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Karl der Große im Norden

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6. Narrative Konstruktionen der Alterität

AlteritätNeben den gattungsspezifischen monologischen Männlichkeitsdiskursen, die den Karlsstoff auch über seine Transmission hinweg aus einem fremden Literatursystem in den kulturell divergenten skandinavischen Kulturraum weitestgehend bestimmen, ist der narrative Umgang mit dem Thema AlteritätAlterität eines des zentralen Themen der chansons de gestechansons de geste-Forschung.1 Die volkssprachige Überlieferung der europäisch-kontinentalen Stoffe, wie auch im Falle der nordischen Karlsdichtung, vermittelt Repräsentationen der Alterität beruhend auf den Quellen und Vorlagen dieser Adaptionen. Die Darstellungen fremder Welten orientieren sich nicht an den primären Kontakten der Skandinavier mit anderen Kulturen, auch wenn diese Kontakte, z.B. in Form von Pilgerreisen, durchaus existierten.2 Die Quellen über diese Ereignisse sind jedoch spärlich und umfassende Studien bleiben bis heute ein Forschungsdesiderat.3 Stattdessen übernimmt die übersetzte Literatur eine Vermittlerfunktion, indem sie die in jahrhundertelanger Tradition entwickelten und modifizierten Motive der anderen Welten, so etwa orientalische Topoi, in das neue kulturelle Milieu transportiert. Zurecht merken Jonathan Adams und Cordelia Heß in Bezug auf übersetzte Texte an: „These documents do not reflect actual contact between the North and the Islamic world but rather the absorption of European anti-Muslim polemics into Scandinavian literary culture“.4 Dass Alteritätskonstrukte jedoch auch einem Wandel unterliegen und orientalische Topoi sich in Abhängigkeit von den diskursiven Prozessen der Selbst- und Fremdkonstruktion, von den zeitgenössischen religiösen, historischen und philosophischen Kontexten weiterentwickeln, wird in der Orientalismus-Forschung anhand exemplarischer Analysen immer wieder bestätigt.5

Grundlegend in diesem Zusammenhang ist das von Edward W. Said in Anlehnung an die französische Diskurstheorie entwickelte Konzept des Orientalismus, das den ‚Orient‘ als eine kulturelle Konstruktion betrachtet, eine europäische Erfindung, die eher in einer „imaginative geography“6 mündet denn geographisch konkret zuzuordnen ist.7 Als Gegenstand wissenschaftlicher Analysen wird der Orient-Begriff zumeist ob seiner Unschärfe oder gar Beliebigkeit kritisiert.8 Auch Edward W. Said, dessen Studie so kontrovers wie wirkungsvoll war, bietet keine eindeutige Definition, sondern subsumiert darunter verschiedene Bedeutungsvarianten. Orientalismus ist laut Said ein vom westlichen Europa entwickelter akademischer, literarischer und künstlerischer Diskurs, der den sog. Orient zur eigenen Projektionsfläche erhebt und diese auf der Basis der Dichotomie Okzident/ Orient stilisiert und mythisiert. Das konstruierte, als irrational, gefährlich, erotisch und brutal kodierte Fremde dient dem Zwecke, Europa – oder den Westen – „as its contrasting image, idea, personality, experience“9 zu definieren. Aber auch die positiv besetzte Dimension des Orient-Bildes, nämlich eine romantisierende oder exotisierende Lesart, ändert nichts an der Tatsache, dass der Orient in den literarischen Texten nicht mimetisch repräsentiert, sondern erst diskursiv ‚exotisiert‘ wird. Für die Verwendung des Terminus in dieser Arbeit ist dessen bereits angesprochene Bestimmung als historische Konstruktion relevant: Der Orient ist als ein „diskursiv stabilisiertes rhetorisches Produkt der europäischen Einbildungs- und Imaginationskraft“10 zu begreifen, also als eine in erster Linie europäische literarische und künstlerische Erfindung.

‚Okzident‘ und ‚Orient‘ fungieren in Saids Werk in Anlehnung an Michel Foucaults Bestimmung der kulturellen Identität durch ein geschärftes Bewusstsein von AlteritätAlterität11 als zwei asymmetrische Gegenbegriffe. Dabei wird der letztere zu einem Ort der Brutalität, Irrationalität und Dekadenz exotisiert, der Okzident hingegen durch die abwertende Darstellung des Anderen privilegiert. In diesem diskursiven Nexus zwischen Alterität und Identität manifestiert sich die westliche Identitätssuche, stets in einer Abgrenzung zu dem Anderen bzw. Fremden. Dabei ist die Alterität des Anderen und des Fremden weder stabil noch inhärent, sondern entsteht erst durch „a re-presence, or a representation“,12 die häufig durch stereotypisierte Topoi gekennzeichnet ist. In der kulturwissenschaftlichen Alteritätsdebatte habe sich die Opposition vom Eigenen und Fremden etabliert, die nach Andrea Polaschegg terminologische Schwierigkeiten aufweist.13 Gerade im Hinblick auf die zu untersuchenden Episoden und die unterschiedlichen Alteritätskonstruktionen ist es an dieser Stelle unabdingbar, das semantische Feld der Alterität, das Begriffe wie das Fremde, das Andere, das Eigene umfasst, näher zu bestimmen.

Nach Andrea Polaschegg entstammen die Begriffe das Eigene und das Fremde zwei verschiedenen Operationen und bilden daher keine Opposition zueinander: Während das Andere zu einer Identitätskonstruktion durch die Kategorie der Differenz beiträgt, ist das Fremde nicht in der Sphäre der Identität, sondern des Verstehens angesiedelt.14 Auf systematischer Ebene stehen daher das Eigene und das Andere sowie das Vertraute und das Fremde in Opposition zueinander. Für Polaschegg ist es die identitätserhaltende Differenzierung zwischen dem Eigenen und dem Anderen, die über Operationen wie Grenzziehung und Zuordnung letztlich zur Identitätskonstruktion durch Differenz beiträgt. Das Vertraute und das Fremde hingegen entwickeln ihre Relation zueinander durch eine Distanznahme und Annäherung, die in einem finalen Akt des Verstehens mündet.15 Die nicht-monolineare, d.h. reziproke Beziehung zueinander ist beiden Begriffsoppositionen gemeinsam.

Dass Alteritätsdiskurse bereits in der mittelalterlichen europäischen Literatur einer narrativen Repräsentation unterliegen, erscheint vor dem Hintergrund der sich erst zu etablierenden Konstruktion einer europäischen Identität sowie dem schwierigen Verhältnis zwischen der christlichen und islamischen Welt im Lichte der Kreuzzüge nachvollziehbar. Besonders signifikant war dieser Aspekt in den chansons de gestechansons de geste, einer literarischen Gattung, die vor allem von ideologisierender Kreuzzugsthematik und -propaganda sowie den martialischen Begegnungen mit den Sarazenen geprägt war.

Die wichtigsten Repräsentationsmuster des Anderen bzw. des Fremden erscheinen dabei auf unterschiedliche Weise in der Chanson de RolandRoland sowie im Voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople. Sie werden nun in der nötigen Kürze dargestellt, um den Transfer und die Funktionalisierung der Alteritätsdiskurse im altostnordischen Raum zu verorten und zu analysieren.

6.1. Alterität in der Chanson de Roland

AlteritätDie beiden in der Chanson de RolandRoland dargestellten oppositionellen Weltordnungen werden durch das Christentum und den Islam repräsentiert. Wie Richard Southern in seiner Studie zum Islambild des Mittelalters anführt, handelte es sich dabei nicht nur um zwei verschiedene Religionssysteme, sondern auch um zwei außerordentlich unähnliche Gesellschaftsordnungen, so dass die Existenz des Islams, sowohl in militärischer als auch kultureller Hinsicht, nach Southern das folgenschwerste Problem für die Christenheit des Mittelalters darstellte.1 Eine durch das Medium Literatur verfestigte Konstruktion des dämonisierten Anderen erscheint in diesem Zusammenhang einleuchtend, doch vollzieht ein komplexes poetisches Werk wie die Chanson de Roland tatsächlich diesen Dämonisierungsdiskurs? Sind die narrativen Konstrukte der paien, der Heiden, tatsächlich nur in dieser binären Opposition vorzufinden oder lässt das altfranzösische Rolandslied Leerstellen zu, die anders besetzt werden könnten?

Eine Lesart, die das Orientalismus-Modell der Analyse des kolonialen Diskurses bietet, lässt die vermeintliche Stabilität in der Besetzung der Rollen in Frage stellen. Die antithetische Komposition der christlichen Kämpfer, die mit der fränkischen Armee und den Gefährten aus der Gefolgschaft Karls repräsentiert werden, bzw. der SarazenenRoncesvalles2 ist keineswegs so stabil, wie die romanistische Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts es nahezulegen versucht. Auf den ersten Blick ist es die biologische Differenz, wie die dunkle Hautfarbe und die monströsen körperlichen Attribute der gent paienur sowie die sprechenden Namen der heidnischen Figuren wie etwa Malquiant oder Malcud,3 die zu einer Dämonisierung der Anderen beitragen und unübersehbare Aspekte des modernen Rassismus-Diskurses enthalten. Die einzige Kategorie der Differenzierung zwischen den beiden Weltordnungen stellt jedoch Religionszugehörigkeit dar – doch auch diese kann durch die Bekehrung zum Christentum überwunden werden. Die als „mirror images of the Christians“4 porträtierten paien befinden sich in einer parallel zum karolingischen sozialen Modell gezeichneten hierarchisch-feudalen Gesellschaftsordnung, welche auf der reziproken Beziehung zwischen Vasallen und ihrem Feudalherrn beruht und Komponenten wie Treue und Loyalität, Kriegsdienste und im Gegenzug dazu die entsprechende Entlohnung, Fürsorge und Anerkennung miteinschließt. Wie Sharon Kinoshita darlegt, ist das Epos durch ebenjene Instabilität der scheinbar fixen Konstruktionen der Identität und AlteritätAlterität gekennzeichnet. Für sie ist die Chanson de RolandRoland „haunted by a crisis of nondifferentiation strongly at odds with the monological fixity usually ascribed to it“.5 Dass die Bezeichnung paien nicht nur die muslimischen Ungläubigen, sondern auch Sachsen und Slawen umfasst, legt ein offensichtlich instabiles Konzept der Alterität offen. Kinoshita schlägt daher vor, die Sarazenen nicht aufgrund ihrer biologischen Merkmale zu definieren, sondern als einen Kulturkreis:

 

The Saracens, then, should be understood not as a race but as a culture, in Appaduraiʼs sense of situated difference: group identities are constituted by the conscious mobilization of certain attributes „to articulate the boundary of difference“ – attributes then naturalized as „essential“ to group identity.6

Wie bereits erwähnt, sind die Sarazenen als mirror images der Franken konzipiert und sind „virtually indistinguishable from them“.7 Die potenziell stets vorhandene und in der Chanson de Roland verhandelte, aber nie realisierte Chance der Bekehrung zum Christentum würde daher zum Kollaps der Differenz führen. Die Konstruktion dieser Differenz ist jedoch essenziell für die Bildung einer kollektiven Identität der fränkisch-christlichen Gemeinschaft.Roncesvalles8 Dies ist der Grund für das fehlende Interesse Karls des Großen an der Bekehrung der Heiden zum Christentum im Epos. So scheitern alle Bekehrungsversuche, mit der Ausnahme der heidnischen Königin BramimondeBramimonde. Sie ist diejenige Figur, in der sowohl die kulturell kodierten Differenzen als auch die genderspezifische Exklusion durch die Akkulturation in ein neues System ihr versöhnliches Ende finden.

Zusammenfassend für die Darstellung der Anderen in der Chanson de RolandRoland kann man nun zwei Aspekte hervorheben: Der erste betrifft die unübersehbare narrative Dämonisierung der dunklen Haut und die monströsen Attribute sowie sprechende, pejorativ konnotierte Namen der Sarazenen. Dabei sind einige sicher als Ergebnis der Fantasie, der Vorurteile oder des Aberglaubens der mittelalterlichen autores einzustufen, wohingegen andere durchaus auch in den modernen Diskursen des europäischen Rassismus wiederzufinden sind.

Der zweite Aspekt betrifft die in dieser Untersuchung angerissenen Konzepte des kulturellen Gedächtnisses und der identitätsstiftenden Funktion kultureller Texte. Durch die romanistische Forschungstradition des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kanonisiert, wurde das Epos und die Schlacht von RoncesvallesRoncesvalles als lieu de mémoire, als Erinnerungsort der fränkischen und später französischen kollektiven Identität kultiviert, an dem das Fundament des frühen nationalen Bewusstseins gelegt ist.Roland9 Doch gerade diese Identität und das in Abgrenzung zu dieser konstruierte Andere sind instabil und von der Krise der Nicht-Differenzierung stets bedroht, wie es hier an einigen Beispielen, u.a. an den Darstellungen der Sarazenen als „mirror images“10 der Franken skizziert wurde. Diese mirror function konstruiert den prämodernen Orientalismus-Diskurs des westlichen Europas: „It is Europe that articulates the Orient“.11

6.2. Der Orient-Diskurs in Voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople

Die zweite, allen nordischen Überlieferungen gemeinsame Episode ist die Jerusalemreise Karls des Großen, in der der Orient-Diskurs sich zunächst scheinbar grundlegend von den oben geschilderten Alteritätskonstruktionen der Chanson de RolandRoland unterscheidet. In der chansons de gestechansons de geste-Forschung wird die Episode aus verschiedenen Blickwinkeln in Bezug auf ihre Gattungszugehörigkeit diskutiert: Als „eigenartigste Chanson de Geste, […] die uns das Mittelalter hinterlassen habe“1 wird sie bezeichnet, als eine „chanson heroï-comique“,2 oder als eine genuine chanson de geste, die älter als die Chanson de Roland eingestuft wird. Oder handelt es sich dabei um systematische politische Satire, verfasst in einer Zeit, in der nicht nur die Verehrung Karls des Großen und seine Politik bereits kritisch rezipiert und reproduziert wurde, sondern auch der Kreuzzugsgedanke mehr zum Spott als zur Befolgung der Kreuzzüge motivierte?Le Voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople3 Diese Gattungsfrage, die von Generationen von Forschern stets neu verhandelt wird, ist im Kontext der Alteritätsdiskurse insofern von Bedeutung, als die Funktionen der chansons de geste, nämlich Identitätsstiftung, Konstruktion einer christlichen Gemeinschaft, Legitimierung des Heiligen Krieges gegen die Ungläubigen aufgrund der satirischen Valenzen in den Hintergrund treten. Die Episode mit der Reise nach Jerusalem und Konstantinopel dient auch oder vor allem der Unterhaltung, der in ihr geschilderte Orient-Diskurs ist durchaus von Bedeutung als Zeugnis der mimetischen Aneignung des Fremden im Mittelalter. Darüber hinaus ermöglicht die Situierung der Episode im virtuellen Universum der altfranzösischen Heldenepik die Erkenntnis, wie sehr die Alteritätsdiskurse innerhalb einer literarischen Gattung variieren, sich graduell weiterentwickeln und in Abhängigkeit von den Funktionen der Texte – werkimmanent wie auch durch die Rezipienten – modifiziert werden können.

Im Folgenden wird nun das im Voyage entworfene Orient-Bild vorgestellt und anschließend seine Transmission ins altnordische Literatursystem beleuchtet. Eine Analyse des Orient-Bildes in der ostnordischen Karlsdichtung wird auch die Frage klären, inwiefern das transportierte, vermeintlich historisch variable Konzept der kulturellen Differenz durch literarische und kulturelle Praktiken der Übersetzung zu dessen Kontinuität oder aber einem Bruch beiträgt und wie dieses Konzept im altschwedischen und altdänischen Polysystem funktional angewendet wird. Ferner soll exkursartig der Frage nachgegangen werden, ob die literarische Handhabung der kulturellen Andersartigkeit auch in den anderen ostnordischen Texten der SammelhandschriftenSammelhandschrift als intentional oder programmatisch betrachtet werden kann.

Das im Voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople entworfene Orient-Bild wird durch eine (Pilger-)Reise Karls und seiner Gefährten zunächst nach Jerusalem, später nach Konstantinopel und somit in einer scheinbar friedlichen Aktion vermittelt.4 Freilich dient der Alteritätsdiskurs auch hier der Selbstvergewisserung durch Vergleich und Abgrenzung. Narrativ wird dies bereits in der Einführungsszene belegt: In Saint-Denis, der im Mittelalter historisch relevanten Pilgerstätte, umgeben von seinen Gefährten, stellt Karl der Große eine wohl rhetorisch gemeinte Frage, ob es sonst auf der Welt einen Herrscher gäbe, der seinesgleichen sei, woraufhin seine Frau ihn unvorsichtig auf den Kaiser von Konstantinopel HugoHugo von Konstantinopel hinweist. An dieser Stelle werden zwei verschiedene Herrschaftsformen einander gegenübergestellt, deren Rivalität auch einen der thematischen Motivkomplexe der Erzählung ausmacht. Karls Ehefrau artikuliert sie folgendermaßen: Karl solle sich nicht erzürnen, Kaiser Hugo von Konstantinopel sei reicher an Wohlstand, in Gold und Münzen gemessen: „plus est riche de aver, d’or e de deners“ (PdC, S. 4, 27),Le Voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople5 Karl hingegen sei ihm überlegen, wenn es um die Kämpfe auf dem Schlachtfeld und das Besiegen der Feinde geht, er sei heldenhafter als Hugo und ein besserer Ritter: „mais n’est mie si pruz ne si bon chevalers/ pur ferir en betaile ne pur encaucer“ (ebd., 28–29).6 Die Macht des byzantinischen Kaisers wird demnach über den Wohlstand des blühenden Orients definiert, wohingegen Karls Autorität auf seinen martialischen Fertigkeiten, seinem Mut und dem idealen Rittertum beruht. Wie auch Rima Devereaux anmerkt, ist hier nicht die absolute Autorität ausschlaggebend, sondern ihre Manifestationen, „in the contrast between Frankish military strength and Byzantine wealth“.7

In der nächsten Szene bricht Karl mit seinen Männern auf, um unterwegs auf seiner Reise nach Konstantinopel – wie es ihm schon in zahlreichen Träumen nahegelegt wurde – das Heilige Grab in Jerusalem zu besuchen. Die Pilgerfahrt in den Orient, mit hängenden Pilgertaschen und Eschenholzstäben statt Schwertern und Lanzen, umfasste in der anglonormannischen, jetzt verlorenen Handschrift, zwei Stationen. Zunächst befinden sich Karl und sein Gefolge in Jerusalem, im Text durch zwei Kirchen repräsentiert: Die sich auf dem Ölberg befindende Paternosterkirche (PdC, S. 10, 114) sowie die Kirche der Heiligen Maria Latina (PdC, S. 14, 207–208), die von Karl errichtet wurde.8 Die Jerusalem-Episode enthält eine Abendmahl-Parodie, in der sich Karl mit seinen zwölf Gefährten in der Paternosterkirche auf dem Ölberg an einen großen Tisch mit 13 Stühlen setzt, was einen herbeikommenden Juden, im Glauben an die Ankunft Jesu und der zwölf Apostel, zu einer sofortigen Taufe durch den Patriarchen motiviert und Karl eine Reihe an Reliquien beschert. Der mittelalterliche Jerusalem-Diskurs schreibt dem Ort zwei Identitäten zu: Zunächst als das christliche Jerusalem, „the geographical target of crusading aspirations and the eschatological goal of the individual soul“,9 sowie als jüdisches Jerusalem, einer verschmutzten („polluted“) Stadt. Der Voyage thematisiert hauptsächlich den ersten Aspekt, indem die Stadt durch Nennung der beiden Kirchen als das christliche Jerusalem gemappt wird. Ob humoristisch oder bereits parodierend, ist Jerusalem als eine Station auf der Pilgerfahrt dargestellt, in der Karl neben wichtigen Reliquien, die er später nach Saint-Denis überführt, auch den Auftrag des Patriarchen erhält, Spanien von den Heiden zu befreien. Diese Referenz ist in einem geschlossenen epischen Universum auch immer als Präfiguration der entscheidenden Schlacht von RoncesvallesRoncesvalles einzuordnen. Die Tatsache, dass Karl der Große die Reliquien aus Jerusalem nach Saint-Denis transportiert, kann als Anlehnung an die Gattung der Translationsberichte betrachtet werden, welche, eingebettet in hagiographische oder religiöse Texte, die Herkunft und die translatio einzelner Reliquien beleuchten.

Der Orient-Diskurs erschöpft sich nicht mit der Jerusalem-Episode, sondern wird mit Karls Aufenthalt in Konstantinopel fortgeführt. Im Gegensatz zur Alteritätskonstruktion der Chanson de RolandRoland ist es hier das exotisierende Moment, welches die Erfahrung Karls in Konstantinopel auszeichnet. Dieses besteht vor allem in den Beschreibungen von allerlei Wundersamem, das die Reisenden bei der Ankunft in Konstantinopel bewundern. Diese Beschreibungen stellen in der romanistischen Forschung eine wertvolle Quelle zur Analyse der zeitgenössischen Momentaufnahmen in den Ost-West-Beziehungen und deren Repräsentation in verschiedenen Gattungen dar. Im Voyage findet man Repräsentanten dieser Beziehungen in den Figuren des byzantinischen Kaisers HugoHugo von Konstantinopel von Konstantinopel, dessen höfisches Zeremoniell und höflicher, gastfreundschaftlicher Habitus im Kontrast zum Auftreten Karls und seiner Gefährten stehen, die das feudale, karolingische Herrschaftssystem verkörpern.

Der Konstruktion eines exotischen Orient-Diskurses dient zunächst die Beschreibung des Palastes des Kaisers HugoHugo von Konstantinopel, welche die Überlegenheit der byzantinischen Macht gegenüber dem karolingischen Feudalismus illustriertLe Voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople10 und gleichzeitig die Rolle Karls in dieser Episode im Einklang mit dem Kommentar seiner Frau bestimmt. Zunächst bietet der Voyage allgemeine Informationen bezüglich des Palastes: Er ist gewölbt und komplett überdacht, mit Können gebaut und sehr solide.11 Danach wird die Perspektive auf einzelne Bestandteile des Gebäudes verlagert, dabei ist vor allem der mit weißem Gold überzogene Mittelpfeiler12 zu erwähnen, umgeben von hundert Marmorsäulen mit purem Gold.13 In der Palastbeschreibung fällt also zunächst eine Tendenz zu einer Außen-Innen-Charakterisierung auf, wohingegen auf Beschreibungen der einzelnen Zimmer verzichtet wird, da die Paläste den Besuchern bereits als Ganzes in ihrer vollen Pracht präsentiert werden.14

Einen Teil der Palastbeschreibung, die im Gedicht Verse 330–418 umfasst, ist Automaten gewidmet, die sich oft als Topos in den Darstellungen orientalischer Kunstwerke wiederfinden, wie etwa auch im Orient-Diskurs der Alexanderromane.15 Hervorzuheben ist in dieser deskriptiven Passage die Existenz von zwei Automaten: die aus Kupfer und Metall hergestellten Kinderfiguren, jede mit einem Horn aus weißem Elfenbein. Bei jedem Windstoß dreht sich der Palast um seine eigene Achse und die Elfenbeinhörner erzeugen Laute, die nicht nur mit dem Donner, sondern auch mit den Lauten von Trommeln oder großen Glocken verglichen werden.16 Dabei schauen die Kinder einander lächelnd an, so dass man schwören könnte, sie wären lebendig.17

 

Die Kinderstatuen fügen sich in die Definition von Automaten ein, wenn sie als Nachbildungen von Lebewesen definiert werden, als Objekte, „die ihren Antriebsmechanismus ausdrücklich verdecken, so daß sie bevorzugt der Illusionsproduktion dienen“,18 und die durch technisch-mechanische oder magische Kunst etwas tun, „zu dem sie aufgrund ihrer Künstlichkeit eigentlich nicht in der Lage wären“.chansons de geste19 Meist handelt es sich bei Automaten um Nachbildungen von Vögeln oder Menschen, oft Kindern, wie auch in der Passage des Voyage de Charlemagne. Dabei ist die Inklusion der Automaten als Ausdruck vom Technisch-Wunderbaren eher untypisch für die Gattung der chansons de gestechansons de geste.chansons de geste20 Patricia Trannoy konstatiert, dass die Welt des technischen Wunderbaren als Ausdruck des Wissens und der Fähigkeiten, die vor allem dem Orient, d.h. „monde oriental, islamique ou byzantin“21 zugeschrieben wurden, den Übersetzern/ Kopisten der Texte in die Volkssprachen auch auf der lexikalischen Ebene Schwierigkeiten bereiteten.22 Diese lexikalische Ebene spielt bei der Analyse der Automatenbeschreibungen in den ostnordischen Texten zunächst keine Rolle. Wichtiger als die Lexik erscheint hier die narrative Funktion der deskriptiven Passage für den vorliegenden Text – erst nach deren Bestimmung kann man anhand der Texte Karl Magnus sowie Karl Magnus Krønike prüfen, ob ein Funktionswandel solcher Passagen durch den Transferprozess eintritt und welche Modifikationen im Zuge dessen vorgenommen werden.

Doch zunächst zu den narrativen Funktionen der deskriptiven Palastbeschreibungen und der Automaten: Die detaillierten Beschreibungen von Gebäuden, sei es ein Palast oder aber das Zeltlager eines Herrschers, evozieren ein Bild von Macht und Luxus. Die Besucher der Stadt, in diesem Fall Karl und seine Gefährten, beobachten staunend das Wunderwerk, das den Erfahrungshorizont ihrer europäisch-christlichen Welt überschreitet, in welcher der technische, mit dem Orient assoziierte Fortschritt unbekannt ist: „La pensée théologique occidentale ne peut concevoir l’idée que l’homme peut rendre animé l’inanimé, Dieu seul ayant le pouvoir de donner la vie“.23 Erst recht durch den Einsatz der Automaten kommt ein magisch-technisches Wissen hinzu, das der Besucher, Karl der Große, nicht einordnen kann. In dem Moment, wo sich der Palast durch die Windeinwirkung dreht, wird das evozierte Bild von Macht und Prestige in der Rezeption durch die Figur selbst reflektiert – häufig durch direkte Rede ohne Eingreifen des Erzählers.24 So staunt Karl und denkt an die Worte seiner Ehefrau, die ihn zu dieser Reise herausgefordert hat:

Karles vit le paleis e la richesce grant;

La sue manantise ne priset mie un guant.

De sa mullier li memberet que manacé out tant (PdC, S. 22, 362–364).25

Diese Passage illustriert bereits die in der Eingangsszene angelegte Rivalität zwischen den beiden Herrschaftsformen, der christlich-feudalen und der höfisch-byzantinischen Welt. Wurde Karl der Große von seiner Frau anfangs aufgrund seiner Tapferkeit und seiner Führungskraft als der bessere Herrscher gepriesen, so ist es die Pracht und der Wohlstand des Kaisers HugoHugo von Konstantinopel, derer er gewahr wird, so dass er an seine eigenen Besitztümer erst gar nicht denkt (ebd., 363). Die Funktion der Palastbeschreibung besteht also zunächst in der Demonstration der Macht des byzantinischen Kaisers, die ein respektvolles, ängstliches Staunen seitens Karls des Großen hervorruft. Diese Szene dient nicht nur textimmanent, auf der histoire-Ebene, zur Konstruktion eines Orient-Bildes, dessen exotisierende Ästhetik zentral ist. Der Orient ist prächtig, luxuriös und voller Wunder; irrational und gefährlich zugleich entzieht er sich dem Verständnis des als rational kodierten Okzidents. Diese beiden Funktionen, eine textimmanente und eine zweite auf der discours-Ebene, erschöpfen sich nicht mit der Palastbeschreibung,chansons de geste26 sondern werden auf der narrativen Ebene fortgesetzt.

Neben dem Rivalenmotiv ergänzt der Männervergleich, auch als gabs oder „Reckenspäße“27 bekannt, die Motivreihe der Karlsreise. Dieses Motiv, weit verbreitet in der altnordischen Literatur,28 ist hier insofern von Bedeutung, als es konträr zur höfischen Gastfreundschaft des Kaisers HugoHugo von Konstantinopel entwickelt wird. Die Franken, untergebracht in den prächtigen Zimmern mit kostbaren Betten samt Decken, Kissen und Bettpfosten, vertreiben nach einem üppigen Abendmahl mit reichlich Wein ihre Zeit damit, voreinander zu prahlen und gabs austauschen. Dabei zielen fünf gabs darauf, den Kaiser Hugo zu erniedrigen, die Stadt Konstantinopel zu zerstören und die Bewohner in Angst und Schrecken zu versetzen, während eine Wette, nämlich die von Oliver, sexuell konnotiert auf die Vergewaltigung von Hugos Tochter abzielt. Wie Devereaux schreibt: „As parodies of the epic tradition of military boasts before a battle, the jests constitute a transgression of the trust placed in the Franks as guests“.29 Als Hugo, der heimlich einen Spion in eine hohle Säule in Karls Gemach platziert, von den respektlosen und obszönen Wetten erfährt, fällt er, wie auch schon sein Spion zuvor, das moralische Urteil: „folie“ (PdC, S. 38, 629) und besteht darauf, dass die Franken ihre gabs realisieren. Mit dieser Tat wird eine Parallele zu der Eröffnungsszene gezogen: War es zu Beginn Karl der Große, der die Worte seiner Frau bestätigt sehen wollte, so ist es hier der mächtige Kaiser Hugo, der sich herausgefordert fühlt und prüfen will, ob das Gesagte der Wahrheit entspricht. Wichtig für die Orient-Konstruktion der Episode ist die Tatsache, dass Karl der Große als Sieger davonkommt, trotz der expliziten moralischen Verurteilung seiner Taten sowohl durch die Kommentare des Spions als auch Hugos und in letzter Instanz der Engel, die Karl mithilfe seiner Reliquien aus Jerusalem um Hilfe bittet. Durch intensive Gebete können er und seine Gefährten die versprochenen Prahlereien in die Tat umsetzen, so dass Hugo vor dieser großen, ihm unbekannten Macht zurückschreckt, um Verzeihung bittet und sich Karl letztendlich unterwirft. Karls Macht und Autorität sind göttlicher Herkunft und nur mit göttlicher Hilfe kommt er erhobenen Hauptes aus dem Machtkampf mit Hugo, dessen Macht zwar auf Reichtum und Wohlstand sowie beeindruckenden Gebäuden beruht, die ihm aber keinen Zutritt in die Sphären der spirituell-religiösen Überlegenheit ermöglicht.

Anhand dieser einführenden Analysen der Alteritätsdiskurse innerhalb der französischen Heldenepik wird bereits deutlich, dass die Konstruktion von religiöser (in der Chanson de RolandRoland) oder sozialer (im Voyage de Charlemagne) Differenz die Formung und Vergewisserung der eigenen, d.h. lateinisch-christlichen, fränkischen Identität und Selbstwahrnehmung konstituiert. Obwohl diese Texte nach den Transmissions- und Übersetzungsprozessen ihre Funktion als Medien der Konstruktion einer kollektiven Identität verlieren, dienen sie als Folie für eine gewinnbringende Analyse jener Alteritätsdiskurse in den übertragenen ostnordischen Karlstexten, die sowohl intertextuell innerhalb der Codices als auch extratextuell im Kontext der soziokulturellen Hintergründe in Schweden und Dänemark des 15. Jahrhunderts re-interpretiert werden können.