræbæ tynæ men“12 oder von AngulandoAngulando: „hwor ære nw wore gude bleffne hwi gade […] told ath tw blest slagen“.13 Die Antwort fällt eindeutig aus: „wore gude dwge inthet them haue drauels quinær sønder brodhet we worde hannum them sørger“.14

Ein theologisch fundierter Diskurs findet sich hingegen weiter im Verlauf des Kapitels im Dialog zwischen RolandRoland und Ferakunde, diesem „troløssæ diafel“ (KMK, S. 142, 149) – ungläubigen Teufel –, in der frankophonen Tradition aus dem Geschlecht Goliaths stammend, der Jamunds Tod rächen soll. Der Kampf Rolands gegen Ferakunde ist in der altdänischen Bearbeitung insofern eine Reminiszenz an die biblische Szene zwischen David und Goliath, als Roland ebenfalls Steine gegen seinen Gegner einsetzt („syden slog roland hannum met stenæ“15). In der Kampfsituation gestehen sich die Gegner gegenseitig Schlaf- und Erholungsphasen zu. Dabei kommt es zu einem Gespräch, das strukturell an die in der antiken Tradition wurzelnden Lehrdialoge und die im Mittelalter etablierte disputatio anknüpft. Diese rhetorische Form organisiert den didaktischen Zweck, nämlich die Wissensvermittlung, dialogisch durch eine Frage-Antwort-Struktur und stellt gleichzeitig ein Identifikationsangebot an das Publikum dar, das sich das Wissen folglich schrittweise erarbeiten kann.16 Im Dialog übernimmt Roland die Funktion des magister, während die Rolle des fragenden discipulus dem Riesen Ferakunde zukommt. Inhaltlich thematisieren die Protagonisten Aspekte der christlichen Religion, eingeleitet mit der Frage Ferakundes: „po hwem tro frankes men?“,17 was zu einer Erklärung Rolands über das Wesen des Christentums, die Erschaffung der Welt und die Dreifaltigkeit führt, rhetorisch orientiert am Glaubensbekenntnis. Dabei stellt Ferakunde immer wieder Fragen, die sein intellektuelles Potenzial offenbaren und Roland zu weiteren theologischen Ausführungen motivieren: 18

Ferrakunde: „pa hwem tro frankes men“

RolandRoland: „pa iesum christum“

Ferakunde: „hwat christus ær“

RolandRoland: „thet ær gudz søn aff hemmerige, ok ær føddher aff jomffrv maria som dhødæ pa corsset ok trydie dag stod vp aff dødæ ok for till heluetis ok togh ther wth adam ok eua ok xlde dagis stegh han wp tiil hemmel ok sydher nw pa syn fadhers høgræ hand“

Ferakunde: „om jeg kaller gud fader Ok gud søn ok then helgæ andh thet ær jo iij gude“

RolandRoland: „thet ær en gud ok icke iij tog iij personer ok en i gudommen mærk hwre abraham saa iij engell ok dyrket en“.19

Zur Illustration seiner didaktischen Vermittlung bemüht sich RolandRoland immer wieder um anschauliche weltliche exempla, die auch Ferakunde zu verstehen vermag:

Ferakunde: „bewiis hwore iij ting kan worde eth“

RolandRoland: „thet will ieg bewijsæ tegh i werælss tingh mærk pa en harpe ther ær træth strenge ok handen the ære iij tingh ok eth lydh so ær ok mandell nøtthen først ær skalen ok swa fnaset ok so kærnin the ære iij tingh ok eth i teg sielff ære iij tingh lymmer kroppen ok sielæn togh æstu en man

Ferakunde: „hwore motthæ en jomffrv barn føde“

RolandRoland: „Madkæ fyskæ fwglæ by worde ok leffue aff sølæn ok ander tingh wdhen mandz samlende“.20

Ferakundes wachsende Kenntnis vom Wesen des Christentums, die schlussendlich zur Akzeptanz der Glaubensgrundsätze führt, entwickelt sich parallel zu Rolands Erklärungen, ist aber stets eine Relativierung des Credo: „iegh tror nw wel ath gud ær en ok trænnæ æn thet weth iek ecke hure han scullæ søn afflæ“21 oder „thet tror jeg alth well jcke tror jeg ath gud motthæ worde man“,22 ebenso wie „icke tror jegh pa hans vpstandelssæ“.23 Der friedlich entfaltete theologische Disput endet mit einer Kampfansage, die in einer Bekehrung des Besiegten zur jeweils anderen Religion resultieren soll. Der zentralen Thematik der Krønike verpflichtet, ist der letale Ausgang Ferakundes nicht weiter überraschend. Auch angesichts des Todes durch den Stoß in den Bauchnabel, seine einzige verwundbare Stelle, die er RolandRoland zuvor mitgeteilt hat, ist er nicht bereit, sich dem fremden Glauben zu unterwerfen, und ruft seinen Gott an: „Færakude ropede i døden ok sade mament gud tak myn siell nw dør jeg“.24

Diese kursorische Analyse des Kapitels offenbart an dieser Stelle eine starre Konstruktion, welche die gottlosen Götzendiener als Feindbild manifestiert, deren Götter nichts taugen und deren Seelen unmittelbar in die Hölle wandern, obwohl die Sarazenen durchaus als Kämpfer gewürdigt werden. Beachtenswert ist jene Passage, in der AngulandoAngulando seinen Entschluss zur Taufe angesichts der ihm kritisch erscheinenden Ungerechtigkeit, die dem christlichen Glauben innewohnt, revidiert. Dieser Religionskritik nachzugehen oder sie zu kommentieren, entsprach wohl nicht der Mission des dänischen Bearbeiters/ Übersetzers, die hauptsächlich darin bestand, auch hier theologische Diskurse im Rahmen der binären Opposition Christentum/ Heidentum zu instrumentalisieren, um so die bestialische Kampfästhetik zu legitimieren.

 

6.5. Raum- und Orient-Diskurse in der altschwedischen Übertragung des Voyage

Folgende Textanalyse soll anhand des close reading der relevanten Passagen der altschwedischen Übertragungen von Voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople zur Klärung der Frage beitragen, ob der Umgang mit dem Anderen bzw. dem Fremden in Folge des Kulturtransfers changiert und wie die AlteritätAlterität des Orients in den ostnordischen Texten konstruiert wird, so dass man anhand dessen eine Kontinuität oder aber den Wandel der literarischen Orientalismen durch Transmission nachverfolgen kann. Anschließend werden die Funktionen dieser übersetzten Alteritätsdiskurse im einheimischen literarischen Polysystem untersucht.

6.5.1. Struktur und weitere Motive

Die recht kurze Episode lässt sich in vier Teile gliedern: Den ersten Teil bildet die Eröffnungsszene in Paris bzw. Saint-Denis, in der die Motivation der Reise sowie bereits einige wichtige Konzepte der Rivalität und der Macht angelegt sind, die mit einem Prolog eingeleitet werden:

Hær byriæs fagher ærende och iær[teknæ]

aff karlla magnus konungh och tolff [hans]

iempnungha.1

Der Aufenthalt in Jerusalem findet im zweiten Teil statt, während im dritten Teil die etwas längere Passage dem Treffen mit Kaiser HugoHugo von Konstantinopel in Konstantinopel sowie der Durchführung der gabs gewidmet ist. Die Rückkehr nach Paris bzw. Saint-Denis stellt den vierten Teil dar, der mit einer Art Epilog abschließt:

Tha redde han sik til spania

landh som honom war teeth i iherusalem

och loth ther effter sik rolandh och

them tolff jempnunga och swa

lyktom wi waar æuentyr.2

Der Beginn und das Ende der Reise in Saint-Denis bilden eine zirkuläre Struktur des Kapitels, welche auch alle skandinavischen Bearbeiter unverändert übernehmen. Die schwedische Version ist zudem mit dem Pro- und Epilog des Dichters/ Übersetzers versehen.

Zunächst sollen hier einige relevante Raumkonzepte näher beleuchtet werden, um sie besser in das Gesamtbild der Alteritätskonstruktion im Text zu integrieren. Bereits die lokalen Konstellationen der Eröffnungsszene enthalten einige Modifikationen, die als intentional im Prozess der Übertragung interpretiert werden können:

Swa ær sakt at h[an]

War j paris och haffde ther stempno [mz]

Allæ iærlla och hertuga j rikeno [sino]

En konunger sættis vnder eth høgt tr[æ]

och drøtningen hans næst honom / och [alla]

høffdingæ kringom han.3

Die lokale Angabe vnder eth høgt træ ist nicht nur im Hinblick auf die altfranzösische Vorlage modifiziert, in der bereits zu Beginn der Ort Saint-Denis „al Seint Denis muster“Le Voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople4 Erwähnung findet, sondern auch hinsichtlich der altwestnordischen Quelle Karlamagnús sagaKarlamagnús saga ok kappa hans, in der Karl der Große „settist á því móti undir olifatré eitt“.5 Diese zunächst unwesentliche Variation offenbart einige Hinweise zur Umfunktionalisierung der Lesererwartung. Die zeitgenössischen Rezipienten des Voyage konnten durch die unmittelbare Nennung der Abtei von Saint-Denis die Geschichte bereits in einen historischen und religiösen Kontext einordnen, immerhin handelt es sich um einen relevanten Erinnerungsort, der seit 564 den fränkischen Königen als Grablege diente und auf Grund der dort aufbewahrten Reliquien ein beliebter Pilgerort war. Dass der Dichter oder jongleur die Pilgerreise von Saint-Denis ausgehen lässt und nicht von Paris, etwa von Notre Dame aus, die bereits 1108 eine berühmte Reliquie besaß, nämlich ein Stück vom Heiligen Kreuz, wird in der Forschung mit der historischen Tatsache erklärt, dass der Zweite Kreuzzug unter Ludwig VII. von Saint-Denis aus begann6 – worauf der burleske Voyage de Charlemagne als Satire gelesen werden kann.

Für die Rezipienten des altschwedischen Karl Magnus war die kulturhistorische Dimension solcher Orte weniger relevant als für das zeitgenössische Publikum des Voyage; der religiöse Bezug zu Saint-Denis als Aufbewahrungsort wichtiger Reliquien musste daher nicht sofort im Eingangsvers hergestellt werden. Stattdessen werden Ortsangaben deskriptiv neutral angegeben – an dieser Stelle lohnt sich ein Blick in die altwestnordische Saga: Der weiter oben angeführte Olivenbaum der Karlamagnús sagaKarlamagnús saga ok kappa hans wird in der schwedischen Bearbeitung als hoher Baum beschrieben. Hier zeigt sich die Nähe des altwestnordischen Textes zu seiner altfranzösischen Vorlage, in der auch der besagte Olivenbaum – „desuz un olivier“ (PdC, S. 4, 7) – vorkommt, was die Forschung dazu veranlasst hat, orientalische Ursprünge der Geschichte zu konstatieren, sind doch Olivenbäume in Nordfrankreich ebenso wenig heimisch wie in Skandinavien.7 Ergänzend sei noch hinzugefügt, dass die dänische Bearbeitung, welche eine andere Redaktion der Pilgerreise repräsentiert, den Baum schlichtweg durch eine Szene am Tisch ersetzt und Karl „ouer bord“ (KMK, S. 264, 27) – am Tisch – positioniert, ohne jegliche Angaben über Saint-Denis oder dort vorhandene (Oliven-)Bäume. Für die Entwicklung der Geschichte haben diese Angaben zunächst keine Relevanz. Modifikationen solcher Art öffnen jedoch neue Räume zur Interpretation über die möglichen Intentionen der skandinavischen Übersetzer/ Redaktoren. Durch die Tilgung von Saint-Denis als Ort des Geschehens entfernen sich die skandinavischen Bearbeitungen zunächst vom religiös-historischen Kontext der Geschichte, welche durch ihr recht pragmatisches Setting unter einem (Oliven-)Baum bzw. am Tisch klar im säkularisierten Bereich situiert wird. Ob diese Profanisierungstendenz weitere in der Episode narrativ angelegte Konzepte betrifft, wird nun im Verlauf dieser Arbeit geprüft.

Dass Saint-Denis in den nordischen Bearbeitungen nicht fehlen darf, belegen weitere Szenen, in denen der Ort erwähnt wird:

At sancta dyonisij ær

j frans tok : k : k: kors och allæ hans

riddara.8

Es existieren keine Belege darüber, ob die schwedischen Rezipienten diese prominente Pilgerstätte kannten, jedoch kann eine besondere Verbindung zu diesem Ort einer anderen wichtigen Stimme der altschwedischen Literatur zugesprochen werden. Die Heilige Birgitta unternahm im Jahre 1340 zusammen mit ihrem Mann eine Pilgerreise nach Santiago de Compostela und machte auf dem Rückweg einen Halt in der Abtei von Saint-Denis, nicht zuletzt aufgrund ihrer Verehrung für den Heiligen Dyonisius, von dem sie mehrere Visionen hatte, welche in ihren Revelationes festgehalten wurden.9 Allerdings sind keine birgittinischen Schriften in den vier altschwedischen SammelhandschriftenSammelhandschrift enthalten, so dass man deren Rezeption bei der Leserschaft der vier altschwedischen Sammelhandschriften nicht mit Sicherheit voraussetzen kann, wohl aber bei den Verfassern, ist doch die Anknüpfung an das Kloster VadstenaVadstena im Falle der Handschrift Cod. Holm. D4Cod. Holm. D4 gegeben.

Auch wenn die schwedischen Rezipienten des 15. Jahrhunderts Saint-Denis als ein relevantes geistliches Zentrum einordnen konnten, dürfte der zeitgenössische Bezug zum historischen Kontext des Zweiten Kreuzzuges zumindest nicht dieselbe Relevanz gehabt haben wie für das französische Publikum zum Zeitpunkt des Verfassens des Gedichts. Hier kann man von einem Funktionswandel ausgehen. Entkontextualisiert ließ sich der durchaus unterhaltsame Text nun in ein neues soziokulturelles Milieu integrieren. Das Fehlen der historischen Verbindung führte eine gewisse Ent-Politisierung mit sich, das satirische Potenzial der Episode blieb jedoch durchaus erhalten und entfaltete sich im Kontext der politischen Situation in Schweden zu Zeiten der Kalmarer UnionKalmarer Union in einer Reihe weiterer satirischer Texte der Handschriften, u.a. Herr abbotenHerr abboten als Beispiel für die Kleriker-Satire.

Im Folgenden werden nun die Alteritätsdiskurse und das narrativ konstruierte Orient-Bild in der altschwedischen Übertragung analysiert: Wie schon zuvor in der französischen Vorlage resultiert Karls Wunsch, das Heilige Grab in Jerusalem sowie Konstantinopel aufzusuchen, aus den unvorsichtigen Worten seiner Gemahlin. Karls Frage,

west thu nokon t[hen konung]

j werldine som jemwæl [høwe krono]

at bæræ som mik / e[ller jæm wæn ær]

j hær waknom som iach,10

provoziert neben dem ethischen Urteil „ey skal man [sik lowa siælwan] mykit“11 auch die unangenehme Wahrheit: „jach wet [en som høgre bær] krono sinæ och [høwizskare ær].12 Hier werden bereits zwei Herrschaftsmodelle gegenübergestellt, das auf Reichtum und Wohlstand beruhende Königreich des – hier noch nicht namentlich erwähnten – Kaisers von Konstantinopel HwginHugo von Konstantinopel und die auf Tapferkeit und Kampftüchtigkeit ausgerichtete Herrschaft Karls des Großen:

Rikare ær han til fææ æn thu æst

Thok ær ey han swa goder konunger som thu

æst riddare / och ey swa rasker j bardaga.13

Auf die dringliche Bitte Karls hin, den Namen preiszugeben, beschreibt Karls Gemahlin den Herrschaftsbereich Hugos, der von Persien bis nach Kappadozien14 reicht:

[ha]n ær keysare j mycla gardhe han

[radhe]r j persyam alt til capadociam Ey

Ær jæmfrom riddare / och ey swa

Mangkloker som thu.15

Daraufhin brechen Karl und seine Gefährten von dem bereits erwähnten Ort Saint-Denis „j frans“ zunächst nach Jerusalem auf. Auch wenn der Vergleich mit Kaiser HugoHugo von Konstantinopel die primäre Motivation der Reise ist, so deklariert Karl sie als Pilgerreise zum Heiligen Grab, wie ihm in mehreren Träumen und Visionen ans Herz gelegt wurde:

[…Jak] haffuer huxat fræmdh

[mina a oku]nnog landh och søkiæ iher-

[usalems borg] thz ær komit fore mik j

[sømpne trim s]innom och will iach søkiæ

[konung som het]er hwgin16

Die typischen Pilgerattribute, „pikstaffua sina och pilægrim klæden“ (KM, S. 6, 5–6) – ihre Pilgerstäbe und Pilgergewände – unterstreichen den Pilgercharakter. Sie werden vor der Reise vom Erzbischof Turpin gesegnet. Mit diesen Zeichen der Pilgerschaft, die zum Teil eine Schutzfunktion inne hatten, indem sie zum einen die Reisenden generell als Pilger kennzeichneten, zum anderen der Unterstützung des Körpers dienten (z.B. der Pilgerstab),17 wird der friedliche Charakter der Mission deutlich, der im martialisch orientierten Rahmen einer chanson de geste durchaus ein Novum darstellt und die Frage nach der Genre-Zugehörigkeit aufwirft. Der symbolische friedliche Charakter wird im Verlaufe der Geschichte, vor allem nach der Ankunft in Konstantinopel, jedoch durch Karls Verhalten und den destruktiven Habitus einiger der gabs konterkariert, so dass man den symbolisch-friedlichen Diskurs hinterfragen kann.

Hervorzuheben ist in der schwedischen Episode der genaue Verlauf der Reise bis zur Ankunft in Jerusalem. Während die Beschreibungen der Pilgerroute im Altfranzösischen recht viele Ortsangaben enthalten, wie etwa „de France et Burgoine“, „Loheregne“, „Baivere e Hungerie“, „les Turcs e les Persaunz“, „a Lalice“, „en Grece“, „en Romanie“ (PdC, S. 8, 100–106), die der Marschroute der französischen Teilnehmer des Zweiten Kreuzzugs entsprechen, werden diese topographischen Markierungen im altschwedischen Text getilgt, so dass man hier erneut den fehlenden Bezug zum politischen und religiösen Hintergrund feststellen kann. Wenn aber der Voyage als Satire auf dieses historische Ereignis und dessen jämmerlichen Ausgang interpretiert werden kann, so wäre diese politische Intention in der schwedischen Übersetzung ohnehin nicht mehr aktuell, was zur bereits erwähnten Ent-Politisierung des Stoffes als Übersetzungstendenz oder -konsequenz beiträgt.

Als erste Station seiner Pilgerfahrt besucht Karl der Große die Heilige Stadt Jerusalem. Diese Stadt wird topographisch durch zwei Kirchen markiert; namentlich erwähnt – und im Gegensatz zur französischen Vorlage eindeutig identifizierbar – wird die Paternosterkirche auf dem Ölberg „kirkio / the som pater noster heter“ (KM, S. 6, 21–22) sowie die Kirche der Heiligen Maria Latina, die Karl nach seinem Aufenthalt dort errichten ließ: „och loth gøræ enæ kirkio tha som heter marie latine“.18 In der Paternosterkirche geschieht nun Folgendes:

 

j the kirkio standa

tolff stola och trættænde war then

som gudh siælffuer sath pa och hwar

apostolus a sinom

Tha sattis han a then

stoll som war herra sath pa och tolff

iærlla om han / the honom følgdo Tha

kom ther løpande en jwdhe / och saa

hwar konungen saat och wart swa redder /

At han monde næstan galin wardha.19

Indem sich Karl in den Stuhl setzt, in dem Jesus beim letzten Abendmahl gesessen hatte, erhält die Szene deutliche Züge einer imitatio, einer Gleichsetzung Karls mit dem Herrn, während seine Gefährten die zwölf Apostel nachahmen. Obwohl die Episode vor allem durch die Schilderung der sofortigen Bekehrung eines Juden zum Christentum satirische Züge trägt, kann sie einiges über das konstruierte Bild von Karl dem Großen vermitteln, auch in seiner Rolle als gottauserwählter und gottbeschützter Herrscher. Hierdurch erhält Karl erst den Beinamen „der Große“ durch den Patriarchen, wenn er ihn als den größten aller Herrscher anerkennt:

Och skalt thu hetæ hæden fran kar-

lla magnus konung øwer allæ jorderikis

konunga.20

Bereits an dieser Stelle ist auch die anfängliche Problematik leitmotivisch thematisiert, nämlich die Frage, welcher Herrscher seine Krone höher trägt – in der altfranzösischen Version noch deutlicher mit der Wendung „sur tuz reis curunez“21 – die in der Konstantinopel-Episode noch wesentlich deutlicher in Erscheinung tritt.

Ein weiterer zentraler Motivkomplex wird mit der Übergabe der Reliquien durch den Patriarchen an Karl behandelt. Die Funktion der Reliquien kann dabei aus einer doppelten Perspektive bestimmt werden: Auf der Textebene tragen die Reliquien entscheidend zum Verlauf der narrativen Handlung bei. Auf der Kontext-Ebene ist hier sicherlich der historische Aspekt von Bedeutung, nämlich eine literarisch aufgearbeitete Legitimation für die Aufbewahrung ebenjener Reliquien in der Abtei von Saint-Denis, die für den schwedischen Bearbeiter von keiner Relevanz war. Eine bemerkenswerte Vorlagentreue zeichnet jedoch die schwedische Bearbeitung aus, denn die Zahl der Reliquien wie die Reliquien selbst stimmen mit der Aufzählung aus dem Voyage überein, wobei die Reihenfolge ebenso unverändert bleibt. Auf diese Weise erhielten die Rezipienten des Karl Magnus einen Zugang zum religiös-historischen Erbe eines anderen Kulturkreises – in einer literarisch leicht konsumierbaren Form der satirisch gefärbten Geschichte.

Die textimmanente Funktion der Reliquien kommt im dritten Teil der Episode zu Tage, besonders in der sog. gab-Szene. Die Franken, vom Kaiser HugoHugo von Konstantinopel freundlich empfangen und vom Wohlstand und Reichtum Konstantinopels beeindruckt, erzählen sich abends zur Unterhaltung gegenseitig æuentyr oder gabs, die ihre fantastische Stärke demonstrieren sollen. Während einige dieser Prahlereien übermütige, jugendliche Scherze sind, offenbaren andere durchaus martialische Züge, die auf die Zerstörung der Stadt abzielen. Hier wird der durch die Pilgerattribute – Stäbe statt Schwerter sowie die Pilgertaschen und Pilgergewänder – friedliche Charakter der Reise zunächst auf der metafiktionalen Ebene der gabs und später bei ihrer Realisierung konterkariert. Die Stadt Konstantinopel mutiert damit zum Austragungsort der Rivalität zwischen den beiden Konzepten der Macht, die in der Anfangspassage durch Karls Ehefrau thematisiert wurden: Wohlstand und Reichtum auf der einen, Tapferkeit und Kampfbereitschaft auf der anderen Seite.

Der in einer hohlen Säule platzierte Spion des Kaisers HugoHugo von Konstantinopel, der die Prahlereien der Franken belauscht, übernimmt in seiner Funktion als Kommentator zusätzlich die Wertung des Gehörten: Mal erstaunt und bewundernd, z.B. bei Karls æuentyr „mykit æst thu och starker“,22 gleichzeitig aber auch verurteilend, z.B. „och illa giorde keysaren at han lante idher herbærghe“23 oder „thz wet min tro wæl at j æren galne och owitre“.24 Ergänzend sei hier angemerkt, dass nicht alle wertenden Kommentare des Spions aus der französischen Vorlage im schwedischen Text erscheinen. Eliminiert wurde u.a. die Äußerung des Spions zum æuentyr vom Erzbischof Turpin, das als „bel e bon!“ (PdC, S. 30, 505) – schön und gut – etwas, das dem Kaiser keine Schande bereite, bezeichnet wird. Doch während Turpins gab im Voyage tatsächliche akrobatische Fähigkeiten und Präzision erfordert, soll nach seinem æuentyr im altschwedischen Text die Stadt Konstantinopel überflutet werden, so dass der Kaiser Hugo vor Angst auf den höchsten Turm klettern und nicht eher herunterkommen werde, bis Erzbischof Turpin es verlangt. Dass dieser gab keine positive Wertung als „bel e bon“ vom Spion erhält, liegt auf der Hand. Generell ermöglicht die Auslassung wertender Kommentare seitens des Spions dem Rezipienten eine größere Freiheit in seiner Urteilsfindung und kann also zu mehr Reflexion und eigenem Urteil beitragen.

Zwischen all den gabs, die zur Überflutung und Zerstörung der Stadt, zur Flucht der Einwohner, zur Versetzung des Kaisers HugoHugo von Konstantinopel in Angst und Schrecken führen sollen, findet sich aber einer, dessen Natur derart ambivalent ist, dass es in der Forschung bis heute keine eindeutige Position zu dessen Funktion gibt. Dabei handelt es sich um das æuentyr Olivers, des Waffenbruders von RolandRoland, der seine Stärke demonstrieren möchte, indem er die Tochter des Kaisers Hugo gleich hundert Mal in einer Nacht „beglückt“:

Take keysaren dotter sinæ the wænæ

och loffui mik liggiæ enæ nat nær

henne och om iach gør ey williæ min

mz henne hundradhæ sinnom / til wit-

nis henne / tha æghe keysaren wald

om mit hoffwd.25

In der schwedischen Bearbeitung fehlt die eindeutige Wertung dieses Abenteuers, während die Reaktion des altfranzösischen Spions zunächst Skepsis gegenüber Olivers Physis offenbart: „vu recrerez anceis!“ (PdC, S. 30, 490) – Ihr würdet vorher aufgeben – bevor ein eindeutig moralisches Urteil fällt: „Grant huntage avez dit, mais quel sacet li reis, En trestute sa vie ne vus amereit“ (ebd., 491–492).26

Die Frage nach dem Sinn und der Funktion des amoralischen æuentyr wurde von der Forschung kontrovers diskutiert. Nach Aebischer spielt Oliver „le rôle d’un don Juan monstrueux par son inhumanité“,27 ebenso wie die anderen in das gab involvierten Personen: „ses partenaires, lʼempereur Charles, le roi Hugon, la fille de ce dernier, ne sont pas moins méprisables – au contraire“.28 Denn als Kaiser HugoHugo von Konstantinopel, erzürnt über das Verhalten der Franken, sie zur Realisierung ihrer Geschichten zwingen will, ist Olivers Wette das Erste, was vollführt werden muss, auch in der schwedischen Bearbeitung des Stoffes:

Aat qwældeno lot hwgin : k: redhæ

herbærghe eth som bæst matte / och lot

j gøræ enæ seng / Sidhen dotter hans

war j seng leedh Tha badh hugin k:

at then osniælle olifernes skulde j sengh

fara til henna.29

Der Prostitution der jungen Frau stimmt neben Oliver und Karl der eigene Vater und – in gewisser Weise – Gott höchstpersönlich zu, wenn er die Franken bei ihren übermütigen Vorhaben beschützt. Das macht sie nach Aebischer „pas moins méprisables“ und stellt die zumindest ältere Forschung vor Fragen wie:

Quʼest ce que cette fille lubrique qui ne se révolte pas sous les coupables baisers dʼun aventurier inconnu? Quʼest-ce que ce père qui prostitue sa fille pour avoir le plaisir de couper le cou à ses hôtes? Quʼest-ce que ce Charlemagne qui assiste à ce spectacle infâme avec un air penaud et en tremblant uniquement pour sa peau? Quʼest-ce que enfin que ce Dieu, descendant du ciel pour consacrer une telle obscénité et sanctionner de tels crimes?30

Doch während die moralische Wertung und eine empörte Haltung solch fiktionalen Motiven gegenüber die Domäne der Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist, soll hier gerade der vermeintlich amoralische Charakter der Szene in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden. Was wird mit dem adoleszenten Verhalten Olivers, eines Helden, dessen Tugenden und Fertigkeiten denen eines Rolands, der zentralen Heldengestalt im epischen Universum der chansons de gestechansons de geste, in Nichts nachstehen, demonstriert? Wie fügt sich seine Handlung in den Orient-Diskurs, der in dieser Episode in der Dualität zwischen dem latein-europäischen und dem peripheren und damit fremden orthodoxen Christentum konstruiert wird?